Tausende und Abertausende von Zuschauern gieren nach unserem Blut, ihr Hunger nach Gewalt wird nur noch von der Heftigkeit der Kämpfe in der Arena übertroffen. Kaiser Commodus verfolgt von seiner Loge am Nordende, wie wir in die Mitte des Kolosseums geführt werden.
Ich stehe zwischen meinen christlichen Glaubensbrüdern und -schwestern und zittere vor Angst. Gekleidet in ein einfaches weißes Gewand, bin ich unbewaffnet und genauso wehrlos wie meine Glaubensgenossen. In der Nähe liegt die Leiche eines Gladiators, Opfer eines früheren Kampfes. Um ihn herum befleckt Blut den Sand in dunkelroten Lachen. Die Luft riecht nach Schweiß und Angst.
Der Kaiser hebt eine Hand und die Menge verstummt. Dann lässt er seinen Arm fallen, die Gruben öffnen sich, und die Bestien werden freigelassen. Unser Priester, Pater Lucius, hält ein kleines Holzkreuz in die Höhe und beginnt, das Gebet des Herrn zu sprechen, um jeden von uns zu segnen und uns darauf vorzubereiten, unserem Schöpfer zu begegnen. Als die Tiger auf uns zustürmen, verlieren zwei aus unserer Gruppe die Nerven und fliehen. Sie rennen zu dem vergitterten Tor, durch das wir gekommen sind, aber das lockt die hungrigen Tiere nur an. Sie stürzen sich auf ihre Beute.
Ich schließe die Augen, höre aber weiter das wilde Knurren der Tiger und die gequälten Schreie der Männer, zumindest so lange, bis sie vom Jubel und Gejohle der Menge übertönt werden. Ich lasse mich auf die Knie fallen und bete um einen schnellen Tod. Das Gebrüll der Menge wird lauter, Lachen mischt sich mit Spott und Pfiffen.
Dann geht das frenetische Geschrei allmählich in ein gelangweiltes und abfälliges Stöhnen über. Ich spüre eine Hand, die mich leicht an der Schulter berührt, und öffne die Augen. Vor mir steht Pater Lucius. »Gott hat uns verschont, Laetitia«, sagt er.
Ungläubig blicke ich um mich. Die Hälfte meiner christlichen Gefährten wurde in Stücke gerissen, aber da der Appetit der Tiger nun gestillt ist, zeigen die Tiere wenig Interesse an den Überlebenden.
Die Menge buht und johlt, unzufrieden über unsere Errettung. Dann öffnet sich ein Tor und ein gepanzerter Kämpfer schreitet in die Arena. Die Zuschauer beginnen zu jubeln, als sie den Gladiator mit der Goldmaske erkennen: Titus – der amtierende Champion des Kolosseums.
Die Farbe weicht aus Pater Lucius’ Gesicht. Mit zitternder Hand erhebt er sein Holzkreuz. »Möge dieses gesegnete Kreuz und die darin enthaltene Reliquie unsere Seelen beschützen.«
Barfuß, das Kreuz wie einen Schild vor sich haltend, geht Pater Lucius auf den herannahenden Gladiator zu. Ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, durchbohrt Titus seelenruhig den wehrlosen Körper des Priesters mit seinem Schwert. Der Priester sinkt zu Boden und der Gladiator stampft das Holzkreuz in den blutgetränkten Sand.
Die brutale Ermordung unseres geliebten Anführers im Glauben versetzt die Überreste seiner Herde in blinde Panik. Eine Frau will zum offenen Tor stürmen. Titus streckt sie nieder, bevor sie auch nur einen Schritt getan hat. Eine andere fleht um Gnade und wird mit einem Stich ins Herz belohnt. Weitere fallen weinend auf die Knie, die Hände zum Gebet gefaltet. Der furchterregende Gladiator enthauptet sie einen nach dem anderen unter dem begeisterten Beifall der Menge.
Irgendwoher erwächst in mir eine verborgene Kraft, die mich zum Handeln drängt. Als Titus nach meinem Kopf ausholt, reiße ich den Schild des toten Gladiators vom Boden auf und wehre sein Schwert ab. Das Klirren von Stahl hallt laut durch die Arena und die Menge staunt über meine Kühnheit.
Titus ist verblüfft und schlägt erneut zu. Ich halte meinen Schild hoch und knicke unter dem schweren Schlag ein, als die Klinge abprallt. Der Gladiator brüllt vor Wut und holt ein drittes Mal mit seiner Waffe aus. Ich rolle aus dem Weg und hebe dabei ein weggeworfenes Schwert auf. Instinktiv scheine ich zu wissen, wie man kämpft, als hätte ich das schon in einem früheren Leben getan.
Ich wehre die Angriffe des Gladiators ab und erwidere seine Hiebe und Stöße. Die Stimmung im Publikum wendet sich zu meinen Gunsten, man jubelt mir bei jedem meiner Schläge zu. Der überraschte Titus ist gezwungen, sich zurückzuziehen. Es gelingt mir sogar, einen Treffer zu landen und ihm eine Wunde zuzufügen. Die Menge bricht in Jubel aus. Doch dann trickst Titus mich mit einer Finte aus, und ich spüre, wie seine Klinge sich in meine Seite bohrt. Keuchend und vor Schmerz zuckend falle ich auf den Boden.
Titus steht mit erhobenem Schwert über mir, begierig darauf, seine Würde wiederherzustellen. Er starrt mich durch seine Maske an, seine Augen scheinen sich zu teerschwarzen Löchern zu verdichten, und in seinem grimmigen Blick liegt ein Flackern des Wiedererkennens. Er senkt sein Schwert, und einen Moment lang glaube ich, er lässt Gnade walten. Dann packt er mich am Kragen meines Gewandes. »Du bist ein Fall für den Kaiser persönlich«, knurrt er.
