In der plötzlichen Dunkelheit taucht eine Kapuzengestalt auf, gefolgt von einer zweiten, dann einer weiteren und noch einer … Sie schwärmen aus, bis sie uns eingekreist haben.
Während im Hintergrund die Diwali-Feierlichkeiten weiter in vollem Glanz erstrahlen, stehen wir in der Dunkelheit einander schweigend gegenüber. Ein eiskalter Schauer überläuft mich, trotz der Schwüle in der Nacht. Sie haben uns gefunden!
Instinktiv zucke ich zurück, als Tanas ihre Kapuze zurückschiebt. Ihr Gesicht ist schlangenartiger und seelenloser als je zuvor. Ihr schwarzes Haar hat sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, ihre Wangenknochen wirken markanter, ihr Kinn ist spitzer, ihre Lippen sind noch schmaler. Ihre einst makellose Haut ist nun von leichten, kreuz und quer verlaufenden Narben gezeichnet, wo Nofretetes Krallen ihre Spuren hinterlassen haben. Unter ihrem Mantel trägt sie die mattschwarze Kampfjacke mit der dünnen Beschichtung aus Nano-Carbon, und ihre Piloten-Sonnenbrille schützt ihre tiefschwarzen Augen.
Ihre Jäger sind ähnlich gekleidet, ihre Gesichter sind durch ihre Kapuzen und dunklen Brillen verborgen. Dennoch erkenne ich Damien und die meisten seiner Bande an ihrer Haltung und Statur: Damien selbstbewusst und muskulös; Schlagring, wild wie ein Pitbull und genauso stämmig; Schlägertyp, schwerfällig und überdimensioniert wie ein jugendlicher Riese; Blondie, zappelig und drahtig; Spider, gebeugt von ihren Messerstichen und doch so gefährlich wie eine verletzte Viper.
Angst und Adrenalin durchströmen meine Adern. Ich möchte vor diesen schwarzäugigen Jägern fliehen, gleichzeitig drängt mich eine brennende Wut, sie anzugreifen, um den Mord an Phoenix zu rächen. Und hinter dieser Wut nagen Unsicherheit und Selbstzweifel: Wie haben sie uns gefunden? Denn schon wieder wurden wir in kürzester Zeit aufgespürt. Hat uns ein Wächter entdeckt? Haben wir uns zu lange an einem Ort aufgehalten? Haben sie irgendwie den Jet geortet? Oder ist es so, wie Tanas gegenüber Santiago geprahlt hat: »Je dunkler die Tage werden, desto leichter ist es, euer Licht zu entdecken«?
Wie auch immer, sie haben uns aufgespürt, wir sind jetzt in höchster Gefahr – und Mei und Prisha auch.
Tanas’ kalter Blick schweift langsam über den Hof, wo dünne Rauchfäden aus den erloschenen Kerzen in die stille Luft aufsteigen, wie eine Schar entschwindender Geister. Ihre Oberlippe kräuselt sich.
»Was für eine sinnlose Feier. Kapiert ihr denn nicht, dass die Finsternis dazu bestimmt ist, das Licht zu verschlingen?«
»Nicht jedes Licht!«, erwidert Tarek. Von der Lampe in seiner Hand geht ein blauer Schein aus, der uns in seinen schützenden Glanz taucht.
»Deshalb seid ihr also hier in Varanasi«, spottet Tanas. »Wegen der sogenannten Ewigen Flamme. Nun, dann lasst uns das mal überprüfen, einverstanden?«
Mit einer scharfen Geste schneidet ihre Handkante durch die Luft. Im nächsten Moment zucke ich unwillkürlich zusammen, als mich ein kalter Schauer durchfährt. Auch die anderen scheinen das gleiche unangenehme Gefühl zu verspüren.
Die Flamme in der Lampe erlischt.
Ängstlich blicke ich in die pechschwarze Nacht.
Tanas’ kaltes, grausames Lachen schallt durch den Garten. »Ha! Nicht mehr ganz so ewig, was?«
Dann, genauso plötzlich, wie sie erloschen war, erwacht die Flamme wieder zum Leben.
In ihrem beharrlichen Schein verwandelt sich Tanas’ hämisches Grinsen in eine hasserfüllte Grimasse.
»Varanasi ist nicht dein Reich, Tanas«, erklärt Vihan und tritt aus dem Eingang des Tempels hervor. »Das Licht hier ist stark und das schwächt dich.«
Tanas lacht und versucht, ihre symbolische Niederlage wegzustecken. »Alles nur Gerede!«, höhnt sie. »Als wir uns das erste Mal auf dieser Erde trafen, Chibuzo, warst du ein mächtiger Häuptling. Und jetzt schau dich an! Du bist kaum mehr als ein Bettler, nur noch Haut und Knochen. Und in dieser erbärmlichen Gestalt hast du nicht einmal mehr Augen.«
»Ich brauche keine Augen, um das Böse in dir zu erkennen, Tanas«, erwidert der Guru. Mit einer majestätischen Armbewegung schickt Vihan einen Lichtbogen in Richtung der Anführerin der Inkarnaten. Wie eine gebogene Klinge schneidet das Licht durch die Luft und knistert vor statischer Aufladung.
