Die Morgensonne taucht die spiegelglatte Oberfläche des Ganges in einen rötlichen Glanz, während sich unser klappriges Ruderboot langsam stromaufwärts bewegt.
Nachdem wir auf einer stillgelegten Landebahn eine Stunde außerhalb Varanasis gelandet waren, wollten wir in die alte Stadt fahren, scheiterten aber an den Schlaglöchern und dem Verkehrschaos – Rikschas, die sich gegen Taxis durchsetzen, Busse, die sich an Lastwagen vorbeidrängen, und heilige Kühe, die die engen Straßen Varanasis blockieren. Wir kamen nur im Schneckentempo voran und fühlten uns von der Luftfeuchtigkeit erdrückt, sodass wir schließlich aufgaben und stattdessen einen Bootsführer anheuerten, um uns über den Fluss ans Ziel zu bringen. Er war nur einer der zahllosen Menschen mit Booten, die an den Ufern des Ganges ihre Dienste anboten, aber er machte uns den besten Preis für die Fahrt in die Stadt und half uns auch, einige Dollar in Rupien zu tauschen. Er besaß zwar nicht das beste verfügbare Boot, aber als Mahul sich vorstellte, bemerkte ich den leichten blauen Schimmer in seinen Augen und ahnte, er könne ein Seelenbruder sein. Ich hatte jedenfalls ein gutes Gefühl dabei, ihn anzuheuern.
Jetzt kämpft Mahul mit seinen sehnigen braunen Armen gegen die Strömung an, und seine hölzernen Ruder knarren, wenn sie in das schlammige Wasser eintauchen. Auf der Seite des Sonnenaufgangs erstreckt sich ein weites, flaches und menschenleeres Sumpfgebiet. Auf der anderen Seite, die von den Strahlen der aufgehenden Sonne golden erleuchtet wird, wimmelt es nur so von Tempeln, Ashrams, Königspalästen und verfallenen Hotels. Morgengebete und Glockengeläut hallen durch die erwachende Stadt, Rauch hängt wie Nebel in der schwülen Luft, und unzählige Feuer schwelen am Flussufer, wo sich Holzstapel fast so hoch wie die Tempel stapeln.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragt Mei und rümpft die Nase, als wir uns der Stadt nähern.
Auch ich muss mich fast übergeben angesichts des überwältigenden Gestanks. Es ist eine ekelerregende Mischung aus brennendem Plastik, verrottendem Müll und Kuhmist. Auch ein schwacher Duft von Gewürzen, Jasmin und Weihrauch liegt in der Luft, zusammen mit etwas anderem, das ich nicht genau identifizieren kann, aber ich traue mich nicht, zu tief einzuatmen, aus Angst, mir könnte schlecht werden.
Mahul grinst und entblößt eine Reihe knochenweißer Zähne. »Willkommen in Varanasi!«, sagt er und bemerkt unsere leicht angewiderten Mienen. »Ihr werdet euch bald an den Geruch gewöhnen.«
»Das hoffe ich sehr«, murmelt Jude und hält sich Mund und Nase zu, während sie vergeblich versucht, ihre Füße von der braunen Brühe fernzuhalten, die auf dem Boden des Bootes schwappt.
»Wozu sind all die Feuer da?«, fragt Tarek, der am Heck des schwankenden Schiffes hockt.
»Einäscherungen«, antwortet Mahul. »In diese Stadt kommen viele Hindus, um zu sterben.«
»Definitiv ein beliebter Ort dafür«, bemerkt Mei und blickt erstaunt auf die großen Gruppen, die auf den zum Fluss hinunterführenden Ghats zahlreiche Bestattungszeremonien abhalten. Menschen aller Altersgruppen säumen in Massen die Steinstufen, um zu beten, zu trauern oder im heiligen Wasser des Ganges zu baden.
