5.

Nikolaj

Nach einem langen Probentag kam ich nach Hause. Drinnen brannte kein Licht, und das befremdete mich, denn Mischa war früher aufgebrochen als ich. Das wusste ich, weil der Portier beim Nationalballett mir sagte, ich hätte sie knapp verpasst. Aber vielleicht kaufte sie ja noch ein. Gregory war nicht da, er übernachtete zum ersten Mal in seinem Leben bei einem Freund.

Mischa war allerdings doch zu Hause, stellte ich beim Betreten der Küche fest. Sie saß bei ausgeschaltetem Licht mit einem Glas Wein am Tisch. Vor ihr stand die noch zu einem Viertel gefüllte Flasche.

»Auch einen Schluck?«, hatte sie gefragt.

»Mir scheint, du hattest schon genug.«

»Das hier ist mein erstes Glas.«

Ich schaltete das Licht ein. »Danach sieht es aber nicht aus«, sagte ich und hielt demonstrativ die Flasche hoch.

»Die habe ich schon vor einer Woche aufgemacht.«

»Bist du sicher, dass das keine andere Flasche war?«

»Was meinst du damit?«, fragte sie giftig.

»Du trinkst viel zu viel.«

Auseinandersetzungen mit Mischa waren anders als die, die ich von anderen Partnerinnen kannte. Mit denen war es einfach gewesen: Ich griff sie an, sie mich. Beschuldigungen flogen hin und her, es gab Geschrei und Tränen. Mit Mischa war das nicht so. Manchmal lief sie davon, manchmal reagierte sie gar nicht auf das, was ich sagte, sondern machte einfach mit dem weiter, was sie gerade tat, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört; manchmal entschuldigte sie sich mit einem freundlichen Lachen, und manchmal sprach sie plötzlich über etwas ganz anderes. Was sie jetzt tat, hatte sie noch nie zuvor gemacht.

Sie schlug mich. Mit der flachen Hand. Auf die Wange.

Ich brach in Gelächter aus, ich konnte einfach nicht anders. »Ist das alles?«, wollte ich wissen.

Daraufhin hatte sie mir den Wein ins Gesicht geschleudert. »Wie kannst du es wagen?«, schrie sie.

»Wie kannst du es wagen?«, blaffte ich zurück.

»Du machst mich kaputt.«

»Du machst dich selbst kaputt, indem du so viel trinkst. Und schrei mich nicht so an.« Mit einem Geschirrtuch tupfte ich mir das Gesicht ab.

Sie senkte die Stimme; ihre Wut war trotzdem noch deutlich wahrnehmbar. »Jetzt übertreib doch nicht so schrecklich. Ich trinke ein Glas Wein, weil ich mich nach einem harten Arbeitstag entspannen will. Was ist denn daran so falsch?«

»Für heute Abend ist eine Bühnenprobe angesetzt, an der du teilnehmen solltest, das ist daran so falsch.« In ein paar Tagen würde die Premiere von Mata Hari stattfinden. »Früher hast du nie getrunken.«

»Früher habe ich so einige Dinge nicht getan.« Das klang wie eine unschuldige Bemerkung, aber sie war natürlich alles andere als unschuldig. In dieser Phase unseres Streits wirkten alle Worte wie Giftpfeile. Sie sollten den anderen verletzen, ihn ausschalten.

Aber noch viel mehr waren sie eine Grenze. Seit dieser einen Nacht hatte sich alles unwiderruflich verändert, auch wenn wir uns krampfhaft bemühten, weiter­zumachen wie bisher. Wenn ich fragte, was sie mit ihrer Bemerkung meinte, überquerten wir diese Grenze. Und etwas sagte mir, dass es dann keinen Weg zurück geben würde. War ich dazu bereit? Konnte ich mir das zum jetzigen Zeitpunkt erlauben?

Nach einem ganzen Tag Proben war ich völlig erschöpft und wollte vor dem Essen ein Nickerchen machen, statt einen alles versengenden, vernichtenden Streit zu führen, der mich noch zusätzliche Kraft kosten würde. Nein, entschied ich, jetzt war nicht der geeignete Moment. Ich brauchte meine gesamte Energie für die anstehende Nussknacker-Vorstellung. Dieses Stück hatte vor einigen Wochen Premiere gefeiert. Ich tanzte zusammen mit Maja, meiner Landsfrau, die Hauptrolle. Mit ihr zu arbeiten war schön. Wir teilten dieselbe Mentalität: hart arbeiten, nicht jammern, tanzen bis zum Umfallen. Und ich brauchte mehr Zeit, um meine Probleme zu lösen. Ich war dabei, einem bereits existierenden Ballett neues Leben einzuhauchen, dem ersten Akt der Giselle. In meinen Augen erhielt eine ganze Reihe klassischer Ballettstücke nicht die angemessene Aufmerksamkeit, und ich wollte das ändern, indem ich neue Inszenierungen schuf.

