Die Totenmaske ist eine exakte Kopie meines Gesichts als Prinzessin Tiaa. Mandelförmige, hellbraune Augen, eine kecke Nase und ein rundes Kinn, das schwarze Haar zu einem langen, geraden Bob geschnitten. Mir kommt es so vor, als würde ich mich in einem goldenen Spiegel betrachten, dessen Spiegelbild mich und zugleich eine ganz andere Person zeigt.
»Gruselig«, flüstert Mei, als wir alle die Mumie meines früheren Ichs anstarren. Sie blickt von mir zu der Maske und wieder zurück. »Das muss sich doch merkwürdig anfühlen, oder?«
Ich nicke. »Es ist sehr bizarr. Aber noch verwirrender ist, warum ich hier begraben bin, und nicht mein Vater.« Ich wende mich an Jude. »Du warst damals mein persönlicher Wächter. Kannst du dich an irgendetwas aus der Zeit erinnern, als du Raneb warst?«
Jude schließt die Augen und zuckt leicht zusammen, weil sie offenbar einen Schimmer erfährt. »Soweit ich mich erinnern kann, wurde ich verletzt, als Apeps Anhänger den Palast des Pharaos angriffen; ich starb an meinen Wunden.« Sie blickt mich an. »Eure Dienerin Sitre hätte vielleicht mehr gewusst.«
Ich lächle grimmig. Sitre war in jenem Leben die Verkörperung von Phoenix, und alles, was er über diese Zeit wusste, ist mit ihm gestorben, für immer.
»Gilt dieser Ort denn dann noch als das verborgene Grab des Hepuhotep, wenn sein Leichnam nicht hier liegt?«, fragt Tarek.
»Es muss so sein.« Ein Anflug von Verzweiflung lässt mein Herz schneller schlagen. »Es ist das einzige Grab, von dem ich weiß.«
»Dann sollten wir uns auf die Suche machen«, sagt Jude und beginnt, den Sarkophag genauer unter die Lupe zu nehmen. »Denkt daran: Apep wurde im alten Ägypten als riesige Schlange dargestellt, also meldet euch, wenn ihr irgendwas mit einer Schlange drauf findet.«
Ich ziehe das Leichentuch zurück, das meine früheren Überreste bedeckt, und entdecke zu Füßen meines einbalsamierten Körpers eine mumifizierte Katze. »Nofretete!«, stoße ich hervor. Ich bin gerührt von ihrer Treue, selbst im Tod, obwohl die Vorstellung seltsam ist, dass ihr Geist wiedergeboren wurde, sie jetzt im Jet schläft und auf meine Rückkehr wartet.
Abgesehen von der Mumie meiner vor Jahrtausenden gestorbenen Katze und der goldenen Totenmaske gibt der Sarkophag jedoch wenig her. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Haufen von Schätzen. Es sind solche Unmengen, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.
Tarek stöbert in den Reihen der Steinkrüge. Mit einem Messer schneidet er das Wachssiegel eines der Gefäße auf und zieht den Stopfen heraus. Er schnuppert am Inhalt. »Wein!«, sagt er. »Und er riecht immer noch gut, selbst nach all der Zeit.«
Mei bewundert sich in dem runden Handspiegel, dessen Griff die Sonnengöttin Hathor, Tochter des Ra, darstellt. Ich bemerke, dass meine Freundin jetzt eine silberne Halskette mit kostbaren Edelsteinen trägt, die im Licht der Taschenlampe glitzern.
»Das ist kein Einkaufsbummel, Mei«, sage ich und ermahne sie.
»Schon klar«, antwortet sie und neigt den Spiegel, um sich besser betrachten zu können. »Aber du musst zugeben, sie steht mir.«
»Könntest du dich vielleicht auf die anstehende Aufgabe konzentrieren?«, zischt Jude zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Klar«, sagt Mei und wirft einen letzten bewundernden Blick in den Spiegel. Dann blinzelt sie und betrachtet das Spiegelbild genauer, bevor sie über ihre Schulter blickt. »Wir suchen nach einer Art Gefäß, richtig?«
»Ja, ein Seelengefäß«, antworte ich, während ich die vielen glänzenden Becher und Kelche auf dem Tisch durchstöbere.