»Ihr seid zu einer geschäftigen Zeit gekommen«, erklärt Mahul und wendet sich dem Ufer zu. »Es ist der Beginn von Diwali, dem Lichterfest.«
Unzählige Tonlampen säumen die Häuser entlang des Ufers und Lichterketten hängen wie bunte Spinnweben zwischen den Dächern. Als wir uns nähern, lässt eine Gruppe von Kindern inmitten der Menge Feuerwerkskörper los. Woraufhin ausgelassene Schreie und harmlos klingende Schreckensrufe ertönen.
Mahul legt an einem breiten, mit Steinstufen versehenen Kai an und hilft uns beim Aussteigen. »Ich hoffe, dieses Diwali bringt Licht in euer Leben!«, ruft er.
»Und auch in Ihres«, sage ich lächelnd und gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld für seine Dienste. Als ich den Kai betrete, spüre ich ein seltsames, aber vertrautes Kribbeln in meinen Gliedern. Natürlich könnte es auch die Wärme der aufgehenden Sonne auf meiner Haut sein, trotzdem kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, am richtigen Ort angekommen zu sein. Ich spüre eine starke Präsenz des Lichts, wie ich sie schon in Haven erlebt habe.
Doch sobald unser Bootsführer abgefahren ist, wird dieses friedliche Gefühl jäh unterbrochen, denn schnell sind wir von Straßenhändlern, flehenden Bettlern und aufgeregten Kindern umgeben.
»Für die Göttin Ganga«, drängt ein rundgesichtiges kleines Mädchen und drückt mir eine kleine Kerze in die Hand.
Ich untersuche sie und stelle fasziniert fest, dass das Wachs zu einem Stern geformt ist. Da ich dies für ein gutes Omen halte, biete ich ihr ein paar Rupien an, und sie läuft glücklich davon.
Ich stecke die Kerze vorsichtig ein, da ergreift ein magerer alter Mann mein Handgelenk und hält mir seine offene Hand hin. »Spende für Altersheim«, krächzt er eher fordernd als bittend. Leicht erschrocken über seine aggressive Annäherung, weiche ich zurück. Sein knochiger Griff wird fester.
Ein jüngerer Mann mit geöltem Haar tritt dazwischen, befreit mich von dem Bettler und verscheucht ihn. »Sie brauchen einen Führer?«, fragt er und schenkt mir ein gewinnendes Lächeln. Dann mischt sich ein weiterer junger Mann ein und bietet ebenfalls seine Dienste an. Durch die neugierige Menge bedrängt, fühle ich mich wie ein auf den Wellen tanzender Korken.
»Was denkst du, Jude? Brauchen wir einen Führer?«, frage ich, als sich immer mehr Fremdenführer um unsere Gunst bemühen.
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagt Jude und weist einen Mann mit einem buschigen Bart und schlechtem Atem ab. »Wir können niemandem trauen.«
»Aber wir brauchen einen Führer«, beharre ich.
Jude schüttelt den Kopf. »Nicht unbedingt. Nicht für das, wonach wir suchen.«
Ich runzle die Stirn. »Wie sollen wir dann diese Ewige Flamme ohne Hilfe finden?«
»Sie wollen Ewige Flamme sehen?«
Ich wende mich scharf an den Möchtegern-Führer mit dem gewinnenden Lächeln. »Wissen Sie, wo sie ist?«, frage ich ihn.
Er nickt enthusiastisch. »Kommen Sie, kommen Sie – ich kann es Ihnen zeigen.« Und ehe wir es uns versehen, werden wir die Treppe hinaufgeführt.
»Ihr erstes Mal in Indien?«, fragt er. Sein schwarzes Haar ist so glatt wie sein Lächeln, seine vorstehenden Zähne strahlen ein bisschen zu hell. Sein rosa Hemd ist gebügelt und trotz der in der Luft schwebenden Asche bemerkenswert sauber.