»Wie ist es heute gelaufen?«, wechselte ich das Thema, doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Ich bin Kai begegnet. Er sagte, er ist sehr zufrieden.« »Zufrieden« bedeutete bei Kai van Wijnen, dem Direktor des Nationalballetts, so viel wie »begeistert«. Das hatte er zwar ganz und gar nicht gesagt, aber ich war neugierig, ob mich Mischa ins Vertrauen ziehen würde.

Sie lachte heiser. »Warum spricht er mit dir über mich?«

»So war das nicht«, gab ich zurück. Und das weißt du auch ganz genau, dachte ich. Ganz offensichtlich war sie auf Streit aus. Jedes Gespräch, das wir in der letzten Zeit miteinander führten, glich einem Minenfeld. Ein einziges falsches Wort konnte eine Explosion verursachen. Nur in Gregorys Gegenwart hielten wir uns zurück. Unser Sohn war eine Art menschliche Sicherung für Minen.

»Wir sind uns im Flur begegnet, nach eurer Durchlaufprobe.« Kai war der Choreograf von Mata Hari. Dass ich ihm begegnet war, entsprach der Wahrheit, aber danach hatten wir das Gespräch unter vier Augen in seinem Büro fortgesetzt. Kai hatte wissen wollen, wie es Mischa ging. Wie alle anderen im Corps de Ballet wusste er, dass sie trank. Vor einigen Wochen hatte Kai uns beide zu sich gerufen und uns ohne Umschweife gefragt, was los sei. Wir hatten jahrelang als Tänzer beim Royal Ballet in London gearbeitet, und man hatte uns als Stars ans Nieder­ländische Nationalballett geholt, weil man sich davon ein volles Haus erhoffte. Eine ordentliche Investition, deswegen war es nur logisch, dass sich Kai Sorgen machte. Mischa hatte ihn beschworen, das Ganze sei Unsinn, sie trinke hin und wieder ein Glas zur Entspannung, mehr nicht. Sie hatte Besserung gelobt, gesagt, sie habe eine schwere Zeit hinter sich, und das wisse er auch nur allzu gut. Dieses Gespräch sei für sie aber ein Weckruf, und sie werde sich jetzt einzig und allein aufs Tanzen konzentrieren.

Kai hatte ihr geglaubt – was blieb ihm auch anderes übrig? Aber ich wusste, dass er überall Augen und Ohren hatte. Spione, wenn man das so nennen wollte. Neulich hatte eine der Tänzerinnen aus dem Ensemble einen Schluck aus Mischas Teetasse getrunken, die auf dem Klavier stand. Nur hatte sich herausgestellt, dass sich darin kein Tee, sondern Wodka befand. Außerdem gab es Beschwerden über Mischa. Oft verschwand sie ganz plötzlich, und niemand wusste, wo sie steckte. Wenn sie dann wieder erschien, hatte sie irgendeine vage Ausrede auf Lager und erklärte, es »wäre nichts«.

Ich hatte keine andere Möglichkeit gesehen als den Angriff. Tanzte Mischa vielleicht nicht gut? Kai hatte zugeben müssen, dass das nicht der Fall war. »Noch nicht«, hatte er hinzugefügt. Eine ganz deutliche Warnung.

Natürlich wusste Kai, dass wir nicht ohne Konflikte vom Royal Ballet weggegangen waren – er hatte ja überall Kontakte. Aber diese Probleme hatten mich betroffen, nicht Mischa. Ich betrachtete das Ganze immer noch als Beweis für bürgerliche Spießigkeit. Hatte ich denn jemals weniger Leistung gebracht, weil ich hin und wieder Hasch rauchte oder Kokain nahm? Ich tanzte dann sogar besser, konnte länger durchhalten. Aber gut, das war einer der Gründe für unsere Rückkehr ans Niederländische Nationalballett gewesen.

