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»MEI !«, rufe ich und renne mit den anderen zu dem klaffenden Erdloch hinüber. »Mei?« Ich knie mich hin und spähe ängstlich hinab in die Dunkelheit.

Einen beunruhigenden Moment lang herrscht Totenstille, dann dringt eine verärgerte Stimme nach oben. »Übrigens, ich habe deinen Brunnen gefunden.«

Jude hebt eine Augenbraue. »Ich schätze, deine Freundin erweist sich doch noch als nützlich.«

Ich werfe Jude einen Blick zu. »Tu bloß nicht so, als ob du dir endlich Sorgen um sie machst. Mach dich lieber nützlich und hol das Seil, ja?«

»Klar«, antwortet sie grinsend.

Ich wende mich wieder dem Loch zu. »Mei, wir ziehen dich jetzt raus, aber kannst du vorher nachsehen, ob das Seelengefäß da unten ist?«

Wir hören ein Krabbeln und ein leises Plätschern, dann ertönt Meis Stimme aus dem Brunnen: »Igitt! Da ist Wasser, aber das wollt ihr sicher nicht trinken. Sieht aus wie Ziegenpisse! Wartet mal … Ich glaube, ich habe etwas gefunden …«

Plötzlich durchdringt ein schrilles Kreischen die Stille der Wüste.

»Was ist passiert?«, rufe ich.

»Holt mich einfach hier raus!«, lautet Meis panische Antwort.

Jude wirft eilig das Seil herunter und gemeinsam ziehen wir Mei hoch. Schmutzig und zerzaust taucht sie aus dem Brunnen auf. Ihr schwarzes Haar ist orangefarben vom Sand, ihre Kleidung weiß vom Salz, ihre Turnschuhe feucht vom gelben Schlamm des abgestandenen Wassers. Unter ihrem einen Arm klemmt ein großes Tongefäß.

»Hier«, sagt sie und reicht mir das Gefäß.

»Alles in Ordnung?«, frage ich. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Sie nickt. »Alles in Ordnung. Etwas hat mich erschreckt, das ist alles.«

»Nun, deine Eltern wären stolz auf deine Fähigkeiten als Entdeckerin verborgener Schätze«, sage ich. »Dass du in dieses Loch gefallen bist, zeugt von deinem echten Naturtalent.«

»Danke. Es erfordert schon echte Übung, so einen eleganten Sturz hinzulegen!« Mei schüttelt den Kopf, worauf eine Sandwolke um sie herum wirbelt.

»Was hat dich erschreckt?«, fragt Prisha und reicht ihr eine Flasche Wasser.

Mei nimmt einen großen Schluck und sieht sie dann grimmig an. »Ein menschliches Skelett.«

Prisha schnappt nach Luft und mir läuft trotz der großen Hitze ein Schauer über den Rücken.

»Von wem könnte das sein?«, fragt Tarek. Er starrt ängstlich in die klaffende Öffnung des Brunnens, als könne das Skelett aus seinem uralten Grab gekrochen kommen.

Eine schwache Erinnerung regt sich in mir, dringt aber nicht ganz an die Oberfläche.

»Wahrscheinlich ein verunglückter Bergarbeiter«, sagt Jude. »Jetzt lasst uns diesen Seelenkrug öffnen und sehen, ob sich Meis Schatzsuche gelohnt hat.«

Ich lege das Tongefäß auf eine der Salzziegelmauern und Jude bricht den Deckel mit der Spatenkante auf. Sie greift hinein und zieht ein abgenutztes ledernes Futteral heraus.

»Das gehörte Amastan!«, sage ich. Sie reicht mir das Futteral, und mir wird sofort warm ums Herz, wenn ich nach so vielen Jahrhunderten ein Relikt aus dem Wüstenleben meines Seelenbeschützers in den Händen halte. Es wirkt wie ein Zeitenstein und löst eine Flut alter Erinnerungen aus: wie wir im frühen Morgenlicht barfuß durch die Dünen wanderten … wie wir mit unseren Kamelen zu einer Oase ritten … sein zärtliches Lächeln, als er mir dabei zusah, wie ich Fladenbrot auf einem heißen Stein backte … seine Stimme, wenn er am Feuer Verse sang, während ich auf meinem Teppich lag und die unzähligen Sterne betrachtete …

Ein bittersüßes Lächeln umspielt meine Lippen, um dann zu verblassen, als ich die glücklichen Momente in diesem früheren Leben gegen den Schmerz über Phoenix’ Verrat in diesem Leben abwäge. Mit einem bedauernden Seufzer über all das Verlorene öffne ich den Deckel von Amastans Behältnis und schütte den Inhalt vorsichtig aus.

Ein Goldklumpen rollt in meine Hand und glitzert unter der heißen Sonne der Sahara.