Tanas duckt sich und kann dem Angriff gerade noch ausweichen. Der hinter ihr stehende Inkarnat ist nicht ganz so flink. Der Lichtbogen erwischt ihn knapp über dem Kragen seiner Sturmjacke, er zuckt wie von einem Stromschlag getroffen zusammen und fällt zu Boden, wobei sich die dunkle Seele von seinem irdischen Körper löst.
Ich bin verblüfft über die gnadenlose Effektivität von Vihans Lenken des Lichts. Besitze ich diese Macht auch?, frage ich mich.
Tanas starrt voller Zorn auf ihren gefallenen Jäger.
»Zu diesem Spiel gehören zwei!«, knurrt sie. Sie stößt eine Faust in die Luft und ein kompakter Ball aus Finsternis schießt in Richtung des Gurus. Vihan wehrt ihn mit einem eilig erzeugten Lichtschild ab, doch die Wucht des Angriffs schleudert ihn zurück gegen den Stamm eines Mangobaums. Mei und ich eilen zu ihm, aber er winkt uns weg und kommt mithilfe seines Stabes wieder auf die Beine.
»Es ist nichts weiter. Ich habe nur das Gleichgewicht verloren«, erklärt er ruhig.
Ich kann ihm nicht so recht glauben und zittere vor Schreck angesichts dieser übernatürlichen Machtdemonstration. Tanas hat gerade die Finsternis als Waffe benutzt! Natürlich sollte mich das nicht allzu sehr überraschen. Wenn ein Erster Nachkomme das Licht lenken kann, warum sollte dann ein Inkarnat nicht auch die Finsternis lenken können? Diese Erkenntnis ändert alles: Unser vermeintlicher Vorsprung ist jetzt dahin.
»S-seit wann verfügt Tanas über diese Fähigkeit?«, stottert Tarek, dessen Augen sich hinter seiner Brille hervorwölben.
»Hätte ich bloß meinen Schild mitgenommen«, murmelt Jude, während sie in Richtung des Tempels als möglichem Fluchtpunkt späht.
»Tanas wurde durch das rituelle Opfer von Ersten Nachkommen gestärkt«, murmelt der Guru. »Und nach der Art des Angriffs zu urteilen, muss sie die Macht eines Seelensehers absorbiert haben.«
Ich erinnere mich an Calebs Tod und an den kurzen Blitz, der sich um Tanas’ Hand schlängelte … Mir wird klar, dass sie in diesem Moment diese Fähigkeit erlangt haben muss.
»Eure Tage sind gezählt«, verkündet Tanas und genießt unsere fassungslosen Blicke. Sie erhebt ihre Hände und ballt sie zu Fäusten. »Die Nacht wird bald für immer hereinbrechen!«
»WARTE !«, schreie ich. »Lass meine Freundinnen gehen. Sie haben nichts mit unserem Kampf zu tun.«
Tanas senkt die Hände und sieht Mei und Prisha mit einem mitleidigen Blick an. »Oh, aber sie haben alles damit zu tun. Denn diese erbärmlichen Seelen, die ihr mit eurem Licht zu schützen versucht, werden bald meine Sklaven sein.« Sie streckt ihre Arme aus und schickt diesmal zwei dolchartige Splitter aus Finsternis in Meis und Prishas Richtung.
Sofort springe ich vor meine Freundinnen und kreise hektisch mit den Händen. Auftragen, polieren! , denke ich verzweifelt. Ein Paar Spiralen – eine goldene, eine silberne – knistern in der Luft. Ich halte sie gerade lange genug aufrecht, um die Splitter abzublocken.
Die Splitter verschwinden.
Tanas’ Mund bleibt ungläubig offen stehen. Ich starre auf meine Hände, erstaunt darüber, dass ich nicht nur einen, sondern gleich zwei Lichtschilde geschaffen habe.
Vihan grinst über dieses unerwartete Kunststück. »Genna, irgendwie zapfst du deine beiden Auren an.«
Ermutigt richte ich mich auf und wende mich wieder Tanas zu.
Tanas schäumt. »So beeindruckend dein kleiner Trick auch ist, Genna, die Finsternis ist allmächtig.« Sie dreht sich zu ihren Jägern um. »Unterwerft sie!«
Die Inkarnaten stürmen auf uns zu.
Jude betäubt einen von ihnen sofort mit ihrem Taser, dann verpasst sie einem weiteren einen Roundhouse-Tritt gegen den Kopf. Vihan schickt Lichtbögen, die wie silberne Shuriken durch die Dunkelheit fliegen. Zwei Inkarnaten fallen auf der Stelle um. Schlägertyp wird von einem der Silbersterne in die Brust getroffen, das Licht durchdringt seine nano-carbonisierte Jacke. Er sinkt auf die Knie.
Tanas gibt den Befehl, die Ewige Flamme zu ergreifen, und Schlagring und Blondie stürmen direkt auf Tarek zu. Tarek tut sein Bestes, um sie abzuwehren, aber ihre kombinierten Treffer werfen ihn zu Boden. Sie treten und schlagen auf ihn ein, während er die Lampe fest umklammert hält.
