56

Tanas kehrt mit der Schale mit Blut zurück. Ich liege regungslos auf dem Altar, überwältigt von Damiens Enthüllung. Mein Erzfeind – der Seelenjäger, der mich über mehrere Leben hinweg verfolgt hat und mich allein in diesem Leben zweimal zu opfern versuchte …

Er hat mich einmal geliebt?

Und dann denke ich: Wie konnte diese unerwiderte Liebe in solchen Hass umschlagen?

Ich versuche zu ergründen, wie sich seine Liebe in den unerbittlichen Wunsch, mich und meine Seele und damit das Licht der Menschheit zu zerstören, verwandeln konnte. Aber ich bin ratlos. Die Liebe, die ich für Phoenix empfinde, besteht aus reinem Licht. Wie konnte Damiens Liebe so bitter und verdreht, so finster werden?

»Ich weiß nicht, wie es dir geht, Genna, aber ich habe ein starkes Gefühl von Déjà-vu«, erklärt Tanas im Plauderton. Ein Grinsen umspielt ihre von Salz vernarbten Lippen, während sie den widerwärtigen Inhalt der Schale umrührt. »Ich habe so ein Gefühl, wir waren schon einmal hier und haben all das schon einmal getan – oh ja, das haben wir!«, fügt sie hinzu, dann verzieht sich ihr Grinsen zu einer finsteren Grimasse. »Nur dass es dieses Mal keinen Guardian gibt, der dich rettet, weswegen deine Seele endgültig ausgelöscht wird.«

Sie packt mein Haar mit der Klaue ihrer linken Hand und hebt meinen Kopf vom Altar, woraufhin ich vor Schmerz zusammenzucke. »Dein armseliger Ritualversuch ist gescheitert. Nur ich habe die Macht, Seelen auf ewig zu verbannen. Jetzt zeige ich dir, wie es wirklich geht.« Sie setzt die Schale an meine Lippen und spricht einen teuflischen Fluch aus: »Ruq haq maar farad ur rouhk ta obesesh!«

Ich spucke und würge, als sie mir die warme, bittere Flüssigkeit gewaltsam einflößt. Sie brennt in meinem Mund und Magen, und ich spüre, wie ihr Gift in meine Glieder sickert.

Sie stellt die Schale beiseite und wendet sich an ihre schwarzäugigen Gefolgsleute.

»Meine treuen und geduldigen Untertanen«, verkündet sie über das donnernde Tosen des Vulkans hinweg. »In dieser Nacht wird das letzte Licht ausgelöscht. Diese Nacht wird ewig sein. In dieser Nacht beginnt meine Herrschaft der Finsternis!«

Die Hohepriester und Jäger brüllen ihre Zustimmung und klingen dabei wie ein Rudel gefräßiger Wölfe.

Der Vulkan rumpelt, spuckt noch mehr geschmolzenes Gestein aus und schickt rote Flüsse seine geschwärzten Hänge hinunter.

»Nein! Die Sonne wird immer wieder aufgehen!«, beharre ich, selbst als meine Glieder schwer werden und die Verbindung meiner Seele zu meinem Körper immer schwächer wird. Verzweifelt versuche ich, einen Lichtstoß zu beschwören, aber der rituelle Trank scheint meine Auren zu trüben und meine Fähigkeit, das Licht zu lenken, zu blockieren.

Tanas richtet ihren dunklen Blick auf mich. »Oh, wirklich?«

Ich starre sie trotzig an. »Selbst wenn du mich opferst, wird das Licht weiter leuchten.«

Tanas lacht. »Arme Genna. Ich glaube, da irrst du dich gewaltig.«

Sie schnippt mit den Fingern, woraufhin Pablo oben auf der Treppe auftaucht und ein junges Mädchen in das flackernde Licht der Fackeln zerrt. Ihr eisblondes Haar ist zerzaust, ihre Kleidung zerrissen und mit Blut und Schmutz verschmiert. Ihre leuchtend blauen Augen quellen ängstlich hervor. Sie umklammert ein Spielzeugkaninchen, Coco, einst mein heiß geliebtes Kuscheltier aus Kindertagen, das jetzt zerrissen ist und dem ein Ohr fehlt.