Meis Augen weiten sich, bis sie fast so hell glänzen wie das Gold. »Ist es wirklich das, was ich denke, dass es ist?«

Ich nicke und werfe ihr das Nugget zu. »Hier, kauf dir davon ein neues Handy.«

»Meinst du das ernst?«, japst sie, und ihr fällt die Kinnlade herunter. »Davon kann ich mir zwanzig neue Handys kaufen!«

»Dein Anteil, weil du den Brunnen gefunden hast«, sage ich. Erneut hebe ich das Futteral an und diesmal gleitet ein tropfenförmiges Fläschchen in meine Hand. Jetzt leuchten auch meine Augen.

»Ist das die Phiole, die Vihan dir in Sijilmasa gegeben hat?«, fragt Tarek gespannt und wischt sich den Schweiß von der zerschrammten Stirn.

»Ja!« Ich halte das Glasfläschchen in die Sonne und bewundere seinen Glanz. Wir haben es geschafft! Hier ist sie, die letzte Phiole des kostbaren Seelensilbers! Jetzt müssen wir nur noch Tanas dazu bringen, es zu schlucken, und dann …

Ich schüttele die Phiole leicht. Und als sich darin nicht das Geringste bewegt, verpufft meine Aufregung in einem furchtbaren Schreck. »Das glaube ich einfach nicht …«, flüstere ich. »Sie ist leer!«

Tarek nimmt mir das Fläschchen ab und zieht den Stopfen heraus. »Sieht aus, als wäre der Verschluss nicht luftdicht gewesen. Das Seelensilber muss sich über die Jahrhunderte verflüchtigt haben.«

Innerlich fühle ich mich so trocken und leer wie das Fläschchen. Unsere Mission ist wieder einmal gescheitert.

Einen schrecklichen Moment lang sagt niemand etwas, dann wirft Jude ihren Spaten beiseite und flucht. »Warum haben wir immer Pech!«

Mei steckt das Goldnugget ein und starrt uns an. »Also, was machen wir jetzt?«

Ich lasse mich neben der Moschee nieder, die Hitze der Wüste hämmert auf mich ein. Ich habe keine Ahnung, was ich ihnen sagen soll. Ohne das Seelensilber können wir Tanas’ Seele nicht von ihrem Körper trennen. Es gibt keine Möglichkeit, das Ritual zu vollenden.

»Ist vielleicht noch etwas anderes in dem Futteral? Vielleicht noch ein Fläschchen?«, fragt Prisha.

Ich schüttele das Lederröhrchen erneut und höre etwas klappern. Meine Hoffnung steigt. Ich klopfe fest auf das Ende und ein großer Salzkristall fällt auf den Boden.

»Oh«, sagt Prisha in einem Tonfall, der genauso deprimiert klingt, wie ich mich jetzt fühle. »Nicht ganz das Erhoffte.«

Stirnrunzelnd hebe ich den Kristall auf. Auch ich hatte mir etwas anderes erwartet …

Aus der flirrenden Hitze tauchen die schwarz gekleideten Banditen auf und kommen immer näher, scheinen über den ausgetrockneten Salzsee auf uns zuzuschweben. Der Zauberer Makoud führt die Karawane an, das Tempo seines Kamels ist gleichmäßig, aber nicht eilig. Er weiß, dass wir zu schwach sind, um zu fliehen, und dass es sowieso keinen Ausweg für uns gibt.

Während wir zusammengesunken im spärlichen Schatten der Moschee auf unser Schicksal warten, umschwirren uns die Fliegen, als wären wir bereits tot. Zaghaft strecke ich meinen Arm aus und ergreife Amastans Hand, um ihn zu trösten.

»Wir können stolz auf uns sein, dass wir so weit gekommen sind«, krächze ich mit rauer, ausgedörrter Kehle.

»Unsere gemeinsame Reise ist noch nicht zu Ende, Sura«, widerspricht mir Amastan. Dann verstummt er, seine Augen schließen sich und sein Griff um meine Hand lockert sich.

»Amastan?«, flüstere ich, aber ich bekomme keine Antwort.

Als sie Taghaza erreichen, steigen Makoud und seine Banditen neben dem Brunnen ab. Einer der Seelenjäger kommt auf uns zu und kniet neben Amastans leblosem Körper nieder.

»Meister, wir kommen zu spät«, ruft er Makoud zu. »Die Wüste hat ihn geholt!«

Plötzlich öffnen sich Amastans sternenklare Augen, er zieht seinen Telek-Dolch aus dem Ärmel seines indigoblauen Gewandes und stößt ihn in den Hals des Jägers. Dann, als wäre er von den Toten auferstanden, stürzt sich Amastan auf die anderen Banditen. In einem Wirbel aus Klingen und blauen Gewändern gelingt es ihm, drei weitere zu erledigen. In seinem Willen, mich zu verteidigen, überwindet er seinen geschwächten Zustand, bevor die beiden verbleibenden Jäger ihn mit ihren Schwertern niederstrecken.

»Nein!«, schreie ich, als mein Beschützer taumelnd zurückweicht, tödlich verwundet. Er holt mit einem letzten, wilden Dolchschwung nach Makoud aus, doch der Zauberer versetzt ihm einen unbarmherzigen Tritt. Amastan stolpert zum Brunnen, schwankt am Rand und stürzt mit einem letzten verzweifelten Blick in meine Richtung in die Tiefe.