Und was Kai anging: Der führte nur ein wenig Theater auf, um uns zu zeigen, wer hier der Boss war. Ich kannte ihn noch aus der Zeit, bevor Mischa und ich nach London gegangen waren. Er wusste, was er sich da ins Haus geholt hatte, oder besser gesagt, wen. Ich fand, er hätte keinen Grund zum Rumjammern. Unsere Namen waren ein Publikumsgarant, trotz des allgegenwärtigen Klatschs. Oder vielleicht genau deswegen. Mischa und ich bildeten ein Traumpaar. Ein Traumpaar, das tief gefallen, dann jedoch wie ein Phönix aus der Asche wiederauferstanden war, stärker als jemals zuvor.

Dieses Bild vermittelten wir zumindest nach außen hin.

Ich hatte mich im Griff, aber Mischa? Ich wusste, ich musste mit ihr reden, nur wie? Wann? Und wie sollte mir das gelingen, ohne einen Streit anzufangen, ohne dass sie mir vorwarf, das alles wäre meine Schuld – ohne ihre Drohung, allen die Wahrheit zu sagen?

Bei meinem letzten Versuch, mit ihr über ihre Alkoholsucht zu sprechen, hatte sie mir ein Glas an den Kopf werfen wollen. Es hatte mich nur ganz knapp verfehlt.

»Kai weiß, dass du trinkst. Alle wissen das inzwischen.«

»Jetzt übertreib doch nicht so. Trinken! Ab und zu ein Gläschen zur Entspannung. Das tun ganz viele andere Leute auch.«

»Auf der Arbeit? Während der Proben?«

»Das ist völliger Unsinn. Und du, du mit deinem Kokain?« Sie wandte den Blick ab, wollte mir nicht in die Augen schauen.

Ich ignorierte ihre Frage. »Letzte Woche hat mich Kai einbestellt, weil eine der Tänzerinnen im Corps de Ballet einen Schluck von deinem Tee getrunken hatte.«

Ganz kurz verbarg Mischa das Gesicht in den Händen, und als sie aufblickte, sah ich, dass sie lächelte. »Ist das alles? Ich war erkältet und hatte Halsschmerzen. Deswegen habe ich ein paar Tropfen Echinaforce-Tinktur in meinen Tee getan. Um meine Widerstandskräfte zu stärken. Da ist ein ganz kleines bisschen Alkohol drin. Du meine Güte, also wirklich«, sagte sie bissig.

Eines musste ich Mischa lassen: Sie konnte so gut lügen wie niemand sonst. So gut, dass sie überall durchkam, das hatte ich nur allzu oft miterlebt.

»Wer hat denn diesen Schluck aus meiner Tasse getrunken? Anna vielleicht? Die hasst mich, und das weißt du auch. Sie hätte erste Solistin werden sollen, aber dann kam ich. Kein Wunder, dass sie bösartigen Klatsch über mich verbreitet.«

Ich musste zugeben, dass ich nicht wusste, von wem die Information stammte. Danach hatte ich nicht gefragt.

Mischas Augen füllten sich mit Tränen. »Wie kannst du nur, Nikolaj? Warum glaubst du einer Wildfremden wie Anna mehr als mir?«

Eine wütende Mischa war mir lieber als eine verletzte Mischa. Ich kannte keinen einzigen Mann, der mit den Tränen einer Frau umgehen konnte, und ich selbst war da keine Ausnahme.

»Mischa …«

Sie beugte sich zu mir, legte mir eine Hand auf den Arm und streichelte ihn zärtlich. »Wir waren einmal ein so gutes Tanzpaar, du und ich. Wir haben einander perfekt ergänzt. Was ist nur mit uns passiert?«, flüsterte sie. Dann ließ sie die Finger langsam nach oben wandern, in Richtung meiner Brust. Sie berührte die Knöpfe meines Hemdes und öffnete einen nach dem anderen.

Ich packte ihre Finger und hielt sie fest umklammert. Ich durfte mich nicht ablenken lassen, nicht vergessen, wie berechnend Mischa war. Sie bekam immer, was sie wollte. Heute Abend würde sie ganz einfach zugeben müssen, dass sie ein Problem hatte und Hilfe brauchte. »Eine gute Frage, Mischa. Warum vertraust du mir nicht? Sei ehrlich. Warum kannst du mir gegenüber nicht eingestehen, dass du zu viel trinkst? Lass mich dir helfen. Ich glaube, es ist eine gute Idee, wenn du eine Weile in eine Suchtklinik gehst.« Dann hätte ich auch mehr Zeit. »Das braucht niemand zu wissen, niemand außer mir. Bei mir darfst du schwach sein, ich werde dir …«

