33.

Mischa

Vor zwei Monaten

»Mam, darf ich dir helfen?«, fragte Gregory.

»Ja, gern. Du kannst die Bohnen putzen.«

»Putzen?«

»Ja, mit einer Schere. Schau mal, so.« Ich zeigte ihm, wie er die Spitzen abschneiden und die Bohnen dann in einen Topf werfen sollte. Ich selbst schälte Kartoffeln. Heute Mittag hatte ich schon Fleischbällchen aufgesetzt, die nun vor sich hinköchelten. Typisch holländischen Eintopf sollte es geben, wie meine Mutter ihn früher gemacht hatte. In London hatte ich ihn sehr vermisst und mir vorgenommen, ihn nach unserer Rückkehr häufiger zu essen. Außerdem wollte ich sowieso öfter selbst kochen. Vielleicht würde ich dann meine Gedanken loswerden. Früher empfand ich es einfach als Zeitverschwendung, und meistens überließen wir der jeweiligen Nanny die Mahlzeiten, oder wir bestellten etwas, aßen irgendwo unterwegs oder in der Kantine.

Das war aber nicht der einzige Grund – uns stand ganz einfach nicht mehr so viel Geld zur Verfügung wie früher. Beim Berechnen der regelmäßig anfallenden Kosten war ich darüber erschrocken, wie viel wir jeden Monat für Einkäufe ausgaben. Der Kassensturz war nötig geworden, weil wir immer öfter in die roten Zahlen gerieten. Eine beunruhigende, ernüchternde Erfahrung.

Es gab Ballerinas, die nur sehr wenig aßen, doch abgesehen von einer kurzen Phase mit etwa fünfzehn Jahren gehörte ich nicht zu dieser Kategorie. Damals hatte ich plötzlich einen Wachstumsschub. Bis dahin war ich überall die Kleinste gewesen, jetzt drohte ich die Größte zu werden, und deswegen hörte ich auf zu essen. Sehr zur Freude meiner Mutter, die schon das Ende meiner Karriere befürchtete. Sie selbst war klein und zierlich, und ich fragte sie zum x-ten Mal nach meinem Vater – war er vielleicht hochgewachsen und stämmig? Doch sie schwieg weiter. Bei einem Meter dreiundsiebzig war es für mich zum Glück vorbei mit dem Wachsen.

Hin und wieder warf ich einen Blick auf meinen Sohn, der hochkonzentriert, mit der Zungenspitze zwischen den Lippen, die Bohnen putzte. Er glich seinem Vater so unglaublich. Dasselbe dunkle, dicke Haar und die fast schwarzen Augen. Die vollen Lippen und die blasse Haut.

Manchmal traten mir ganz plötzlich einfach so die Tränen in die Augen, wenn ich ihn ansah, so wie jetzt. Ich blinzelte die Tränen weg. Seit dem Unfall nahm ich meine Identität als Mutter bewusster wahr, und die Tatsache, dass ich keine zweite Chance bekommen würde; der Preis für diese Erkenntnis war jedoch viel zu hoch gewesen. Außerdem konnte ich meinen Sohn nur selten anschauen, ohne dass sich das bekannte Schuldgefühl wie ein Ballon in meiner Brust ausdehnte. Es war schwer, Gregory aufwachsen zu sehen und dabei zu wissen, dass Natalja nicht dasselbe erleben durfte.

Als ich neue Schuhe mit ihm gekauft hatte, weil seine alten zu klein geworden waren, hatte ich mich im Badezimmer eingeschlossen und mir unter der Dusche die Augen aus dem Kopf geheult.

Als ich ihn nach den Sommerferien zum ersten Mal in die Schule gebracht hatte, zerriss es mir das Herz. Nur ein Kindersitz im Auto, nur eine Frühstücksdose, die gefüllt werden musste, nur ein Abschiedskuss. Und nach der Schule nur ein Kind, das auf mich zurannte und sich mir in die Arme warf, um dann vom Rücksitz aus munter von seinen Erlebnissen zu erzählen.

Als ich mich zum ersten Mal wieder über etwas Triviales aufregte – einen nicht ins Spülbecken gestellten Teller –, brach ich deswegen in Tränen aus. Es bedeutete, dass ich das Leben weitergehen ließ, und das wollte ich nicht. Es bedeutete, dass ich mich immer weiter von Natalja entfernte, dass die Distanz zwischen uns wuchs.

