Wir klettern zurück ans Tageslicht und blinzeln wie die Maulwürfe. Die Pyramide liegt jetzt mehrere Hundert Meter entfernt jenseits eines kargen Wüstenstrichs. Ein rauer Wind wirbelt den Staub auf.
»Shukran «, sage ich und bedanke mich bei dem Jungen. Meine Vermutung über ihn war richtig – er muss ein Seelenbruder sein. Wie Phoenix mir einmal erklärt hatte: Manchmal tauchen sie genau am richtigen Ort genau zur richtigen Zeit auf.
»Afwan «, antwortet der Junge, während er das Seil aufwickelt. Trotz seiner freundlichen Art beäugt er uns vorsichtig, denn offensichtlich ist ihm immer noch ein Rätsel, wie wir in dem Brunnen gelandet sind.
»Ich habe dir doch gesagt, es gibt einen Geheimgang«, sagt Mei, während sie sich den Staub abklopft.
»Du hättest uns fast umgebracht«, knurrt Jude, nimmt ihre Baseballkappe ab und schüttelt sich den Sand aus dem Haar.
Mei wirft Jude einen verlegenen Blick zu. »Tut mir leid«, sagt sie. Doch gleich darauf mustert sie Jude fragend und senkt die Stimme, sodass der Junge sie nicht hört. »Mal ernsthaft, wäre das wirklich so schlimm für dich? Ich meine, klar, keiner stirbt gern, aber du wirst doch wiedergeboren, oder?«
»Ja, aber darum geht’s nicht«, schnauzt Jude wütend zurück. »Alles wird quasi auf null zurückgesetzt. Da Phoenix weg ist, müsste ich Genna in ihrer neuen Verkörperung wiederfinden , bevor es ein Seelenjäger tut. Und dafür gibt es keine Garantie, da ich nicht ihr ursprünglicher Guardian bin. Außerdem sind wir auf einer Mission, um diese Hinweise zu finden und Tanas ein für alle Mal zu beseitigen. Wenn wir in diesem Leben sterben, verlieren wir diese Chance. Möglicherweise für immer. Denn wenn wir zurückkommen, ist es gut möglich, dass wir uns nicht mehr an unsere Aufgabe erinnern oder vielleicht sogar das Pergament nicht mehr finden.«
Mei hebt ihre Hände. »Okay, ich habe verstanden …«
»Wirklich?« Jude stößt einen Finger in ihre Richtung. »Denn während ich vermutlich wiedergeboren werde, gibt es für dich keine Garantie.«
Mei wird blass und schluckt schwer. »Nächstes Mal werde ich viel vorsichtiger sein, das schwöre ich.«
»Nächstes Mal bleibst du im Flugzeug …«
»Jude, wir alle machen mal Fehler«, mische ich mich ein, weil ich befürchte, der Junge könnte etwas mitbekommen. »Immerhin hat Mei das Seelengefäß gefunden. Ohne sie wären wir vielleicht mit leeren Händen herausgekommen.«
»Lieber mit leeren Händen als tot.« Jude setzt sich die Kappe wieder fest auf den Kopf. »Ich habe doch gesagt, es ist keine gute Idee, zu …«
»Bitte«, unterbricht sie der Junge. »Der Sandsturm kommt. Sie müssen Schutz suchen.« Er deutet in Richtung der Pyramide.
Wir fahren herum, und am Horizont ist die anfängliche Wolke zu einem monströsen, schnell heranziehenden Gebirge von bedrohlicher Dunkelheit angewachsen. Es erhebt sich über der Pyramide wie eine Tsunamiwelle und droht sogar die Sonne zu verdunkeln.
Meis Augen weiten sich vor Entsetzen. »Was zum Teufel ist das?«
»Ein Simoom«, antwortet der Junge, als eine Böe über uns hinwegfegt. »Ein giftiger Wind!«
Bei dem Anblick gefriert mir das Blut in den Adern. Ich erkenne die Bedrohung aus meiner tiefen Vergangenheit. Ein Simoom ist die tödlichste Variante eines Sandsturms.
»Tut mir leid – ich muss gehen.« Der Junge eilt in Richtung einer kleinen, baufälligen Siedlung davon. Dann bleibt er stehen und ruft zurück: »Oh, es sind noch mehr Touristen gekommen. Sie …« Aber der Rest seiner Worte wird vom Wind weggepeitscht.
»Was hat er gesagt?«, fragt Tarek.
»Ich kann es nicht verstehen«, antworte ich. »Irgendetwas über mehr Touristen.«
Der Wind pfeift und pfeffert Sandkörner wie Hagel um unsere Ohren.
