9

Ich stehe vor meinem früheren Zuhause. Ein Reihenhaus aus rotem Backstein mit Kiesauffahrt und großem Garten in einer von Bäumen gesäumten Straße in der Nähe des Parks Clapham Common.

Zuhause. Zumindest war es das einmal.

Jetzt ist es dunkel und verlassen, die Einfahrt und die Haustür sind immer noch mit gelbem Absperrband abgeriegelt, und im kalten Licht der nahen Straßenlaterne wirkt es eher wie ein Grab. Als ich es aus dem Schatten der Bäume heraus betrachte, starren mich die Fenster mit dem hohlen Blick eines Totenkopfes an. Über dem ganzen Haus liegt eine schwermütige Stimmung.

Plötzlich zögere ich, einzutreten. Ich habe Angst vor dem, was ich drinnen vorfinden könnte. Oder vor dem, was ich nicht finden könnte. Bei meinem letzten Aufenthalt hier wurde ich mit dem Anblick der verstümmelten Leichen meiner Mutter und meines Vaters konfrontiert. Mir stehen die Tränen in den Augen und ich spüre den vertrauten, aber unwillkommenen Klammergriff des Kummers. Das war, bevor mich das überraschende Auftauchen von Detective Inspector Shaw zur Flucht zwang. Schon beim bloßen Gedanken an diese hinterhältige, schwarzäugige Seelenjägerin läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Einen beunruhigenden Moment lang frage ich mich, ob sie mir eine Falle gestellt hat.

»Jetzt, nachdem wir den weiten Weg gemacht haben, gehen wir nicht rein?«, fragt Jude und trommelt dabei ungeduldig mit dem Fuß. Ihr Blick schweift über die Straße, um nach Wächtern oder Jägern Ausschau zu halten. Wie Goggins war auch sie dagegen, nach London zu kommen, aber da sie jetzt meine mir zugewiesene Kriegerin ist, blieb ihr kaum eine Wahl.

»Mir gefällt das nicht«, murmelt Tarek, der mit mir im Schutz der Bäume zurückbleibt. »Die Straße scheint ungewöhnlich ruhig.« Er fuchtelt mit einer taktischen Taschenlampe herum, die er aus dem Jet mitgenommen hat und deren metallener »Schlagring« in der Dunkelheit glänzt. »Können wir nicht über den hinteren Garten einsteigen, damit uns niemand sieht?«

Ich schüttele den Kopf. »Dazu müssten wir mehrere andere Gärten durchqueren. Außerdem ist der Ersatzschlüssel an der Vorderseite versteckt.«

Das Motorengeräusch eines herannahenden Fahrzeugs ertönt und wir ziehen uns weiter hinter den Baum zurück. Als das Auto vorbeifährt, streifen seine Lichter kurz unser Haus wie der Suchscheinwerfer einer Gefängnisanlage.

»Hört zu«, sagt Jude, sobald das Auto weg ist. »Bei Problemen sofort zum Jeep. Und von da zum Jet.« Sie nickt in Richtung des E-Jeeps, den sie weiter unten auf der Straße geparkt hat.

Nach der Landung auf einem Privatflugplatz außerhalb Londons hatten wir das Elektrofahrzeug aus dem hinteren Frachtraum des Jets geholt, ebenso wie die Taschenlampen, einen Laptop und andere wichtige Hilfsmittel für unsere Mission. Ich denke kurz an Nefe, die immer noch an Bord eingesperrt ist. Als sie anfing, klagend zu miauen, gab ich ihr etwas Thunfisch aus der Dose, um sie bis zu unserer Rückkehr zu vertrösten. Aber außer meiner Katze ist jetzt niemand mehr im Flugzeug. Zara, Thabisa und Kagiso sind in Simbabwe, wo sie in der Nähe der Victoriafälle abgesetzt wurden, während Goggins und Viviana auf einem Provinzflughafen außerhalb Roms ausgestiegen sind. Goggins’ letzte Worte an mich waren: »Der Spatz sollte nie dort landen, wo der Tiger umherstreift. Sei vorsichtig, Genna!«

Ich prüfe, ob die Straße frei ist. Ich habe das Gefühl, dass wir gleich in das Revier eines Tigers eindringen werden, ziehe die Riemen meines Rucksacks fest und nehme meinen Mut zusammen. Unsere Aufgabe ist einfach: Wir gehen rein, schnappen uns das Pergament und verschwinden. Und doch zögere ich.