Während Gregory den Tisch deckte und drei Teller hinstellte, nahm ich das Geräusch wie einen Hammer wahr, mit dem das Urteil gefällt wurde: schuldig, schuldig, schuldig. Manchmal griff ich im Supermarkt automatisch nach Nataljas Lieblingsprodukten: ganz bestimmten Chips, Cola-Eis oder Leberwurst. Wenn ich eine Mutter sah, die ein Mädchen in Nataljas Alter an der Hand hatte, mit langen Haaren, wollte ich sie richtiggehend anfallen. Ich konnte Zöpfe flechten wie eine Weltmeisterin, beherrschte Dutts und Pferdeschwänze, alles. Wir hatten sogar in Erwägung gezogen, einen YouTube-Kanal zu gründen. Dazu war es allerdings nie gekommen, weil mir die Zeit fehlte.

Seit dem Unfall war Gregory Bettnässer, außerdem quälten ihn schlimme Albträume. Die Psychologin, die wir seither aufsuchten, hatte ein posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert. Das Traurige daran war, dass ich erst durch die Expertin erfuhr, wie es um meinen Sohn stand. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit ihm reden sollte.

Seitdem waren zwei Jahre vergangen, und mir schien, es ginge ihm besser. Sogar so gut, dass wir uns dafür entschieden hatten, in den Niederlanden vorläufig keinen Psychologen für ihn zu suchen. Als ich ihn zuerst gefragt hatte, wie er sich fühlte, hatte er gesagt: »Mama, ich habe ein geheimes Zimmer in meinem Kopf. Weißt du noch, wie wir in diesem Museum in London waren und ich dort eine Tür entdeckt habe?«

Ich erinnerte mich. In einigen Sälen hatte es solche Türen gegeben, und Gregory war von dem Gedanken daran fasziniert gewesen, was sich wohl dahinter befand. Er hatte einen der Wachleute gefragt, und der Mann hatte die Tür für ihn geöffnet. Wie sich herausstellte, führte sie in einen Flur, und dort befanden sich die Büroräume der Mitarbeiter. Gregory fand das damals sehr aufregend.

»In einem dieser Zimmer habe ich meinen Kummer weggeschlossen. Wenn ich bei dir und Papa oder in der Schule bin, mache ich die Tür zu und betrete wieder den Saal mit den Gemälden, wo es schön ist. Aber manchmal muss ich kurz weg aus dem schönen Saal, in mein geheimes Zimmer. Verstehst du das?«

»Ja, das verstehe ich.«

»Deswegen darfst du mich auch nicht ständig fragen, wie es mir geht.«

Wieder dieser Blick, der sich mir in die Seele brannte. »Vielleicht kannst du mir einfach immer sagen, ob du gerade in deinem geheimen Zimmer oder in dem schönen Saal bist?«, schlug ich vor.

Er dachte kurz nach und nickte dann.

Ich wusste, wie ich meine Prioritäten setzen musste. Ich wünschte nur, ich hätte es schon vorher gewusst. Ich hatte immer geglaubt, alles nachholen zu können – später, wenn ich mit dem Tanzen aufgehört hätte. Dass es besser wäre, mich erst auf meine Karriere zu fokussieren, die uns schließlich auch Geld zum alltäglichen Leben einbrachte. Dass Kinder von Eltern mit Vollzeitjobs auch nicht unglücklicher waren als die einer teilzeitarbeitenden Mutter oder Hausfrau, dass wir mit unserem Ehrgeiz ein gutes Vorbild für unsere Kinder waren, dass Gregory und Natalja einander genügten. Auf die eine oder andere Art hatte ich mir vorgemacht, Qualität wäre wichtiger als Quantität.

Nicht, dass ich sie nicht unendlich liebte, aber die Schwangerschaft war mir einfach so passiert. Als sich dann auch noch herausstellte, dass es Zwillinge werden würden, geriet ich in einen Schockzustand. Und ich war noch so verdammt jung. Zu jung, um diese riesige Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich jetzt zurückschaute, war ich selbst noch ein Baby. »Die meisten Tänzer sind kleine Kinder. Man tanzt neun oder zehn Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche. Man lernt nichts über das Leben. Das Einzige, was man zu Gesicht bekommt, sind die Spiegel und die Stange«, hatte Nikolaj einmal in einem Interview gesagt, und damit hatte er recht. Zwei Monate nach der Geburt stand ich wieder vor dem Spiegel an der Stange, mein altes Gewicht hatte ich zurück. Ohne meine Mutter hätte ich es nicht überlebt. Und die Babys auch nicht. Gott sei Dank gab es die Krippe, und als wir besser verdienten, auch dank lukrativer Aufträge von großen Mode- und Reklamefirmen und Fernsehauftritten, waren die Kindermädchen gekommen, sodass wir lange Arbeitstage einlegen und für Auftritte reisen konnten.

Nach dem Unfall hatte sich das geändert. Bei mir, nicht bei Nikolaj. Er ging noch mehr auf Distanz. Ich hasste ihn dafür. Wenn ich an all die Momente dachte, die ich mit Natalja verpasst hatte und die sich in der Zukunft nicht mehr würden kompensieren lassen, wollte ich laut schreien, um den ebenso lauten Schmerz in meinem Herzen zu übertönen.