»Zurück zum Jeep, sofort!«, befiehlt Jude. »LAUFT !«
Wir sprinten durch die offene Wüste, um dem Sturm zu entkommen. Der Tsunami aus Sand rollt auf uns zu. Der Wind bläst uns noch stärker ins Gesicht und wirbelt den Staub in kleinen Tornados auf. Ich krame nach meiner Sonnenbrille, um meine Augen zu schützen. Mein Herz pocht rasend, und meine Lungen beginnen zu brennen, als ich die heiße, trockene, sandige Luft einatme.
»Beeilung!«, schreit Jude, als wir die Pyramide umrunden und der E-Jeep in Sichtweite kommt.
Im Windschatten des verwitterten Grabmals lässt der Wind ein wenig nach. Der Sturm ist noch nicht mit voller Gewalt losgebrochen, und wir haben gute Chancen, es zu schaffen, da taucht aus dem Eingang der Pyramide eine Kapuzengestalt auf. Sie spricht mit jemandem, der Wind trägt ihre Worte zu uns herüber. »Der Junge muss uns angelogen haben. Da unten ist niemand. Dem drehe ich seinen mageren Hals um, wenn ich ihn erwische!«
Die Gestalt bleibt wie angewurzelt stehen, ebenso wie wir. Auf Anhieb erkenne ich die vermummte Gestalt mit der schwarzen Piloten-Sonnenbrille wieder. Schlank, muskulös und mit einem blassen Gesicht, das so markant ist wie die Wächterstatue in der Pyramide, ist er der letzte Mensch, den ich in Ägypten erwartet hätte. Wir starren uns einen Moment lang schweigend an, während der Wind durch die Wüste heult. Dann grinst Damien breit. »Da seid ihr ja!«
Dann kommt auch der Rest seiner Bande aus der Pyramide.
Mit einem Mal erfüllt ein gewaltiges Getöse die Luft und der Sturm erfasst uns. Wie eine rote, wütende Wolke überrollt der Simoom die Pyramide. Ich werde fast von den Füßen gefegt. Hustend und nach Atem ringend wickle ich mein Kopftuch um den Mund und drehe mich um, um den anderen zum Jeep zu folgen. Aber sie sind weg, verschwunden in dem aufgewirbelten Staub.
Orientierungslos kämpfe ich mich in die Richtung, in der ich den Jeep vermute. Ich höre Rufe und Schreie aus dem Heulen des Windes, sehe Schatten durch die apokalyptische Landschaft huschen. Zweige von Palmen und aus dem Boden gerissenes Wüstengestrüpp peitschen vorbei.
»GENNA !«
Ich drehe mich um und halte nach der Person Ausschau, die meinen Namen ruft. Die Welt ist ein wirbelnder, chaotischer Albtraum, und ich kann kaum die Hand vor Augen sehen. Dann taucht in der blutroten Staubwolke eine Silhouette auf.
»GENNA !«, ruft die Stimme.
Ich bleibe wie erstarrt stehen. Ist das Damien? Ich blinzle in den Sturm und mache mich zum Kampf bereit. Aber die Gestalt scheint schlanker und größer zu sein als Damien. Auch ihre Körperhaltung ist anders. Trotz der schlechten Sicht kommt mir die Person irgendwie bekannt vor. Ich spüre ein seltsames Ziehen in der Brust und fühle mich zu ihr hingezogen – ich bin mir jetzt sicher, dass es ein Er ist. Als ich einen Schritt nach vorne mache, packt mich eine Hand an der Schulter und zieht mich zurück.
»GENNA ! Hier lang !«, krächzt Jude. Sie zerrt mich durch den wirbelnden roten Sand davon. Ich blicke zurück, aber der Sturm hat die Gestalt verschluckt, wer auch immer es war.
Wenige Augenblicke später schubst sie mich in den Innenraum des E-Jeeps und knallt die Tür hinter mir zu. Sofort wird das Geräusch des Sturms leiser, obwohl der Wind den Jeep kräftig durchrüttelt und Sand wie Hagel auf die Windschutzscheibe prasselt. Tarek und Mei sitzen bereits sicher im Fahrzeug.
»Geht’s dir gut?«, fragt Mei, als Jude den Motor startet und die Piste entlangprescht, wobei sie blindlings den ausgefahrenen Fahrrillen folgt.
Benommen und fassungslos nicke ich. Dann ziehe ich meinen Schal herunter und spähe aus dem Heckfenster, in der Hoffnung, noch einen Blick auf die seltsame Silhouette zu erhaschen.
»Mir geht es gut, aber ich glaube, ich habe gerade Phoenix gesehen.«