Schwer verwundet zapple ich in Titus’ hartem Griff, als er mich in Richtung der nördlichen Loge schleift und vor dem Kaiser ablädt.
»Heil, Commodus«, ruft Titus und hebt eine Faust zum Gruß. »Wie lautet dein Urteil über die Seele dieses Ersten Nachkommen?«
Von seiner Loge aus blickt der Kaiser auf mich herab, seine Augen sind dunkel und verächtlich. Er streckt die Faust aus und zeigt mit dem Daumen nach unten, sehr zur Freude der Menge. In der Arena klappt eine Falltür auf und eine Löwin springt heraus. Sie hat es auf mich abgesehen, da bin ich mir sicher, aber zu meiner Überraschung stürzt sich das Tier sofort auf Titus. Er versucht, sie abzuwehren, aber sein Schwertarm gerät in ihr Maul, und er stürzt unter dem Gewicht des Tieres zu Boden.
Während Titus mit der mächtigen Löwin ringt, erscheint ein junger Tierbändiger aus der Grube. Er eilt zu mir herüber. »Kannst du aufstehen?«
Ich nicke schwach und umklammere meine blutende Flanke. Als er mir auf die Beine hilft, bemerke ich, dass die Augen des Jungen wie Sternenlicht glänzen. »Wer bist du?«, frage ich.
»Dein Guardian«, antwortet er. Er blickt zu einem Tor, durch das mehrere Soldaten herausstürmen. »Keine Zeit für Erklärungen. Nefe, komm!«
Die Löwin lässt den Gladiator los, der reglos auf dem blutbespritzten Sand liegt. Die Raubkatze folgt uns gehorsam, als wir zur Falltür und dem darunterliegenden Tunnel gehen. Die Menge, die durch die plötzliche Wendung der Ereignisse in helle Aufregung versetzt wurde, feuert uns an, während die Soldaten uns verfolgen. Auf dem Weg entdecke ich das Holzkreuz von Pater Lucius und schnappe es mir. Es ist in zwei Hälften zerbro chen und enthüllt nun den Glanz der Reliquie im Inneren …
Ich spüre ein Zupfen an meinem Ellbogen und kehre in die Gegenwart zurück.
»Genna! Wir müssen verschwinden«, drängt Tarek.
Mei und Prisha haben sich aneinandergekuschelt, die Augen wachsam auf die verdunkelten Torbögen des Kolosseums gerichtet.
Jude kniet immer noch neben Goggins’ Leiche, ihr Gesicht ist jetzt nicht mehr von Trauer gezeichnet, sondern eine Maske rachedurstiger Entschlossenheit. »Hast du eine Ahnung, wo sie Viviana hingebracht haben?«, fragt sie.
Noch etwas verwirrt von meinem Schimmer, schließe ich die Augen und versuche, das Licht zu erspüren. Vivianas Präsenz ist schwach, als ob sie sich zurückzieht oder – schlimmer noch – stirbt. Dann sehe ich plötzlich …
… antike Steinstufen, Marmorsäulen und einen Kreis von vermummten Hohepriestern in einem alten korinthischen Tempel.
»Sie ist in der Nähe.« Ich versuche, den Ort zu lokalisieren, als ein unerträglicher Schmerz mein Herz durchbohrt. Ich keuche und halte mich an Tareks Arm fest. Die Qualen sind kurz, brutal und endgültig. Die Scheinwerfer rund um das Kolosseum flackern und erlöschen, sodass wir in Dunkelheit getaucht werden. Ich sinke auf die Knie, meine Energie ist plötzlich aufgebraucht. Ich fühle mich kalt und ausgehöhlt und stoße einen erschütterten Seufzer aus. »Viviana ist tot!«
»Was? Nein!«, schreit Tarek.
»Tanas hat ihre Seele genommen.«
»Das kann nicht wahr sein«, fleht er. »Nicht Viviana!«
Als die Lichter rund um das Kolosseum zögerlich wieder angehen, läuft Tarek wie benommen zur Absperrung des Podests und klammert sich an die Reling, als befände er sich auf einem im Sturm schwankenden Schiffsdeck. Mei geht zu ihm und tröstet ihn.
Auch ich fühle mich seltsam aus dem Gleichgewicht gebracht, so als wäre das Licht der Menschheit kurz vor dem endgültigen Verlöschen. Von allen Ersten Nachkommen war Viviana vielleicht diejenige, der ich mich am nächsten fühlte. Mit ihrer weisen und ruhigen Ausstrahlung war sie diejenige, die mich am besten verstand, mich verteidigte und tröstete. Sie war das eine Licht, von dem ich hoffte, es würde nie erlöschen.
Prisha legt einen Arm um mich. »Oh, Genna … Es tut mir so leid wegen deines Verlusts.«
»Unser Verlust«, antworte ich mit einem unterdrückten Schluchzen. »Ohne Vivianas Seele gibt es nur noch vier Nachkommen, die das Licht der Menschheit tragen. Thabisa, Kagiso, Tasha … und ich.«
»Dann haben wir keinen Grund mehr, hierzubleiben«, sagt Jude, legt ein letztes Mal ihre Hand auf Goggins’ breite Brust und steht auf. »Wir sollten los, bevor die Jäger sich neu formieren und zurückkehren.«
»Wir können noch nicht gehen«, sage ich.
Jude sieht mich an. »Und warum nicht?«
»Weil ich zu wissen glaube, wo eine weitere Phiole mit Seelensilber versteckt ist.«