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Wir stehen schweigend um den steinernen Monolithen und spüren die Gegenwart des Todes. Die Stimmen längst verstorbener Geister scheinen in den Bäumen zu flüstern und trotz der großen Hitze des Dschungels liegt eine unnatürliche Kälte in der Luft. Als wir das uralte Monument und den Opferaltar genauer betrachten, bemerke ich etwas Merkwürdiges an dem gemeißelten Gesicht. Wenn ich es nicht direkt ansehe, scheinen seine Züge lebendig zu werden. Der Mund verzieht sich zu einem teuflischen Grinsen und der Blick verengt sich wie in böswilliger Absicht. Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, ist das Gesicht wieder wie versteinert, und die viereckigen Augen starren mich ausdruckslos an. Ich bemerke, wie Nefe vorsichtig Abstand hält. Sie miaut klagend weit vom Rand der Grube entfernt, ihr sechster Sinn scheint sie zu warnen – und ich kann es ihr nicht verdenken.

»Verteilen wir uns«, weise ich die anderen an und schüttle das ungute Gefühl ab. »Seht nach, ob wir noch andere Relikte finden, die zu der Obsidianklinge führen könnten.«

Wir setzen unsere Rucksäcke ab und beginnen, die Gegend abzusuchen. Jeder der archäologischen Gräben ist mit einem kleinen Holzpfosten markiert, auf den eine Zahl und ein Buchstabe gemalt sind. In einer Ecke des Geländes befinden sich die Überreste eines Lagers, in einer anderen ein großer Haufen aufgeschütteter Erde. Der Dschungel rückt von allen Seiten heran und bildet eine dichte Mauer aus Lianen, Büschen und Bäumen.

Bei unserer ersten Erkundung der Lichtung finden wir kaum mehr als ein paar Steinfragmente und eine kleine Sammlung menschlicher Knochen, die bei der letzten archäologischen Ausgrabung zutage gefördert wurden.

»Die Harringtons haben diesen Ort monatelang abgesucht«, sagt Pablo, der am Rand eines Grabens sitzt und eine handgedrehte Zigarette raucht. »Ich versichere euch, dass es hier nichts Bedeutendes mehr zu finden gibt.«

»Sie müssen etwas übersehen haben«, behaupte ich. »Vihan war der festen Überzeugung, dass sich die Obsidianklinge in diesem Gebiet befindet.« Ich ziehe die ausgedruckte Kopie der Schatzkarte des Gurus heraus und lege sie auf den Boden. »Seht ihr! Der Vulkan hier stimmt mit dem Diablofuego überein. Und der Bergrücken im Westen muss dieser hier sein«, ich zeige auf eine gezackte Linie auf dem Papier. Dann lege ich meinen Finger in die Mitte der Karte. »Diese Pyramide markiert den Ort, an dem sich die verlorene Stadt befindet.«

Pablo blinzelt durch einen Rauchschleier auf die Karte. »Das mag sein, aber ich kenne keine Pyramide in dieser Gegend. Außerdem ist das hier ein sehr großer Dschungel. Schon eine kleine Fehleinschätzung könnte uns kilometerweit vom Weg abbringen.«

»Gibt es keine Möglichkeit, die Suche einzugrenzen?«, frage ich.

Pablo zieht nachdenklich an seiner Zigarette, bevor er den Stummel in den Graben wirft. »Vielleicht«, brummt er. Er kramt in seinem Segeltuchrucksack und holt einen Kompass und eine zerfledderte geologische Karte heraus. Er richtet seine Karte aus und vergleicht sie mit der Schatzkarte, dann peilt er jede der Landmarken an und zeichnet zwei Linien auf seine Karte. »Wir brauchen eine dritte Markierung, um den genauen Standort zu triangulieren.«

»Was ist damit?«, fragt Tarek und deutet auf einen Fluss, der auf der Schatzkarte eingezeichnet ist.

Er schüttelt den Kopf. »Zu ungenau, um eine Peilung vorzunehmen.«

»Und was ist mit diesem See?«, frage ich und deute auf eine ovale Wasserfläche.