»Tasha!«, rufe ich. Sie ist – war – die letzte Hoffnung für das Licht. Die Seelenüberlebende, auf die ich zählte, falls ich sterben sollte.

»Genna!«, schluchzt sie leise. »Sie haben Steinar getötet.«

»Was?«, keucht Jude. Ihr Gesicht wird leichenblass, sie scheint nicht fassen zu können, dass der riesige norwegische Seelenkrieger irgendwie besiegt worden sein soll. Wütend stürzt sie sich auf Blondie und verpasst ihm einen Kopfstoß gegen das Kinn. Während er verdutzt zurücktaumelt, kämpft sich Tarek auf die Beine und versucht, Jude im Kampf zu unterstützen. Aber mit gefesselten Händen sind beide leicht zu überwältigen und werden von Schlagrings bewährten Fäusten brutal auf die Knie gezwungen.

»Noch eine Bewegung, und ich trete den hübschen Jungen hier in die Lavagrube«, warnt Schlagring Jude.

Jude unterlässt sofort jede Gegenwehr, und Tarek verharrt bewegungslos, während Pablo Tasha zur Öffnung der Lavagrube schleppt.

»Willst du, dass ich sie auch hineinwerfe?«, fragt er eifrig.

Tasha rutscht mit den Füßen auf dem Rand aus, schreit auf und lässt Coco los. Das kleine Schlappohrhäschen stürzt in den Abgrund und verschwindet in den Rauchschwaden. Als ich mir vorstelle, wie es zu Asche verbrennt, fürchte ich um Tasha und meine Freunde und das grausame Schicksal, das sie erwartet. Aber ich habe keine Chance, etwas dagegen zu unternehmen. Da meine Glieder durch das Ritual gelähmt und meine Kräfte erschöpft sind, kann ich nur zusehen, wie Tasha am Rande des Abgrunds taumelt.

Da bemerke ich, wie ein Schatten mit weißer Schwanzspitze von der Statue der Gottheit herunterspringt, und mein Herz schlägt schneller. Nefe landet auf Pablo und schlägt ihm ihre rasiermesserscharfen Krallen ins Gesicht. Pablo schreit schmerzerfüllt auf. Er lässt Tasha los, während er verzweifelt versucht, seine Angreiferin herunterzureißen. Tasha findet ihr Gleichgewicht wieder und bringt sich hinter der Statue in Sicherheit, während Pablo, geblendet und blutend, zur Seite taumelt und am Rand des schrecklichen Lochs den Halt verliert. Mit den Armen rudernd, zu geschockt, um zu schreien, fällt er rückwärts in den tiefen Schlund, während Nefe in letzter Sekunde von ihm wegspringt.

»Diese verfluchte Katze!«, knurrt Tanas, macht aber nicht den geringsten Versuch, Pablo vor seinem Schicksal zu bewahren.

Nefe springt an der wütenden Tanas vorbei auf den Altar und schlägt in alle Richtungen aus. Sie stürzt sich auf die beiden Hohepriester und zwingt sie, meine Fußknöchel loszulassen. Als Nächstes krallt sie sich in Phoenix und hinterlässt tiefe Wunden in seiner Hand. Er schreit auf, seine Trance mit den toten Augen ist gebrochen und sein Griff um mich gelöst. Doch als Nefe sich gegen Damien wendet, packt Tanas sie am Genick und schleudert sie hinaus in die Nacht.

»Nefe!«, schreie ich, als sie an der steilen Seite der Pyramide verschwindet. Wut und Trauer kochen in mir hoch und ich werfe mich auf Tanas. »Du hast meine Katze getötet!«

Aber Damien, Phoenix und die beiden Priester packen mich schnell wieder und drücken mich erneut auf den Altar.

»Genug der Verzögerungen!«, schnauzt Tanas. »Wir beenden das JETZT

Sie stürmt zur Statue der Gottheit und ergreift das Jademesser. Während sie zurück zum Altar marschiert, winde ich mich verzweifelt und trete um mich. Schnell erschöpft von meinen vergeblichen Bemühungen und der Wirkung des Ritualtranks, blicke ich zu meinem Guardian auf. »Phoenix! Ich flehe dich an! Hilf mir!«

Er blickt auf mich herab, als würde er mich zum ersten Mal bemerken.

