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»Worauf wartest du?«, knurrt Phoenix, während Damien das Messer weiterhin erhoben hält.

»Darauf!« Mit einer einzigen geschickten Bewegung fährt Damien herum, lässt die rechte Hand mit dem Jademesser herabsinken, reißt stattdessen blitzschnell seinen linken Arm empor und rammt die Obsidianklinge direkt in Tanas’ Herz!

Ich zucke zusammen und kann kaum glauben, was da geschieht. Tanas starrt verständnislos auf die Klinge, die aus ihrer Brust ragt, ihr Blut sickert schwarz und dick wie der Saft eines kranken Baumes aus ihr heraus. Sie öffnet den Mund, um zu sprechen, aber über ihre dünnen, blassen Lippen dringt nur ein erstickter, saugender Laut.

Mit grimmiger Genugtuung beobachte ich, wie ihre schmalen Augen zu dunklen stecknadelgroßen Punkten schrumpfen, ihre Haut sich wie die einer Schlange ablöst und ihre schwarze Haarmähne weiß wie Asche wird. Die Klinge in ihrer Brust beginnt zu dampfen und giftige schwarze Rauchschwaden steigen in den Nachthimmel auf. Mit einem schmerzerfüllten Röcheln taumelt Tanas nach hinten und schwankt am Rande der Lavagrube.

Die beiden Hohepriester, die Phoenix festhalten, eilen herbei, um ihren Meister zu retten, aber Phoenix ist zuerst da.

»Du sagst, dass ich brennen muss, aber du vergisst, dass ein Phoenix immer wieder aus der Asche aufsteigt.« Er tritt Tanas hart in den Bauch, sodass sie über den Rand kippt. »Aber du wirst das nicht! Nie wieder!«, schreit er ihr hinterher, als Tanas in den Lavastrom stürzt.

Ein langer, gequälter Schmerzensschrei hallt aus der Tiefe wider. Dann verklingt er und es herrscht Stille.

Mehrere Sekunden lang bewegt sich niemand und keiner sagt ein Wort. Selbst Diablofuego verfällt in ein murrendes Schweigen. Dann, als wäre ein Bann gebrochen, spüre ich, wie die Kraft in meine Glieder zurückkehrt und die Wirkung des rituellen Trankes nachlässt.

Ich komme auf die Beine und stolpere zu Phoenix hinüber. »Das Ritual hat funktioniert – es hat tatsächlich funktioniert!«, rufe ich.

Wir umarmen uns, um uns gegenseitig zu stützen und um diesen wundersamen Moment zu feiern. Ich bin völlig erschüttert. Mein Körper ist zerschunden und schmerzt, allein das Adrenalin hält mich aufrecht.

Ich werfe einen Blick auf die andere Seite der Lavagrube, wo Jude und Tarek sich aus dem Griff Schlagrings und Blondies befreien und im Triumph aufspringen. Sie stürzen sich auf die furchterregende Statue mit dem Jaguargesicht, wo sie ihre Fesseln an der Kante von Judes Schild durchschneiden. Dann kümmern sie sich um Mei und Prisha, finden den Erste-Hilfe-Kasten und verbinden ihre Wunden. Tasha späht nervös hinter der Statue hervor und scheint nicht so recht glauben zu können, dass Tanas besiegt worden ist.

Phoenix schaut mir in die Augen. Ich bin erleichtert, dass seine sternhell und strahlend blau sind und mein Guardian wieder an meiner Seite ist. »Es tut mir so leid, Genna, dass ich mich verirrt habe«, sagt er. »Ich wurde gezwungen, mich der Finsternis anzuschließen und ein Jäger zu werden. Das Ritual, das Tanas damals in Haven an mir durchführte, war nicht dazu gedacht, mich zu töten. Es hat mich gegen meinen Willen verwandelt. Meine Seele wurde korrumpiert, meine Gedanken und Handlungen waren nicht mehr meine eigenen. Es war ein lebender Albtraum …«

Ich unterbreche ihn: »Phoenix, es ist vorbei. Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Dein wahres Ich zurückzuhaben, ist mehr als genug.« Ich drücke ihn fester an mich. »Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Ich habe mein Licht mit dir geteilt, aber selbst da schien es keine Hoffnung zu geben, dass du zurückkommst.«