Pablo runzelt die Stirn. »Der muss vor langer Zeit ausgetrocknet sein. Auf meiner Karte ist er nicht verzeichnet, und soweit ich weiß, existiert er auch nicht mehr.« Er legt seinen Kompass beiseite. »Ohne eine dritte definitive geografische Besonderheit habe ich nicht viel Hoffnung, diese Stadt zu finden. Wenn es eine versunkene Stadt ist, dann ist sie offenbar wirklich versunken.«

Ich seufze und falte die Schatzkarte von Vihan zusammen. »Wir sind schon so weit gekommen, wir können jetzt nicht aufgeben.« Ich schaue auf meine Uhr und sehe, dass die Zeit unaufhaltsam verrinnt. Ich wende mich an die anderen, die die Gelegenheit genutzt haben, um sich auszuruhen und etwas Wasser zu trinken. »Wir müssen noch einmal alles absuchen.«

Als wir das Gelände ein zweites Mal gründlich durchkämmen, während das Tageslicht schwindet, spüre ich, wie der steinerne Blick der Säule jede unserer Bewegungen verfolgt, als würde sie uns bei der Suche nach der Obsidianklinge verspotten. Und doch spüre ich, dass wir ganz nah dran sind. Ich bin mir sogar sicher, dass das der Grund ist, warum uns das Gesicht so sehr verhöhnt. Es weiß, dass die Klinge zum Greifen nahe ist.

Nach einer dritten erfolglosen Suche beschließen wir, unser Suchgebiet über die Grenzen der Lichtung hinaus auszudehnen. Wir teilen uns in Paare auf. Tarek geht mit Pablo in Richtung des Vulkans, Prisha mit Mei in die entgegengesetzte Richtung, und Jude und ich versuchen es im Westen in Richtung der frühen Abendsonne, die jetzt unter den Kamm sinkt. Als wir die Dschungelgrenze erreichen, wird mir schwindelig, und ich frage mich, ob ich dehydriert bin. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Flasche. Aber der Schwindel lässt nicht nach. Ich höre das Geräusch von rauschendem Wasser. Ich hätte nicht gedacht, dass der Fluss so nah ist …

Ich drücke Kagiso an mich, als man uns auf den Felsvorsprung über dem tosenden Wasserfall schubst. Die Luft ist so nebelverhangen, dass sie wie Rauch wirkt. Weit unten ist der Sambesi zu einem weißen, sich windenden Ungetüm aufgewühlt, aus dem zerklüftete Felsen wie Schiffswracks ragen. Im seichten Wasser und an den Ufern sehe ich Krokodile, die sich in der heißen afrikanischen Sonne sonnen und ihre Kiefer mit den spitzen Zähnen weit aufreißen.

»Nicht Kagiso«, flehe ich. »Verschont seine Seele!«

Aber die Hohepriester ignorieren mich, während sie unsere Körper fest zusammenbinden und uns mit Steinen beschweren. Inmitten des Dunstes und des Rauschens des Wasserfalls höre ich, wie Tanas mit ihrem Ritual beginnt.

Ich stehe zitternd und ängstlich da, Kagiso weinend in meinen Armen.

Die Beschwörung endet und einen Moment lang ist nur das Donnern des Wasserfalls zu hören. Dann werden wir gewaltsam über die Kante gestoßen. Wir stürzen nach unten, bis wir auf dem Fluss aufschlagen und der brutale Aufprall mir die Luft aus den Lungen presst. Von den aufgewühlten Wellen in die Tiefe gerissen, verstummen Kagisos Schreie, und ich schnappe nach Luft, nur um kaltes, erstickendes Wasser zu schlucken. Ich kriege keine Luft mehr! Ich kriege keine …

»Genna! Genna!«

Ich öffne die Augen und sehe, dass ich in einem der Gräben liege und mit Armen und Beinen um mich schlage.

Jude kniet neben mir und versucht, meine Glieder zu bändigen. »Beruhige dich! Du bist hineingefallen. Bist du verletzt?«

»Mir geht’s gut«, antworte ich benommen und höre auf zu strampeln. Langsam setze ich mich auf und nehme mir eine Minute Zeit, um die willkommene warme Dschungelluft einzuatmen und darauf zu warten, dass der schmerzhafte Druck in meiner Lunge nachlässt.

Prisha und Mei eilen herbei. Auch Tarek und Pablo erscheinen ein paar Sekunden später auf der anderen Seite des Grabens.

»Was ist passiert?«, fragt Mei, als Jude und ich aus dem Graben gezogen werden. »Seid ihr gestolpert, oder so?«

»N-nein«, antworte ich, immer noch zitternd von dem Erlebnis. »Ich hatte eine Seelenverbindung.« Ich schaue zu Pablo hinüber und kämpfe darum, meine Fassung zu bewahren. »Würden Sie uns bitte einen Moment allein lassen?«

»Sicher«, sagt er achselzuckend. »Ich werde drüben beim Altar warten.«

Sobald unser Führer außer Hörweite ist, lasse ich die Tränen frei über mein Gesicht strömen. »Thabisa und Kagiso sind gerade geopfert worden. Sie wurden von den Victoriafällen gestürzt!«