»Nicht wirklich«, antworte ich, wobei mein früheres Leben als Aarush in Kerala wohl als mein erstes Mal in diesem Land gelten dürfte. Obwohl diese Wiedergeburt im äußersten Süden Indiens stattfand und sich mein Schimmern auf das Erlernen der uralten Kampfkunst Kalarippayattu beschränkte, machte mich das ausreichend mit der lebendigen Kultur des Landes vertraut.
»Also das erste Mal in Varanasi?«
»Für mich schon«, sagt Mei und schaut sich staunend nach den regenbogenfarbenen, baufälligen Gebäuden um.
»Gut. Dann lassen Sie mich Ihnen alles darüber erzählen«, sagt er und schlängelt sich gekonnt durch die Scharen von Trauernden und Festbesuchern. »Varanasi – oder die Stadt des Lichts, wie wir während Diwali sagen – ist eine der ältesten Siedlungen der Welt. Manche Menschen halten sie sogar für unvergänglich. Für die Hindus ist sie die heiligste aller Städte, ein Verbindungspunkt zwischen Erde und Himmel.«
Er führt uns auf eine Plattform mit Blick auf den größten der Einäscherungsplätze. Ein Scheiterhaufen ist für die Ankunft des Leichnams vorbereitet worden. Ein Strom von Trauernden folgt vier Männern, die eine in safranfarbene Gewänder gehüllte Leiche tragen.
»Manikarnika Ghat«, verkündet unser Führer mit einer hoheitsvollen Handbewegung. »Dieser Ort ist so heilig, dass das Sterben hier der Seele hilft, Moksha zu erlangen – die Unterbrechung des endlosen Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt. Erst damit ist der Seele endlich der Eintritt in den Himmel sicher.«
Ich tausche einen hoffnungsvollen Blick mit Tarek. »Scheint, als wären wir am richtigen Ort, um Tanas’ Reinkarnation zu beenden«, sagt er mit leiser Stimme, und ich nicke zustimmend.
Wir sehen zu, wie der Leichnam des Verstorbenen sorgfältig im Wasser des Ganges gewaschen wird, bevor er einbalsamiert und in weißes Leinen gewickelt wird. Schließlich wird er auf den Scheiterhaufen gelegt. Ein Priester in einem weißen Dhoti kommt aus einem nahe gelegenen Gebäude und trägt einen glimmenden Stock. Er umrundet den Scheiterhaufen fünfmal, bevor er das Holz entzündet. Das Feuer greift schnell um sich und die Leiche wird von den Flammen verzehrt.
Jude schaut sich um und klopft dem Führer auf die Schulter. »Also, wo ist diese ewige Flamme, die du uns versprochen hast?«
»Ganz in der Nähe, ganz in der Nähe«, antwortet unser Führer ernst. »Kommen Sie hier entlang.«
Mit dem intensiven Geruch von Sandelholz in der Nase folgen wir ihm in eine enge, verwinkelte Seitenstraße. Ich bemerke, dass Jude ihre Hand in der Tasche ihrer Cargohose hat, wo sie zweifellos ihre Taser-Pistole umklammert. Aber ich freue mich eher auf die Aussicht, unser nächstes Seelengefäß zu finden, als dass ich wegen unseres Führers beunruhigt bin – seine Augen mögen zwar dunkelbraun sein, aber sie zeigen keine Anzeichen der übermäßig geweiteten Pupillen eines Wächters oder Jägers.
Wir biegen um eine Ecke in eine Gasse, und ich erblicke eine sandfarbene Katze auf einem nahen Dach. Einen Moment lang glaube ich, es sei Nefe, bis mir klar wird, dass es sich um eine Streunerin handelt, obwohl es mich nicht überrascht hätte, wenn Nefe tatsächlich aus dem Jet entkommen und uns gefolgt wäre. Sie ist wegen des ständigen Eingesperrtseins ziemlich gereizt, was ich ihr nicht verübeln kann. Aber wir können sie nicht frei herumlaufen lassen, da wir jederzeit für eine schnelle Flucht bereit sein müssen.