»Fast hätte ich es nicht geschafft«, gibt er zu. »Meine Seele war in der Finsternis gefangen, und der Sog der Finsternis zog mich nach unten, als würde ich ertrinken. Aber ich konnte dein Licht sehen, weit, weit oben. Ich versuchte, ihm entgegenzuschwimmen, seinem Weg an die Oberfläche zu folgen, aber ich wurde immer wieder nach unten gezogen. Wahrscheinlich war es der Schock von Nefes plötzlichem Angriff, der meine Sinne schärfte und es mir ermöglichte, mich mit deinem Licht zu verbinden und zurückzukehren.« Phoenix schaut sich um. »Apropos Nefe, wo ist sie?«

Tränen treten mir in die Augen. »S-sie ist tot«, stottere ich. »Tanas hat sie getötet.«

Phoenix wischt mir sanft die Tränen weg. »Trauere nicht um sie, Genna. Nefe wird in einem anderen Leben zurückkehren«

»Ich weiß«, antworte ich mit einem bittersüßen Lächeln. »Aber der Verlust ist schwer zu ertragen. Ich habe sie so sehr geliebt.«

Phoenix erwidert mein Lächeln. »Aber jetzt, da Tanas’ Seele für immer ausgelöscht ist, können wir voller Hoffnung in die Zukunft blicken. Das Licht der Menschheit ist gerettet!«

Ich nicke, als ich diese weltverändernde Tatsache wirklich erfasse. Zum ersten Mal verspricht unser zukünftiges Leben ganz anders zu werden. Es wird kein Weglaufen mehr geben, kein Verstecken, keine Angst mehr vor Tanas und ihren Seelenjägern. Und derjenige, der diesen Kreislauf durchbrochen hat, der das Licht gerettet hat, ist niemand anderes als … Damien .

Wir drehen uns beide zu ihm um.

Phoenix’ Erster Bruder steht mit gesenktem Kopf an der Öffnung der Lavagrube, das Messer immer noch in der Hand. Er scheint die Waffe zu betrachten, als wäre er verblüfft, sie in seinem Besitz zu haben.

»Damien«, rufe ich dankbar. »Ich bin so erleichtert, dass du endlich das Licht gesehen hast. Ich weiß, dass du mich in so vielen Leben gejagt hast, aber jetzt verstehe ich, dass Tanas deinen Geist und deine Seele verdreht hat. Sie hat zugegeben, die Saat der Eifersucht in dein Herz gelegt zu haben, die dich in die Finsternis geführt und dich gegen deinen Ersten Bruder aufgebracht hat. Allein das hat dich dazu getrieben, ein Inkarnat zu werden, entschlossen, mich und das Licht zu zerstören. Doch trotz alledem kann ich dir verzeihen – wir alle können dir verzeihen. Im entscheidenden Moment, als wir dich wirklich brauchten, hast du das Richtige getan! Du hast Tanas’ Herrschaft der Finsternis beendet, bevor sie beginnen konnte.«

Damien stößt ein seltsames Schnauben aus. »Was, du denkst, ich habe Tanas getötet, weil ich das Licht gesehen habe?« Er schaut von dem Messer auf und wendet sich uns zu. Ein bösartiges Grinsen verzerrt sein blasses Gesicht. »Nein, Genna. Ich habe Tanas getötet, damit ich über die Finsternis herrschen kann.«

Ich spüre, wie sich Phoenix an meiner Seite strafft. Ich kann selbst kaum noch atmen. Damiens Pupillen sind immer noch weit und pechschwarz, sein Blick ist kalt und mörderisch. Erst jetzt wird mir bewusst, dass die überlebenden Jäger und Hohepriester noch in ihrem früheren Zustand sind. Keiner hat sich verändert.

»A-aber wie?«, stottere ich. »Nach Tanas’ Tod solltet ihr euch zurückverwandeln.«

»Aber nicht, wenn ich Tanas’ Macht für mich beanspruche«, antwortet Damien. »Und du, Genna, mit deinem Ritual, du hast mir das ermöglicht. Indem du dafür gesorgt hast, dass Tanas’ Seele niemals zurückkehren wird, kann ich jetzt den dunklen Thron besteigen.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, knurrt Phoenix.