Tareks Augen weiten sich vor Entsetzen. »NEIN !«, schreit er und sinkt auf die Knie. Er ballt seine Hände zu Fäusten und hämmert auf die Erde ein. »Nein! Nein! Nein!«

»Kagiso ist tot?«, fragt Mei ungläubig. »Willst du damit sagen, Tanas hat ein Baby getötet?«

Ich nicke grimmig und mir wird schlecht bei dem Gedanken. »Sie ist die Inkarnation des Bösen.«

»Ich hätte die beiden nie verlassen dürfen«, jammert Tarek. »Sie waren zu verletzlich. Es ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld …«

»Tarek, sag so etwas nicht. Es ist nicht deine Schuld«, beruhigt ihn Jude und legt ihm eine Hand auf die Schulter.

Er stößt sie weg. »Aber ich habe sie im Stich gelassen!«, schreit er. »Ich habe sie verlassen. Und wofür? Wegen einer verrückten Suche nach Seelengefäßen. Und wo hat uns das hingebracht? Wir hocken hier in einem Dschungel in der Mitte von Nirgendwo!«

Ich wende mich ihm zu und wische mir die Tränen aus den Augen, entschlossener denn je. »Aber das ist die einzige Möglichkeit, Tanas’ Seele zu zerstören. Der einzige Weg, um Gerechtigkeit für ihren Tod zu erlangen«, erinnere ich ihn. »Sobald wir die Obsidianklinge haben …«

»Welche Klinge? Wo ist sie? Siehst du sie?«, schreit Tarek mich an. »Kapier es endlich, Genna – sie ist nicht hier! Sie ist verloren. Für immer. Wir haben keine Chance, Tanas zu zerstören. Diese Suche war von Anfang an eine Schnapsidee. Warum bin ich überhaupt mitgekommen? Ich habe in meiner Pflicht versagt, Thabisas und Kagisos Seelen zu schützen … und jetzt sind sie für immer verloren!«

Er schluchzt laut. Ich kann seinen Schmerz nachempfinden, roh und wütend in meiner Magengrube. Auch auf meinem Herzen lastet die Schuld, weil ich ihn von den beiden Seelen, die zu schützen er geschworen hat, weggeholt habe. Vielleicht hat Tarek recht , denke ich. Ich habe ihnen allen falsche Hoffnungen gemacht – eine Illusion, die möglicherweise so sinnentleert und nutzlos ist wie die Seelenprophezeiung selbst. Anstatt Seelengefäße zu suchen, hätten wir uns vor Tanas’ Jägern verstecken sollen, um das Licht zu bewahren. Als Ergebnis meiner leichtsinnigen Suche gibt es jetzt nur noch zwei von uns auf der ganzen Welt – mich und Tasha, irgendwo in Sibirien –, die letzten Ersten Nachkommen, die noch das Licht der Menschheit in sich tragen. Verzweiflung überkommt mich, und ich wünsche mir, der Boden würde mich verschlucken. Der Himmel über mir erscheint dunkler als je zuvor, und ich spüre das Licht schwinden wie eine flackernde Kerze im Wind. Der Verlust von zwei weiteren Nachkommen – einer davon noch ein Baby – scheint mehr, als die Welt ertragen zu kann.

Plötzlich ertönt eine ohrenbetäubende Explosion. Der Boden bebt. Die Bäume wackeln. Vögel krächzen alarmiert und ergreifen die Flucht.

Drüben beim Altar weiten sich Pablos Augen und die Zigarette fällt ihm aus dem Mund.

Eine weitere Detonation erschüttert den Dschungel. Die Erde unter unseren Füßen wölbt sich und wirft uns zu Boden. Um uns herum beginnen Bäume mit ohrenbetäubendem Knarren umzustürzen. Der Vulkan brüllt erneut, spuckt diesmal Rauch und Asche, die schwarze Wolken in den Himmel treiben und die Sonne verdunkeln.

»Was ist los?«, schreit Prisha.

»Diablofuego erwacht!«, schreit Pablo und geht hinter dem Steinmonolithen in Deckung.

Durch den Ausbruch des Vulkans verursacht, schlängelt sich ein großer Riss in der Erde durch die Lichtung und öffnet einen riesigen Spalt im Dschungel vor uns. Erde, Bäume und Sträucher stürzen in den Abgrund. Wir klammern uns aneinander, während der Boden um uns herum birst.

»Tanas’ Macht über die Welt wird immer stärker«, brüllt Tarek über das donnernde Tosen des Vulkans hinweg.

Ich tausche einen entsetzten Blick mit Mei und ergreife ihre Hand, weil ich befürchte, dass dies das Ende ist – und der Beginn von Tanas’ Herrschaft der Finsternis.