»Was ist dann mit denen?« Mei deutet auf eine Reihe weißer Kalksteinkrüge am Boden des Sarkophags. »Das sind Kanopen-Gefäße.«
Jude hält in ihrer Untersuchung der Shabti-Figuren inne. »Woher weißt du, was das ist?«
»Meine Eltern haben ein Set in ihrer Sammlung«, antwortet Mei, während sie die Halskette abnimmt und sie zu den anderen Schmuckstücken zurücklegt. »Sie werden bei Begräbnisritualen verwendet, um Leber, Lunge, Magen und Eingeweide des Verstorbenen für das Leben nach dem Tod zu konservieren.«
Ich werfe meiner Freundin einen halb amüsierten, halb bewundernden Blick zu. »Du entwickelst dich ja zu einer richtigen Archäologin.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich schätze, ich bin meiner Mutter ähnlicher, als ich dachte.« Dann runzelt sie die Stirn und wirkt einen Moment lang nachdenklich. »Das ist seltsam. Es sind fünf Gefäße. Der Tradition zufolge, oder zumindest meinen Eltern zufolge, waren es immer vier Kanopen.«
»Du hast recht, Mei!«, rufe ich aus, da auch ich mich aus meiner Zeit als Prinzessin Tiaa an diese Tatsache erinnere. »Es gab kein Gefäß für das Herz, weil die Ägypter glaubten, es sei der Sitz der Seele, also wurde es im Körper gelassen.« Ich eile zu dem Sarkophag und untersuche nacheinander alle Krüge. Auf der Vorderseite sind Hieroglyphen eingraviert, in denen die vier Söhne des Gottes Horus gebeten werden, meine Organe zu schützen. Die Deckel sind in verschiedenen Formen geschnitzt: der Kopf eines Menschen, eines Pavians, eines Schakals und eines Falken. Das fünfte Gefäß trägt als Deckel den Kopf einer Schlange und eine Inschrift: »Nur sein eigener Tod kann ihn besiegen «, lese ich laut vor.
»Das muss es sein«, sage ich fast ehrfürchtig, als ich den anderen den Krug mit dem Schlangenkopf entgegenhalte. »Unser erster Anhaltspunkt. Es bedeutet, das Pergament ist echt!«
»Gut, dann lass es uns öffnen«, drängt Jude.
Vorsichtig hebe ich den versiegelten Deckel ab und lasse das Gefäß vor Schreck fast fallen. Darin befindet sich eine mumifizierte Hand, deren Haut faltig und schwarz wie Teer ist. Die knochigen Finger ragen wie Krallen heraus und die Nägel sind spitz und scharf.
»Ekelhaft!«, sagt Mei und zieht eine Grimasse, als sie über meine Schulter auf die knorrige Hand blickt.
Jude wirkt völlig unbeeindruckt. »Was für ein Hinweis soll das sein?«
Ich lese noch einmal die Inschrift auf dem Gefäß. »Nur sein eigener Tod kann ihn besiegen«, wiederhole ich und greife hinein, um die Hand herauszuziehen …
» LASST SIE LOS !«, brüllt Sitre, als der mächtige Apep mich a m Arm wegzerrt. Ich taumle im eisernen Griff des Inkarnaten-Anführers und meine Sandalen rutschen über den glatten Kalksteinboden.
Im Palast herrscht heillose Verwirrung. Apeps Gefolgsleute stürmen durch die Hallen und Gänge und metzeln jeden nieder, der ihnen begegnet – bewaffnete Wachen ebenso wie Frauen und Sklaven. Sitre versucht, zwei Inkarnaten auf einmal abzuwehren, aber sie wird zurückgedrängt.
Die Angst schürt meinen Kampfeswillen, und ich schlage mit meiner freien Faust auf Apeps Flanken ein, aber angesichts der ausbleibenden Wirkung hätte ich genauso gut eine Trommel schlagen können. Apep schreitet unbeirrt weiter, die Spitze seines goldenen Dreizacks klirrt auf den steinernen Stufen, während er mich erbarmungslos zu einem brennenden Scheiterhaufen im zentralen Innenhof des Palastes zerrt.
» NEIN ! NEIN ! NEIN !«, schreie ich entsetzt. Inmitten der Flammen kann ich zwei feuergeschwärzte Körper erkennen, die sich plötzlich vor meinen Augen entzünden.