»Trink nicht das ganze Wasser«, murmelt Makoud gehässig.

Nachdem er meinen Seelenbeschützer beseitigt hat, wendet Makoud seine Aufmerksamkeit mir zu. Er sieht, dass ich mich an der Grenze zwischen Leben und Tod befinde, und beginnt sofort mit seinem Ritual. Er kniet sich neben mich in den Schatten, zieht eine gebogene grüne Klinge aus reiner Jade aus seinem Gürtel und beginnt zu singen: »Rura, rkumaa, raar ard ruhrd, Qmourar ruq rouhk ur darchraqq …«

Während ich schwach und hilflos daliege, spüre ich etwas Hartes in meiner Handfläche. Es ist ein großer Salzkristall, den ich vor Makouds Ankunft aufgesammelt hatte. Mit letzter Kraft hebe ich meinen Arm und schlage den Kristall in Ma kouds Gesicht. Ich bin zu schwach, um ihn mit voller Wucht zu treffen, aber er schreit, als hätte ich ihn mit einem Brenneisen geschlagen. Er lässt das Messer fallen und taumelt davon.

Der scharfe Geruch nach verbranntem Fleisch weht durch die trockene Wüstenluft.

Makoud taumelt zu seinem Kamel, holt einen Wassersack aus der Satteltasche und gießt sich das Wasser über den Kopf, ohne darauf zu achten, wie viel er verschüttet. Während er sich an das Kamel lehnt, um sich zu erholen, spüre ich, wie meine Kräfte schwinden, mein Herzschlag sich verlangsamt und das Atmen immer beschwerlicher wird.

Nachdem das Wasser seinen Schmerz zwar gelindert, aber seine Wunde seinen Zorn noch gesteigert hat, stolziert Ma koud wieder zu mir herüber. Auf seiner rechten Wange, wo das Salz seine Haut verbrannt hat, prangt jetzt eine bösartige rote Schwellung.

»Dafür wirst du büßen«, verspricht er und zückt das Jademesser.

Mein Angriff hat Makoud zwar nicht endgültig von seinem Ritual abgehalten, aber die Verzögerung hat mir wertvolle Zeit verschafft.

»Nicht in diesem Leben…«, krächze ich und bringe ein schwaches Lächeln zustande, als ich meinen letzten Atemzug ausstoße und entschwinde …

»Das Salz schadet Tanas!«, rufe ich aus und starre erstaunt auf den Kristall in meiner Hand. »Ich erinnere mich jetzt, dass ich es schon einmal benutzt habe, um sie zu verbrennen. Vielleicht hat es sogar Tanas’ Kräfte geschwächt.«

»Das ergibt Sinn«, sagt Prisha. »Salz soll angeblich negative Energie absorbieren. Traditionell wird es in der Magie zur Reinigung und zum Schutz verwendet.«

»Wenn das so ist, dann sollten wir etwas davon zu unserem Schutz mitnehmen«, sagt Tarek, schiebt die leere Phiole in eine Seitentasche seines Rucksacks und hebt einen Salzsplitter vom Boden auf. »Wir werden es brauchen, wenn wir das Ritual nicht durchführen können.«

Jude tritt ein Stück von einer Salzziegelmauer los. »Meinst du, wir können damit Tanas’ Lenken der Dunkelheit entgegenwirken?«

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, antworte ich.

Unter der sengenden Sonne schuften wir wie die Taghaza-Bergleute früher, sammeln so viele Salzkristalle wie möglich ein und verstauen sie in Tareks Rucksack. Sobald der Rucksack voll ist, nehmen wir uns einen Moment Zeit, um Amastans sterblichen Resten im Brunnen die letzte Ehre zu erweisen, bevor wir zum Jet zurückkehren.

Der Rückweg ist langsam und beschwerlich, da wir abwechselnd den Rucksack schleppen müssen. Verschwitzt und durstig sind wir gerade auf halbem Weg über die Salzebene, als ich eine Vorahnung erfahre. Ich bleibe stehen und starre in den Hitzedunst.

»Was ist los?«, fragt Jude alarmiert.

»Siehst du sie nicht?«, frage ich und zeige in die Ferne. »Die Fata Morgana.«

Am Horizont schimmert eine Stadt mit Türmen und Kuppeln, hohen Pinien und etwas, das wie die Ruinen eines riesigen Kolosseums aussieht. Sie verschwindet immer wieder, um kurz darauf erneut aufzutauchen.

Jude schüttelt den Kopf. »Ich sehe nur den Jet.«

Das Bild wird plötzlich schärfer. Ich erkenne ein Straßenlabyrinth und darin zwei Gestalten – eine groß und humpelnd, die andere klein und langsam –, die sich auf die Ruine zubewegen, offenbar auf der Flucht vor mehreren dunklen Gestalten, die sie verfolgen.

»Dann ist es keine Fata Morgana, wenn nur ich es sehe«, erwidere ich, spüre einen Anflug von Panik und beginne zu rennen. »Tanas ist Goggins und Viviana dicht auf den Fersen.«