Tanas steht neben dem Altar und beginnt ihre letzte und tödliche Beschwörung: »Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …«

In Phoenix’ Augenwinkeln schimmert ein schwacher Sternenglanz …

»Qmourar ruq rouhk ur darchraqq …«

Es wird heller, die Finsternis weicht zurück wie eine ablaufende Flut …

»Ghraruq urq kugr rour ararrurd …«

Phoenix runzelt die Stirn, wirkt verwirrt und desorientiert. »Genna …?«

»Qard ur rou ra datsrq, Ra-Ka …«

Tanas hebt das Jademesser in den aufgewühlten schwarzen Himmel über ihr.

»Uur ra uhrdar bourkad, Ra-Ka!«

In letzter Sekunde lässt Phoenix mein Handgelenk los, reißt die Obsidianklinge aus seinem Gürtel und stößt sie in Richtung von Tanas’ Brust. Doch Tanas bewegt sich blitzschnell wie ein Jaguar, wehrt den Stoß mit ihrem Jademesser ab. Die Klingen treffen aufeinander, das Obsidianmesser entgleitet Phoenix’ Griff. Sie packt ihn mit ihrer Klauenhand und setzt ihm das Jademesser an die Kehle. »Netter kleiner Versuch, Verräter. Es mag schon lange her sein, aber auf denselben Trick falle ich nicht zweimal herein.«

»Aber ich bin doch gerade erst deinem Gefängnis der Finsternis entkommen! Das konntest du nicht ahnen«, stößt Phoenix hervor, während die beiden Priester seine Arme umklammern.

»Deine Augen haben dich verraten«, erwidert Tanas mit einem höhnischen Lachen.

Sie wirft einen Blick in Richtung der Lavagrube und ein bösartiges Grinsen breitet sich auf ihren Lippen aus. »Um ein wahrer Phoenix aus der Asche zu werden, muss man brennen!«

Sie nickt den beiden Priestern zu, die ihn zu der Öffnung schleifen. Tanas schließt sich ihnen an und setzt die Spitze des Jademessers an sein Herz. »Lass uns doppelt sicherstellen, dass deine Seele niemals wiedergeboren wird, ja?«

»Genna!«, schreit Phoenix, als Tanas ihre rituelle Beschwörung beginnt. »Dein Leben verbunden mit meinem, für immer.«

Gegen die Wirkung des magischen Trankes ankämpfend, springe ich halb vom Altar, halb krabbele ich zu der auf dem Boden liegenden Obsidianklinge. Aber Damien ist zuerst da und schnappt sich das Messer.

»Lasst mich ihn erledigen, oh Herr und Meister«, bietet Damien an. »Schließlich ist er mein Erster Bruder.«

Tanas hält in ihrem Ritual inne und überlegt einen Moment, dann tritt sie zur Seite. »Warum nicht? Du hast deine Loyalität mir gegenüber mehr als bewiesen. Du bist unserem Pakt treu geblieben und hast den Untergang deiner ehemaligen Guardian-Brüder herbeigeführt. Jetzt, da wir dem Auslöschen des Lichts so nahe sind, kann ich dir diese eine Seele schenken.«

Sie überreicht ihm das Jademesser.

Damien blickt zu Phoenix, der Lavastrom kocht unter ihnen.

Verzweiflung erfüllt mein Herz, als ich merke, dass das Ende wirklich gekommen ist.

Tanas sieht begierig zu. »Ein Erster Bruder tötet einen anderen … wie köstlich düster. Und wenn man bedenkt, dass man nur die Saat der Eifersucht säen musste, um den einen gegen den anderen aufzubringen.« Sie blickt in meine Richtung und lächelt über ihre eigene Gerissenheit.

In diesem Moment verstehe ich, wie Damiens unerwiderte Liebe zu mir so verderblich wurde und wie sie seine Seele vergiftete. Tanas’ böser Wille steckte hinter seinem Hass.

Damien starrt in Phoenix’ sternenklare Augen und hebt das Jademesser, um seinen Bruder niederzustrecken. »Ich habe diesen Moment viele, viele Leben herbeigesehnt.«