Apep ignoriert mein Flehen und will mich gerade auf den Scheiterhaufen stoßen, als mein Leibwächter Raneb hinter einer Säule hervorspringt. Er hebt sein bronzenes Khopesh hoch über den Kopf und hackt damit Apeps Hand von seinem Arm ab. Der Anführer der Inkarnaten heult vor Schmerzen auf. Doch bevor Raneb ihm den Garaus machen kann, rammt Apep seinen Dreizack in Ranebs Magen. Mein Wächter gibt keinen Laut von sich, aber der Schmerz leuchtet in seinen sternklaren blauen Augen. Mit einer übermenschlichen Kraftanstrengung schafft er es irgendwie, einen zweiten Schlag mit seinem Khopesh auszuführen. Die sichelförmige Klinge trennt dem Anführer der Inkarnaten den Kopf ab, sein Körper fällt rückwärts auf den Scheiterhaufen, wo er von den züngelnden Flammen erfasst wird und lichterloh brennt. Doch trotz seiner Niederlage umklammert Apeps abgetrennte Hand immer noch mein Handgelenk, seine knochigen Finger schließen sich immer fester.
Entsetzt und angewidert lasse ich die einbalsamierte Hand zurück in das Gefäß fallen.
»Das ist Apeps Hand!« Ich starre Jude an. »Du hast sie während des Angriffs auf den Palast abgeschlagen.«
Jude betrachtet das abgetrennte Körperteil mit grimmigem Interesse. »Hm, sein eigener Tod … Heißt das, wir sollen Tanas’ eigene Hand aus einem früheren Leben gegen sie verwenden?«
Ich ziehe eine Grimasse bei dem Gedanken, aber vermutlich ist ihre Ahnung richtig. »Ich schätze schon«, antworte ich, wobei ich mich besorgt frage, was genau das bedeuten könnte. Nachdem ich den Deckel wieder aufgesetzt habe, reiche ich das Gefäß vorsichtig an Tarek weiter, damit er es in seinem Rucksack verstaut. »Je mehr Hinweise wir sammeln, desto mehr Sinn sollte das Ganze ergeben – hoffentlich. Kommt, lasst uns gehen«, sage ich, beflügelt von unserem Fund.
»Was ist mit all dem Gold? Und all den Schätzen?«, fragt Mei und streicht mit den Fingern über die unbezahlbaren Artefakte. »Dein Grab ist eine Jahrhundertentdeckung! Meine Eltern werden total ausflippen, wenn ich ihnen davon erzähle. Ich werde dann einen fetten Bonus bei ihnen haben, auf ewig.«
»Mei, wir haben wichtigere Dinge zu tun«, erwidere ich. »Wenn wir die Welt gerettet haben, kommen wir hierher zurück und zeigen es deinen Eltern, versprochen.«
»Aber was, wenn jemand anderes das Grab vorher entdeckt? All diese Schätze stiehlt? Ich meine, das allein muss ein Vermögen wert sein …« Als sie nach der massiven Goldkrone auf dem Sockel greift, bekomme ich plötzlich ein sehr ungutes Gefühl.
»Mei, NEIN !«, rufe ich, aber es ist zu spät. Sie lüpft die Krone.
Eine Sekunde später hebt sich der Sockel, auf dem sie ruhte, um mehrere Zentimeter, und ein schweres Poltern hallt durch den Raum.
»Was war das?«, fragt Tarek und schaut sich ängstlich um.
Auf das Poltern folgt ein unheilvolles Knirschen von Stein auf Stein. Wir drehen uns um und sehen, wie sich der Boden des ersten Sarkophags wieder zur Decke erhebt und den geheimen Eingang versperrt.
Jude rennt auf die Öffnung zu, doch diese verschließt sich, bevor sie dort ankommt.
»Du Idiotin!«, schreit sie und wirft ihre Arme in die Luft. »Jetzt sitzen wir in der Falle!«
»Tut mir leid«, sagt Mei kleinlaut und stellt die Krone verlegen an ihren Platz zurück. Unter ihrem Gewicht senkt sich der Sockel langsam wieder auf sein ursprüngliches Niveau. Zum Entsetzen aller bleibt die Platte in der Decke jedoch verschlossen. Stattdessen sinkt der Sockel, was noch beunruhigender ist, weiter bis zum Boden.
In der Gruft herrscht eine erdrückende Stille, während wir nervös darauf warten, was als Nächstes passiert.
Ich neige meinen Kopf zur Seite. Ist das ein Rieseln von Wasser? Es ist sehr leise, und ich frage mich, ob mir meine Ohren einen Streich spielen. »Kann noch jemand das Geräusch von fließendem Wasser hören?«
Alle nicken, als das Rieseln zu einem sanften Rauschen anschwillt und dann, wie heranrollende Brandung, zu einem bedrohlichen Tosen wird.
»Das ist kein Wasser!«, schreit Tarek und zeigt auf die Löcher, die sich oben in den Wänden der Kammer auftun. »Das ist Sand!«