Wir biegen um eine weitere Ecke, wo uns eine entgegenkommende Kuh den Weg versperrt. Der Führer scheucht das Tier zur Seite. Nachdem wir uns vorbeigezwängt haben, ducken wir uns durch eine niedrige Tür in einen kleinen, rauchigen Tempel im hinteren Teil des Ghat, wo man uns stolz ein schwelendes Feuer aus sechs oder mehr kleinen Holzscheiten in einer schlichten Steinfeuerstelle zeigt.
»Die Ewige Flamme!«, erklärt unser Führer.
Wir stehen um das erbärmliche Feuer herum und schweigen entgeistert.
Unser Führer strahlt uns an. »Wie ich sehe, sind Sie alle entsprechend ehrfürchtig!«
»Nicht wirklich«, sagt Jude, die für uns alle spricht. »Um ehrlich zu sein, sieht dieses Feuer nicht eben so aus, als sei es ewig. Es wirkt vielmehr so, als werde es bald verlöschen.«
»Nein, nein! Lassen Sie sich nicht vom Schein trügen«, sagt der Führer und wedelt mit einem Stück Pappe gegen die Flammen. »Dieses Feuer brennt schon seit mehr als dreitausendfünfhundert Jahren. Es enthält die Ewige Flamme, die von Gott Shiva selbst entfacht wurde. Ohne sie können die Scheiterhaufen nicht angezündet werden.«
Jude schaut immer noch zweifelnd, aber ich schöpfe neue Hoffnung.
»Wenn es stimmt, was er sagt«, flüstere ich Tarek zu, »dann ist das das Feuer, das wir brauchen, um Tanas zu bekämpfen!«
»Aber wie sollen wir es mitnehmen?«, fragt Tarek und blickt auf den kleinen Haufen brennender Holzscheite.
»Mit dem hier«, sage ich und ziehe die Kerze aus meiner Tasche. »Wenn sie ewig ist, brauchen wir nur die Flamme.« Ich wende mich an unseren Führer. »Ich möchte jemanden ehren, der gestorben ist. Darf ich diese Kerze am Feuer anzünden?«
Der Führer neigt den Kopf. »Normalerweise wird eine Spende erwartet.«
»Natürlich«, antworte ich, hole mein Portemonnaie heraus und reiche ihm einige Scheine.
Mit einem kurzen Lächeln steckt er das Geld ein. Doch als ich mein Portemonnaie verstauen will, verzieht er das Gesicht. »Jede Einäscherung ist so teuer«, sagt er mit einem fast theatralischen Seufzer. »Ein Kilogramm Holz kostet für viele Menschen mehr als einen Wochenlohn, und für jeden Scheiterhaufen werden mehrere Dutzend Kilogramm benötigt. Es ist sehr traurig, weil sich viele arme Menschen das Holz nicht leisten können und deshalb Moksha nicht erreichen. Sie warten hier ohne Hoffnung auf den Tod.«
Mei legt eine Hand auf ihren Mund. »Oh, das ist ja furchtbar.«
»Ich weiß«, stimmt unser Führer zu. »Ich vertrete jedoch eine lokale Wohltätigkeitsorganisation, die Einäscherungen für die Armen finanziert. Wenn Sie also eine weitere großzügige Spende machen möchten?« Er streckt seine Hand aus.
»Sicher …« Ich greife in mein Portemonnaie und gebe eine weitere großzügige Spende.
Das gewinnende Lächeln kehrt zurück. Dann, als er die Scheine zählt, weicht es einem finsteren Blick. »Ihr seid zu viert. Ihr müsst mehr spenden!«
»Wie bitte?«, antworte ich. »Mehr?«
»Ja! Sie müssen Ihr ganzes Geld spenden«, sagt er, als plötzlich mehrere verschlagen aussehende Komplizen aus dem Schatten auftauchen. Ich fluche leise vor mich hin. Man hat uns in eine Falle gelockt!