Keiner weiß, dass wir hier sind , versichere ich mir. Tarek hat sich in das Computersystem des Flughafens gehackt und die Aufzeichnungen über unseren Flug geändert, um unsere Ankunft zu vertuschen. Der Jet, erklärte er, hat einen Tarnmodus, damit uns niemand auf dem Radar aufspüren kann. Außerdem ist es fast zwei Wochen her, dass ich von hier geflohen bin. Tanas und ihre Jäger mögen zwar nach mir suchen, aber nach so langer Zeit wird sich die örtliche Polizei sicher anderen, dringenderen Dingen zuwenden.

Nachdem ich mir selbst gut zugeredet habe, dass das Haus sicher leer ist und niemand zuschaut, gehe ich voran über die Straße. Wir ducken uns unter dem Absperrband hindurch und überqueren die Einfahrt, wobei unsere Schritte leise auf dem Kies knirschen. Neben einem steinigen Blumenbeet bücke ich mich und taste in der Dunkelheit herum, bis ich den falschen Stein mit dem Ersatzschlüssel für die Haustür darin finde. Es versetzt mir einen Stich ins Herz, als ich mich daran erinnere, wie dieses Steinimitat hier ursprünglich platziert wurde. »Für den Notfall«, hatte Papa gesagt. Ich hätte nie gedacht, dass ich damit einmal in mein eigenes Haus einbrechen würde.

Ich schiebe das Polizei-Absperrband beiseite und stecke den Schlüssel in das Schloss. Mit einem leisen Klicken schwingt die Tür auf und wir treten ein.

Es herrscht Grabesstille. Die Luft ist muffig, es riecht nach Chlorbleiche und Verwesung. Im Licht der Straßenlaterne erkenne ich einen Stapel ungeöffneter Post auf der Fensterbank und eine Vase mit vertrockneten Blumen, deren Blütenblätter über den Teppich verstreut sind. Am Ende des dunklen Flurs liegt die Küche im tiefen Schatten. Obwohl der Fliesenboden sauber geschrubbt wurde, ist noch ein dunkler Fleck zu sehen.

»Ist das der Ort, an dem …«, beginnt Tarek flüsternd.

Ich nicke und verkneife mir mühsam ein Aufschluchzen, das aus meiner Kehle zu dringen droht. Die Leichen meiner Eltern liegen zwar nicht mehr auf den Fliesen, aber das Bild steht mir noch lebhaft vor Augen. Meine Mutter halb versteckt hinter der Küchentür, die Hand meines Vaters nach ihr ausgestreckt, beide in einer Lache ihres eigenen Blutes …

Ich erschaudere bei der grausigen Erinnerung.

Als Jude die Haustür hinter uns geschlossen hat, dreht sie sich um und bemerkt meinen Zustand. »Alles in Ordnung?«, fragt sie.

Ich nicke und zwinge mich, den Flur hinunterzugehen, vorbei an dem Familienporträt mit den lächelnden Gesichtern meiner Eltern, die gespenstisch in der Dunkelheit leuchten. Traurigkeit senkt sich wie eine düstere Wolke über mich herab, und ein seltsamer, aber mich tief berührender Gedanke drängt sich mir auf: Ich war nicht einmal auf ihrer Beerdigung.

Eine heiße Träne rinnt mir über die Wange. Dann erinnere ich mich an das, was Phoenix mir versicherte: Meine Eltern seien zwar tot, würden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wiedergeboren, also würde ich sie womöglich in einem zukünftigen Leben wiedertreffen. Ich wische mir die Träne weg und klammere mich an diesen tröstlichen Gedanken, während ich mich umdrehe und die Treppe hinaufgehe.

Jude und Tarek folgen dicht hinter mir. Ich überquere den Treppenabsatz und betrete mein Zimmer. Das Fenster, aus dem ich einst gesprungen bin, um DI Shaw zu entkommen, ist geschlossen, aber die Vorhänge sind halb geöffnet und lassen einen Streifen fahlen Mondlichts herein. Als ich mich umsehe, bin ich erstaunt, wie normal alles wirkt. Seit dem Tag meiner Flucht hat sich nichts verändert: Meine Kleidung ist immer noch überall verstreut; meine Geografie-Hausaufgaben liegen offen und unvollendet auf meinem Schreibtisch; mein Koffer ist teilweise gepackt für den Urlaub, zu dem es nie kam. Neugierig betrachte ich meine Poster mit den fünf Bandmitgliedern der Rushes … die Pinnwand mit den Postkarten aus früheren Familienurlauben, mein Bücherregal mit den historischen Romanen, deren Titel nun wie Wegweiser in meine Vergangenheit wirken. Auf dem obersten Regal glänzt mein goldener Turnpokal, daneben ein gerahmtes Foto von mir und meinen Eltern am Tag meines Sieges. In dem Bewusstsein, dass ich vielleicht zum letzten Mal hier in meinem Elternhaus bin, nehme ich das Foto ab. Da bin ich, in meinem lila Trikot, die Haare zurückgebunden. Mein Lächeln ist so breit, dass es die Trophäe zu überstrahlen scheint. Dennoch fühle ich mich seltsam losgelöst von der Erinnerung – und von all den anderen Gegenständen in diesem Raum. Mein früheres Leben hier scheint mir ein längst vergangenes zu sein.