»Wie war’s heute in der Schule?«

Ich sagte mir, unser Umzug sei keine Flucht, sondern ein Schritt nach vorn gewesen. Eine Chance für Gregory, einen Neuanfang zu wagen, weg von der Schule, wo ihn alles und jeder an Natalja erinnerte. Sie hatten zwar verschiedene Klassen besucht, doch trotzdem wussten alle, was geschehen war.

»Langweilig.«

Diese Antwort beunruhigte mich nicht, weil er das immer sagte. »Warum denn?«

»Da muss ich die ganze Zeit still sitzen.«

»Rumtoben kannst du nach der Schule.«

Er zog die schmalen Schultern hoch. »Ich bin fertig«, verkündete er.

»Dann halte die Bohnen kurz unter kaltes Wasser. Stell den Wasserkocher an. Danach kannst du das Wasser in den Topf gießen.« So hatte es mir meine Mutter beigebracht. Wasser zu kochen war günstiger, als kaltes Wasser in einem Topf zu erhitzen. Als alleinerziehende Mutter hatte sie nicht viel Geld und war sehr erfinderisch, wenn es aufs Sparen ankam. Eine Notwendigkeit, sonst hätte sie die teuren Ballettstunden oder die Miete für unsere Wohnung nie bezahlen können. Als Nikolaj und ich mit den Zwillingen in einer kleinen Wohnung lebten, erinnerte ich mich an all ihre Weisheiten. Wir hatten es nicht immer so gut gehabt wie jetzt.

Gregory tat, was ich gesagt hatte.

»Nicht ganz vollmachen. Nur so viel, wie du brauchst.«

»So?«

»Ja, das ist genug.«

»Kann ich noch etwas tun?«

»Ich glaube nicht. Oder warte, du kannst schon mal das Besteck auf den Tisch legen, wenn du möchtest.«

»Kommt Papa heute nach Hause?«

»Ich weiß es nicht.«

Das Wasser kochte. »Jetzt kannst du den Topf mit den Bohnen auf den Herd stellen und das Wasser drübergießen.«

Gregory nahm den Wasserkocher und befüllte den Topf. Ich stellte den Gasherd an.

»Jetzt wartest du, bis es kocht, stellst das Gas aus und tust den Deckel drauf.«

»Der Topf steht ein bisschen schief, Mama.« Er nahm einen der Henkel und wollte den Topf geraderücken, schob ihn aber zu weit zur Seite. Ich sah, dass der Topf kippte, und streckte in einem Reflex die Hände aus, um ihn aufzufangen. So lautete zumindest meine Version der Geschichte. Gregory dagegen meinte, der Topf hätte sicher gestanden, ich ihn jedoch heruntergestoßen. Der glühend heiße Inhalt landete zu einem großen Teil auf Gregorys Brust und Bauch. Während der ersten paar Sekunden geschah nichts. Dann fing er an, vor Schmerzen zu schreien.

»Mama, Mama!« Gregory fuhr hysterisch mit den Händen durch die Luft und riss an seinem Shirt. Energisch packte ich ihn am Arm und rannte mit ihm nach oben ins Badezimmer. Ich drehte den Hahn in der Dusche auf, bis das Wasser lauwarm war, und stellte Gregory darunter. Erst als er unter dem Wasserstrahl stand, fing er an zu weinen.

»Bleib da«, rief ich.

Mir blieb keine Zeit, um ihn zu trösten. Ich rannte wieder nach unten. Ein Festnetztelefon besaßen wir nicht, und mir wollte partout nicht einfallen, wo ich mein Handy hingelegt hatte. Mein Gehirn war einfach wie zugeklappt. Nicht auf der Anrichte, nicht auf der Kücheninsel. Auf dem Sofa? Nein. Wo war das verdammte Ding nur? Ich warf die Kissen auf den Boden, doch dadurch fand ich mein Handy auch nicht. Meine Tasche, natürlich, es war noch in meiner Tasche, die an einem Stuhl hing. Ich kippte die ganze Tasche auf dem Boden aus, und die Glitzerhülle, die mir Natalja zum Geburtstag geschenkt hatte, bezahlt von ihrem Ersparten, schimmerte mir entgegen. Erst nach zwei Versuchen gelang es mir, den richtigen Code einzugeben. Meinem Gefühl nach hatte ich während dieser ganzen Zeit nicht einmal Atem geholt.

»Den Rettungsdienst«, sagte ich, als eine Band­aufnahme am anderen Ende der Leitung fragte, was ich wollte. Ich wurde weiterverbunden und sprach mit einem Mann. Als ich berichtete, was geschehen war, stolperte ich über meine eigenen Worte.

