Ich starre in meine Tasse und beobachte die herabsinkenden Teeblätter, als wäre ich eine Wahrsagerin, die in ihren Mustern eine Antwort zu erkennen hofft. Der Gedanke, das Licht lenken zu können, ist verlockend, aber auch beängstigend. Nach meinem letzten Versuch in Haven, das Licht zu kanalisieren, habe ich wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten. Vorhin hat Vihan die Seelenprophezeiung zitiert, und ich befürchte, dass er mir fälschlicherweise sein Vertrauen geschenkt hat, genau wie Caleb.
»Ich bin nicht diejenige, die in der Prophezeiung vorhergesagt wird, falls Ihr das denkt, Vihan«, versichere ich ihm.
»Ich habe nie behauptet, dass du es bist. Aber wenn wir eine Chance haben wollen, Tanas zu besiegen, musst du in der Lage sein, das Licht zu lenken«, beharrt er.
»Das habe ich bereits versucht und bin gescheitert«, gebe ich zu. Havens Untergang lastet schwer auf meinem Herzen.
Er weist meinen Einwand mit einer Handbewegung zurück. »Scheitern ist nur ein Sprungbrett zum Erfolg«, erklärt er.
»Oder ein schnellerer Weg zum eigenen Tod«, murmelt Jude.
Vihan erhebt sich mithilfe seines Stabes und winkt mich zu sich in die Mitte der Dachterrasse.
»Geh schon!«, ermutigt mich Mei und gibt mir einen leichten Schubs. »Stell dir vor, du schaffst das – du wärst eine echte Superheldin!«
Ich rutsche unbeholfen auf meinem Kissen hin und her und betrachte meine Tasse. Die Frage ist, ob ich eine Superheldin sein will . Will ich riskieren, erneut zu scheitern? Mia cara, das ist die Aufgabe unserer Seelen. Das Licht am Leben zu erhalten und die Menschheit vor Tanas und ihren Inkarnaten zu schützen. Vivianas Worte kommen mir wieder in den Sinn, und mir wird klar, dass ich keine andere Wahl habe. Ich habe Santiago geschworen, dass ich mein Bestes tun werde, um das Licht zu schützen, dass ich Wiedergutmachung leisten werde. Widerwillig trete ich also aus dem Schatten des Baldachins in die grelle Sonne.
»Das Licht ist im Grunde genommen Energie«, erklärt der Guru, während ich ihm gegenüberstehe. »Das bedeutet, man kann es kanalisieren und sogar in einen anderen Zustand umwandeln, sei es Wärme, Schall oder sogar elektrische Energie, wie ich es bei der Ausschaltung der Waffe deiner Freundin getan habe.«
Vihan streckt seine offene Hand aus und lässt sie vor mir kreisen. Ein Halo aus schimmerndem, silbernem Licht erscheint aus dem Nichts. Ich höre ein überraschtes Luftschnappen Meis und den anderen.
»Das ist ein Lichtschild«, erklärt der Guru, während ich ihn fassungslos anstarre. »Er funktioniert wie ein Spiegel der Finsternis und kann dazu benutzt werden, Angriffe abzuwehren. Na los – berühre es.«
Vorsichtig strecke ich die Hand aus und bekomme prompt einen elektrischen Schlag. »Autsch!«, schreie ich und ziehe meine Hand sofort wieder zurück.
»Das Licht hat die Atome in der Luft stark aufgeladen«, erklärt Vihan. »Jetzt versuch du es. Stell dir vor, das Licht strömt aus deinen Fingerspitzen und wirbelt die Luft zu einem Strudel auf.«
Ich bewege meine rechte Hand in einem kreisförmigen Muster, genau wie er. Aber nichts geschieht. Mit gerunzelter Stirn lasse ich meine Hand schneller und schneller kreisen. Ich komme ganz schön ins Schwitzen. Langsam und allmählich entwickelt sich eine deutliche Wärme in meiner Handfläche und die Fingerspitzen kribbeln.
»Ich glaube, ich habe einen Funken gesehen«, sagt Jude und blickt über ihre Sonnenbrille hinweg.