»Okay, das sollte kein Trip in die Vergangenheit sein!«, murmelt Jude und drängt sich an mir vorbei. »Wir hängen hier schon viel zu lange rum. Schnappen wir uns dieses Pergament und verschwinden.«

Ich werfe ihr einen irritierten Blick zu, während ich das Foto aus dem Rahmen nehme und in meine Gesäßtasche stecke. »Du kannst mich nicht herumkommandieren, Jude. Du bist nicht mein Guardian.«

»Jetzt, da Phoenix weg ist, schon«, antwortet sie und schiebt den Vorhang ein Stück beiseite, um einen Blick in den Garten zu werfen.

Ihre Worte schmerzen. »Ich wünschte, du wärst es nicht«, murmele ich, bevor mir richtig klar wird, was ich da sage.

Jude dreht sich langsam zu mir um. »Entschuldigung, wie war das?«

Ich spüre ihren hitzigen, verärgerten Blick in der Dunkelheit. Tarek steht regungslos an der Tür und registriert den plötzlichen Stimmungsumschwung. »Ich habe es nicht so gemeint«, rudere ich zurück. Um schnell weiterzukommen, wende ich mich meiner Kommode zu, lege meinen Rucksack ab und suche mir Unterwäsche und frische Kleidung zusammen.

Aber Jude lässt die Bemerkung nicht auf sich beruhen. »Was genau hast du dann gemeint?«, fragt sie.

»Nichts«, murmele ich. Ich gehe zu der Pinnwand über meinem Bett, um das Pergament zu holen. Es ist nur meiner Mutter zu verdanken, dass es noch da ist. Sie hatte es vor dem Waschen aus meiner Jeanstasche gerettet und in dem Glauben, es sei ein alter Notizzettel und Teil meiner Geschichtshausaufgaben, auf meinen Schreibtisch gelegt. Ich hatte es dann als Andenken an meine Zeit mit Phoenix an die Korktafel geheftet und es bis zu meinem Schimmer als Bruder Wilfrid völlig vergessen. Ich streife mit den Fingern über die Schichten von Postkarten, Fotos und Zeitungsausschnitten. Als ich auf die Einladung zur Archäologie-Ausstellung von Meis Eltern stoße, halte ich einen Moment inne, nehme das Datum und den Ort wahr und betrachte das Foto mit den verschiedenen seltenen Artefakten. Hier hat der Albtraum für mich begonnen, hier habe ich zum ersten Mal das guatemaltekische Opfermesser aus Jade gesehen – und hier bin ich zum ersten Mal dem Seelenjäger Damien begegnet. Die Erinnerung daran lässt mich erschaudern und ich mache mich schnell auf die Suche nach dem Pergament.

»Glaubt bloß nicht, der Verlust von Phoenix würde mir nicht nahegehen«, sagt Jude gereizt. »Er war mein Erster Bruder. Es geht mir verdammt nahe.«

Unfähig, mich zu beherrschen, antworte ich schneidend: »Dann wirst du verstehen, wie es mir mit dem Verlust meines Seelenzwillings geht.«

Die Raumtemperatur scheint noch einmal ein oder zwei Grad zu sinken.

Da, jetzt ist es raus . Die Sache mit dem Tod meines Seelenzwillings. Die unausgesprochene Tragödie, die wie ein vergifteter Stachel in meinem Herzen sitzt und sich immer tiefer eingräbt, seit ich erfahren habe, dass Jude ihr Guardian gewesen ist.

Jude schnappt nach Luft. »Du weißt davon?«, flüstert sie, und ihre Stimme verliert alle Kraft.

Ich blicke sie über meine Schulter an. »Phoenix hat es mir gesagt. Also verzeih mir, wenn ich kein volles Vertrauen in deine Fähigkeiten als meine Leibwächterin habe.«