»Ich schlag dir das Gesicht zu Brei, wenn du nicht loslässt!«, knurrt der Schlagring.
Ich feuere einen Lichtstoß ab, der Blondie zur Seite schleudert. Aber als ich versuche, auch Schlagring zu treffen, kommt nichts mehr heraus. Ich versuche es erneut, aber meine Energie scheint nach dem Training des Tages erschöpft zu sein.
»Mei! Prisha! Lauft in den Tempel«, rufe ich und eile Tarek zu Hilfe. Er wehrt sich gegen die metallbesetzten Fäuste Schlagrings, aber bevor ich ihn erreichen kann, springt mir Damien in den Weg.
»Genna, irgendwie verfehlen wir uns immer«, scherzt er und schenkt mir ein spöttisches Lächeln.
»Na, der verfehlt dich hoffentlich nicht!« Ich hole zu einem rechten Haken aus, der Schlag landet direkt auf Damiens Kiefer und wirft seinen Kopf zur Seite. Verärgert, aber nicht ausgeschaltet, kontert er mit einem bösartigen Hieb in meinen Bauch. Ich krümme mich vor Schmerz und schnappe nach Luft. Bevor ich mich erholen kann, reißt er mir die Blumengirlande vom Hals, packt mich an der Kehle und drückt mich gegen den Stamm eines Mangobaums.
»Das war keine besonders freundliche Begrüßung«, sagt er und spuckt Blut auf den Boden.
»Wir sind keine Freunde, deshalb.«
Wir starren uns mit grimmigen Blicken an. In seinen dunklen Jägeraugen sehe ich nichts als Hass. Doch dann erkenne ich einen flüchtigen blauen Schimmer in ihren trüben Tiefen. Ich habe diesen Schimmer schon einmal wahrgenommen, damals in der psychiatrischen Klinik in Arizona. Damals dachte ich, es sei lediglich eine Reflexion meines eigenen Lichts. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Ich konzentriere mich stark und suche tief in seiner kaputten Seele nach diesem winzigen Splitter Licht und frage mich, wer er ist. Oder besser gesagt: wer er in einem früheren Leben war . Ich erlebe einen Schimmer einer alten, brennenden Stadt, in der das Blut in Strömen durch die staubigen Straßen rinnt. Ich höre das Klirren von Schwertern und die Schlachtrufe. Ein Kämpfer steht vor einem Kriegerkönig mit schwarzen Augen, einen Säbel an die Kehle einer unbewaffneten jungen Frau haltend, die auf den Knien liegt.
Damien löst sich von meinem intensiven Blick. »Sei nicht neugierig, Genna«, schnauzt er. »Dir wird wahrscheinlich nicht gefallen, was du siehst.« Er spannt seine Armmuskeln an und hebt mich mit einem Ruck vom Boden hoch. Ich zappele in seinem Griff und beginne zu würgen. Mein Herz pocht, der doppelte Rhythmus ist intensiver denn je. »Na dann gute Nacht, Genna«, höhnt er, während ich mich kraftlos an seine Hände klammere.
Ich sehe, wie Mei und Prisha den Schutz des Tempels verlassen, um mir zu Hilfe zu eilen. Aber Blondie fängt sie ab und packt Prisha an den Haaren. Dunkelheit verschleiert meine Sicht, und ich spüre, wie ich das Bewusstsein verliere. Dann schreitet eine vertraute Gestalt aus den Schatten auf mich zu …
»Phoenix! «, stottere ich und strecke verzweifelt die Hand aus. Und ich bin wahrhaft verzweifelt, denn mein Guardian ist tot, und diese Vision muss ein Hirngespinst meines durch Sauerstoffmangel geschwächten Geistes sein. Und doch sieht diese Gestalt aus wie er – kastanienbraunes Haar, olivfarbener Teint, schlanke Gestalt … Wieder rufe ich seinen Namen, und die Gestalt kommt auf mich zu, ihr Gesicht zeigt sich im wild flackernden Licht der Ewigen Flamme.
Es ist Phoenix!
Von einer Woge der Hoffnung neu belebt, bündele ich meine letzten Kräfte. Ich presse meine Hand an Damiens Flanke, sammle das letzte bisschen Energie, das mir noch geblieben ist, und bündele einen Lichtstoß in meiner Handfläche, so, als würde ich eine Kerze entzünden. Im nächsten Moment schreit Damien panisch auf, weil sein Umhang in Flammen steht. Er springt zurück, schlägt auf das sich ausbreitende Feuer ein und zerrt seinen Umhang herunter.
Aus seinem Griff befreit, stürze ich auf Phoenix zu, in der Hoffnung auf seinen Schutz. Er breitet seine Arme aus, um mich willkommen zu heißen.
Mein Herz schlägt wie wild, ich glaube die vertraute Anziehungskraft zu spüren. Doch dann bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ja, er mag wie Phoenix aussehen, aber seine Augen haben keinen Sternenglanz mehr.
Sie sind pechschwarz!