»Wirklich? «, sage ich aufgeregt und kreise immer schneller.
»Nein«, antwortet Jude knapp.
Ich lasse meine Hand sinken und fühle mich wie ein Vollidiot. Wer bin ich denn, dass ich glaube, das Licht lenken zu können? Ich habe bereits bewiesen, dass ich nicht die in der Seelenprophezeiung Vorausgesagte bin.
»Hör zu, Vihan«, sage ich. »Ich denke, wir verschwenden hier unsere wertvolle Zeit. Ich bin nicht mein Seelenzwilling. Sie ist diejenige, die das Licht lenken konnte.«
Vihan starrt mich streng an, zumindest wirkt es so. Er streckt die Hand aus und streichelt die Luft um mich herum. »Das erklärt also, was ich sehe … eine doppelte Aura.«
»Eine doppelte was?«
Ich warte auf eine Antwort, aber er mustert mich weiter aufmerksam. Ich winde mich unter seinem augenlosen Blick.
»Der Seelenseher Caleb hat mir einmal gesagt, ich trüge etwas von dem Licht meiner Schwester in mir«, verrate ich zögernd.
»Aha«, murmelt er abwesend.
»Wir wurden aus demselben Funken geboren und teilten uns die Seelen«, fahre ich fort. »Caleb glaubte, als Tanas sie opferte, sei etwas von ihrer Essenz auf mich übergegangen.«
»Ja«, sagt der Guru und nickt. »Die silberne Aura scheint deine zu sein und die goldene Aura die deiner Schwester. Sie sind ineinander verschlungen wie eine Doppelhelix …« Er fährt sich mit einem Finger durch seinen langen Bart und rollt ihn immer wieder ein und aus. »Hm, das könnte klappen.« Mit einer Geste fordert er mich auf, wieder zu den anderen unter das provisorische Sonnensegel zu gehen. Erleichtert, aus der Sonne zu kommen, setze ich mich wieder auf mein Kissen.
Vihan kniet mir gegenüber. »Lass uns etwas Einfacheres ausprobieren«, schlägt er vor und stellt eine winzige Diya-Lampe aus Ton auf den Tisch, deren Docht wie ein verirrtes Haar emporragt. »Halte deine Hand über diese Lampe.«
»Gut. Und was jetzt?«, frage ich.
»Nutze das Licht in dir, um den Docht zu entzünden. Konzentriere seine Energie in der Mitte deiner Handfläche. Aber dieses Mal möchte ich, dass du dir ein goldenes Licht vorstellst, das ausströmt.«
»Golden? In Ordnung.« Ich schließe die Augen und lenke das Licht an meinem Arm entlang, stelle es mir als goldenen Strahl vor und konzentriere es in meiner Handfläche.
»Funktioniert es?«, höre ich Prisha flüstern, nachdem eine Minute verstrichen ist.
»Geduld«, antwortet der Guru sanft. »Ich hoffe, Genna kann durch die Konzentration auf ihr goldenes Licht ihre Auren entwirren, damit die ihrer Schwester frei fließen kann. Wenn ihr Seelenzwilling wirklich in der Lage war, das Licht zu kanalisieren, dann muss diese Aura überwiegen.«
Eine weitere Minute vergeht. Ich will gerade aufgeben, als ich ein Kribbeln in meiner Handfläche spüre, gefolgt von einer plötzlichen intensiven Hitze. Aufschreiend ziehe ich meine Hand weg und öffne meine Augen. Der Kerzendocht ist entflammt! Habe ich das wirklich getan?
Prisha hält sich eine Hand vor den Mund und Mei applaudiert.
»Glückwunsch!«, sagt Tarek und klopft mir auf die Schulter. »Du bist eine geborene Lenkerin des Lichts.«
Jude ist weniger beeindruckt. »Das ist ganz toll, wenn wir ohne Streichholz im Wald festsitzen, aber was hilft dieser kleine Zaubertrick wirklich gegen Tanas?«
Der Guru hält die Kerze hoch. »Mit einem Funken kann man gewaltige Feuer entfachen!«