Sie riss ihre Hand los und zog mir die Fingernägel wie eine Kralle über die Brust, sodass dort rote Striemen zurückblieben. »Dreh das Ganze jetzt nicht um, Nik! Du hasst Schwäche, du liebst nur starke Menschen. Du hast doch keine Ahnung, wie man mit Schwäche umgeht. Du meidest sie wie eine ansteckende Krankheit. Wie eine heiße Kartoffel würdest du mich fallen lassen.«

»Das ist doch nicht wahr! Habe ich das vielleicht getan, als sich herausgestellt hat, dass du schwanger bist?«

»Ha! Wenn du dann nicht in der ganzen Ballettszene untendurch gewesen wärst, weil du dich aus dem Staub machst, und das nach alldem, was du dir schon geleistet hattest, dann hättest du das getan, ja.«

»Jetzt gehst du zu weit.«

»Du wolltest doch, dass ich ehrlich zu dir bin? Hast du dich in deiner ach so großen Güte auch schon mal gefragt, warum ich trinke, hm?«

»Ich warne dich …«

»Wovor denn? Was willst du denn tun? Lass mich raten: nichts. So wie du immer nichts tust, gar nichts. Nein, warte, das stimmt nicht: Du tust alles, solange es dir nutzt.«

Mich juckte es in den Fingern – am liebsten hätte ich ihr eine gelangt. In Gedanken hatte ich das bereits unzählige Male getan. Ihr eine ordentliche Ohrfeige versetzt, die sie zum Schweigen brachte und ihr wieder ins Gedächtnis rief, wer hier der Boss war.

Mischa goss sich ein weiteres Glas ein. Ich ignorierte das. »Bist du bereit für die Premiere?«, wechselte ich wieder das Thema, weil ich sie auf diese Weise beruhigen wollte. Dafür verachtete ich mich selbst, diese Version meiner selbst, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich die Sache vorerst mit Vernunft anzugehen plante.

»Wenn du mit mir hättest tanzen wollen, wüsstest du das längst.«

Ich ermahnte mich innerlich zur Ruhe.

»Mies …«

»Nenn mich verdammt noch mal nicht Mies!«, schrie sie. In ihren Augen schimmerte ein wütender Glanz.

Nein, der Alkohol machte meine Frau alles andere als umgänglich. »Mischa … So war es nicht, und das weißt du auch.« Wie oft hatte ich ihr das schon erklärt? »Als wir ans Nationalballett gegangen sind, haben wir besprochen, dass es vielleicht eine gute Idee ist, uns getrennt weiterzuentwickeln.«

»Von wegen besprochen! Du hast es damals vorgeschlagen, und ich war dagegen.«

»Dann hättest du das sagen müssen.«

»Ha, guter Witz! Du hast mich auflaufen lassen, und alle waren dabei. Hätte ich da sagen sollen, dass ich das nicht will? Dann wäre ich die Bitch gewesen, die dir nichts gönnt oder die sich ohne dich nichts zutraut.«

Sie sprach von der Zeit, als die Rollen für den Nussknacker und Mata Hari verteilt wurden. Vom Royal Ballet waren wir es gewohnt, dass die Ergebnisse am Schwarzen Brett ausgehängt wurden, aber Kai handhabte es anders: Er rief alle Tänzer zusammen und verkündete vor versammelter Mannschaft, wer welche Rolle bekam. Oder gar keine. Dann waren immer alle entsetzlich nervös. Die ersten Solisten, wie Mischa und mich und noch ein paar andere, die genau wussten, sie würden in einem der beiden Stücke die Hauptrollen bekommen, betraf das nicht so sehr. Jeder Tänzer im Corps de Ballet hoffte darauf, sich im Laufe der Jahre zum ersten Solisten hochzuarbeiten, was natürlich nur die wenigsten schafften.

Bei dieser Gelegenheit hatte ich verkündet, Mischa und ich wären übereingekommen, unsere Rollen mit anderen Partnern zu tanzen, um uns künstlerisch weiterentwickeln zu können.

Das hatte ich vorher mit Kai besprochen, und damals hatte er abwehrend reagiert. Die Aktion war gemein von mir gewesen, das wusste ich ganz genau; aber ich wusste auch, dass sich Mischa niemals dazu bereit erklärt hätte. Deswegen bestand meine einzige Chance darin, sie unvorbereitet damit zu konfrontieren. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen: Sie wollte keinen Gesichtsverlust riskieren. Und für Kai galt dasselbe.