Er stürmt auf Damien zu, aber Damien ist vorbereitet. Als würde er Phoenix’ Angriff mit offenen Armen willkommen heißen, umarmt Damien seinen Ersten Bruder und stößt ihm dabei das Jademesser in den Bauch. Phoenix stöhnt vor Schmerz und sackt gegen Damiens Brust.

»Bye-bye, kleiner Bruder«, sagt Damien, tritt zur Seite und lässt Phoenix durch die Öffnung in der Plattform fallen.

»NEIN ! NEIN ! NEIN !«, schreie ich, als mein Guardian in dem feurigen Abgrund verschwindet.

Durch meine Schreie alarmiert, hören Jude und Tarek auf, sich um Meis und Prishas Wunden zu kümmern, nur um festzustellen, dass Schlagring, Blondie und die anderen Inkarnaten sie umzingelt haben.

Ich falle auf die Knie und spähe hinab in den Schlund der Kammer, in der verzweifelten Hoffnung, Phoenix könne irgendwie der Lava entkommen sein und überlebt haben. Aber es gibt keine Spur von meinem Guardian auf dem harten Tempelboden oder in dem Becken mit der glühenden Lava. Sein Körper wäre dort sicher in Sekundenschnelle verbrannt.

Der Verlust meiner Seelenliebe, so kurz nachdem ich sie wiedergewonnen hatte, ist mir unerträglich. Mein Herz zerbricht in tausend Stücke, und heiße Tränen fließen über mein Gesicht, während ich vor Trauer aufheule.

Damien lacht. »Oh, hör auf, so einen Aufstand zu machen. Genau wie deine dumme Katze wird er wiedergeboren werden, auch wenn es schade ist, dass es dann viel zu spät sein wird, um dich oder das Licht der Menschheit zu retten.« Er tritt näher und bietet mir seine Hand an. »Jetzt, Genna, stelle ich dich vor eine einfache Wahl. Schließe dich mir als meine Königin in der Finsternis an oder gehe für immer unter.«

Ich schaue mit Abscheu auf seine dargebotene Hand. »Ich werde niemals an deiner Seite stehen«, antworte ich. »Dein Hass hat dich zum leibhaftigen Teufel gemacht.«

Damien verpasst mir eine schallende Ohrfeige. Meine Wange brennt. »Und deine Liebe zu Phoenix hat dich schwach gemacht! Kein Wunder, dass das Licht schwindet.«

Die beiden Hohepriester – jetzt unter Damiens dunklem Einfluss – packen mich und zerren mich zurück zum Altar.

Jude und Tarek rennen herbei, aber Schlagring, Blondie und die anderen Inkarnaten stürzen sich auf sie. Nach einem heftigen Gerangel sind sowohl Jude als auch Tarek wieder gefesselt.

Trotz erbitterter Gegenwehr werde ich hochgezogen und auf den harten, kalten Stein des Altars gepresst. Damien schreitet heran, setzt die Spitze des Jademessers auf mein Herz und beginnt erneut mit Tanas’ Ritual: »Qmourar ruq rouhk ur darchraqq …«

Während er die Beschwörung ausspricht, steigen hinter ihm schwefelhaltige Dämpfe aus der Lavagrube auf. Sie verdichten sich und werden dunkel, wirbeln auf und verschmelzen zu einer bedrohlichen Form.

Damien hebt das Jademesser für die letzte, tödliche Zeile.

»Uur ra uhrdar bourkad, Ra-Ka!«

Plötzlich durchbohrt ein Splitter reiner Finsternis Damiens Brust und er stürzt zu Boden.

Während meine Gedanken rasen und ich zu verstehen versuche, was gerade geschehen ist, sehe ich eine geisterhafte Gestalt aus den schwefelhaltigen Rauchschwaden auftauchen. Eine dunkle, verdrehte, albtraumhafte Kreatur mit langen Gliedmaßen und klauenartigen Fingern schleicht auf mich zu. Ich will mich von dem abscheulichen Anblick abwenden, aber ich bin zu erschrocken, um mich auch nur zu bewegen. Der Kopf der Kreatur ist unnatürlich verlängert, mit einem lippenlosen Mund und lidlosen schwarzen Augen. Ein abscheulicher Dämon der reinen Finsternis. Sein Atem ist heiser, hohl und rau wie ein Winterwind.

Und dann spricht der Seelenschatten: »Nur ich habe die Macht, Seelen auf ewig zu zerstören.«