Wie sich herausstellte, hatte ich mich nicht getäuscht. Mischa glänzte auf der Bühne nicht nur wegen ihrer fabelhaften Technik, sondern auch wegen ihrer großartigen Schauspielkunst. Nach meinen Worten, die ein heftiges Gemurmel auslösten, entgleisten ihr nicht eine Sekunde lang die Gesichtszüge. Nur ich erkannte die Wut, die die Iris in ihren Augen ein ganz klein wenig dunkler werden ließ, und Kais verzerrtes Lächeln. Danach hatte er mich zu sich gerufen, und ich hatte mich von ihm zusammenstauchen lassen. Diesen Preis hatte ich nur zu gern bezahlt, und außerdem hatte mir das Schlimmste noch bevorgestanden, denn zu Hause hatten Mischa und ich eine heftige Auseinandersetzung ausgefochten.

»Wie oft muss ich es dir denn noch erklären? Das ist für uns beide die beste Lösung. Auf diese Weise können wir den Kritikern den Mund stopfen, die sagen, dass wir einzig und allein gut sind, weil die Chemie zwischen uns stimmt. Wir können zeigen, dass wir genauso viel leisten, wenn wir mit anderen tanzen.«

»Manchmal denke ich, du glaubst deine eigenen Lügen sogar.« Sie leerte ihr Glas und knallte es heftig auf die Kücheninsel. Sofort nahm sie die Flasche und schenkte es wieder voll. »Ich darf doch?«

»So geht es nicht weiter, Mischa. Ich dringe einfach nicht zu dir durch. Ich glaube, es ist besser, wenn ich eine Zeit lang weggehe. Und Gregory nehme ich mit.« Ich war kein Therapeut. Ich will eine Partnerin, eine mir ebenbürtige Partnerin, niemanden, der sich an mir festklammert. Ich will jemanden, der mich herausfordert, mich zu einer Steigerung treibt, nicht jemanden, der mich in seinem Elend mit in den Abgrund zieht.

Das dachte ich, aber ich sprach es nicht aus. Die krasse Wahrheit bestand darin, dass Mischa zu einer Belastung geworden war. Zum Teil durch meine eigene Schuld, das schon, aber ich hatte nicht vor, mir den Rest meines Lebens oder meine Karriere dadurch versauen zu lassen.

Der zweite Schlag kam rascher und auch heftiger als erwartet.

»Du Arschloch, wage das ja nicht. Wage es nicht, mir noch mehr wegzunehmen.« Ihre Stimme klang heiser. Laut und stoßweise holte sie Atem.

Wir wussten beide, was sie meinte.

Ich rieb mir über die Wange. »Lass dir helfen.«

»Und wenn nicht?«

Ich wandte den Blick ab, schaute auf das durchgesessene Ledersofa, die ausgeblichenen Gardinen und das altmodische große Fernsehgerät. Unsere Freunde hatten jahrelang für ihre Weltreise gespart und in diesem Zeitraum nichts Neues angeschafft. »Sein Geld kann man nur ein einziges Mal ausgeben«, hatten sie erklärt. Prioritäten, darauf kam es an. »Ich weiß nicht, ob das Ganze überhaupt noch einen Sinn hat. Vielleicht ist es besser, wir gehen für eine Weile auf Distanz zueinander. Wir machen eine Pause …«

»Eine Pause? Eine Pause ist der Anfang vom Ende, das weiß doch jeder.«

»Das sagst du.«

»Warum bist du nur so feige? Du hast vor, unsere Ehe ganz einfach langsam sterben zu lassen, weil du mir nicht ins Gesicht zu sagen wagst, dass du mich loswerden willst. Erst als Tanzpartnerin, jetzt als Frau …«

»So ist das nicht …«

»Wie denn sonst?«

Wir schwiegen.

»Wenn du mich verlässt, halte ich nicht mehr länger den Mund. Willst du dieses Risiko wirklich eingehen? Jetzt, wo du so damit beschäftigt bist, dich karrieretechnisch neu zu orientieren?«, sagte sie dann. Eine unverhohlene Drohung. Mit diesen Worten schnitt sie außerdem ein schmerzliches Thema an, aber das konnte sie nicht wissen, und ich hatte auch nicht vor, es ihr zu sagen. Sie hatte schon mehr als genug gegen mich in der Hand.

»Und du? Wegen dir …«

»Ich habe weniger zu verlieren als du. Viel weniger. Das solltest du lieber nicht vergessen.«

Ich wandte den Blick ab. Schwieg. An diesen Punkt kamen wir früher oder später jedes Mal. Mischa hatte die Macht, und das wusste sie nur zu gut. Wie sollte ich sie nur jemals loswerden?