»Wo ist er jetzt?«

»Oben, unter der Dusche.«

»Sorgen Sie dafür, dass das Wasser lauwarm ist«, empfahl mir der Mann am Telefon.

»Was? Ich … Ja, lauwarm, ich weiß.« Schnell ging ich die Treppe zum Badezimmer hoch, um sicher sein zu können, dass Gregory noch unter der Dusche stand. Der Anblick meines Sohnes, wie er da mit weit ausgestreckten Armen zitterte und schluckte, war mehr, als ich ertragen konnte. Mir wurde ganz leicht im Kopf.

»Mama«, erklang seine klägliche Stimme.

Ich keuchte, bekam kaum Luft. »Alles wird gut, Schatz. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.« Mit äußerster Anstrengung konnte ich verhindern, in Tränen auszubrechen – dann hätte sich Gregory noch mehr aufgeregt. Ich schluckte heftig.

»Darf ich aus der Dusche raus? Mir ist so kalt.«

»Nein, mein Liebling, es ist zu deinem eigenen Besten, bleib nur da stehen. Ich weiß, das ist nicht leicht, aber …« Ich stellte mein Handy auf Lautsprecher und legte das Gerät auf den Boden. Dann stellte ich mich auch unter die Dusche und nahm Gregory vorsichtig in die Arme, küsste ihm das nasse Haar, das Gesicht. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, denn er würde sie sowieso nicht sehen. Seine Schmerzen quälten meine Seele. Nach dem Unfall hatte ich mir geschworen, dass ihm nie wieder etwas zustoßen würde, und jetzt, zwei Jahre später, stand ich hier, mit meinem verletzten Kind in den Armen. Ich war eine schlechte Mutter, ich konnte nicht einmal mein eigenes Kind beschützen. Schon wieder nicht. Wieder hatte ich ihn einer Gefahr ausgesetzt, wieder befanden wir uns im Wasser, kalt bis auf die Knochen, klammerten uns aneinander fest. Und obwohl ich diesmal festen Boden unter den Füßen hatte, fühlte sich das nicht so an. Die Erinnerung an die dunkle, grausame Nacht lag auf der Lauer, aber wenn ich sie zulassen würde, würde ich völlig zusammenbrechen. Das konnte Gregory jetzt nicht gebrauchen.

Der Schluckauf ebbte ab. Gregory lehnte sich sanft an mich, er hatte die Augen geschlossen. Ich strich ihm das Haar aus dem Gesicht, das beunruhigend blass war. Selbst seine Lippen hatten ihre ganze Farbe verloren. Das Wasser prasselte unaufhörlich auf uns herunter.

»Ich muss den Leuten vom Rettungsdienst die Haustür aufmachen«, erklärte ich.

»Nein, Mama, bleib hier.« Er klammerte sich an mich.

»Ich bin gleich wieder da. Das schaffst du, Gregory.« Ich konnte seine in meinem Rücken ineinander verflochtenen Finger nur mit großer Mühe auseinanderziehen. Sein herzzerreißendes Weinen und Flehen ertrug ich nur, indem ich daran dachte, dass ihm geholfen werden musste. Es erinnerte mich an all die Male, bei denen ich ihn in der Krippe abgegeben hatte und er sich an mir festklammerte, oder daran, wenn ich abends zu einem Auftritt oder für ein Essen aus dem Haus musste. Das vor Kummer rote Gesicht, sein glühender kleiner Körper, der Rotz und die Tränen, und sein Herz, das wie verrückt klopfte.

Ich stolperte die Treppe hinunter und riss die Tür sperrangelweit auf. Für mich war eine Ewigkeit vergangen, bis der Rettungswagen erschien, und obwohl ich wusste, dass Gregory bei den nun das Haus betretenden Sanitäterinnen in besseren Händen war als bei mir, fiel es mir unendlich schwer, ihn noch einmal loszulassen. Gregory schluchzte und wollte nicht untersucht werden. Sehr viel Überredungskunst war nötig, um ihn davon zu überzeugen, dass diese Leute ihm helfen wollten. Vorsichtig machten sich die beiden Frauen an die Arbeit. Die ganze Zeit sprachen sie mit Gregory und erklärten ihm Schritt für Schritt, was sie tun würden oder gerade taten.

»Wir bringen dich jetzt in ein besonderes Krankenhaus«, sagte die ältere der beiden.

Gregory versteifte sich und begann wieder zu weinen. Die Frau konnte natürlich nicht wissen, dass er schon einmal im Krankenhaus gelegen und daran alles andere als positive Erinnerungen hatte. Dort hatte ich ihm beibringen müssen, dass seine Zwillingsschwester den Unfall nicht überlebt hatte.

»Deine Mama kommt ja mit«, fügte sie hinzu.

»Gregory, du musst jetzt ein tapferer Junge sein«, sagte ich. »Die Leute dort können dir helfen.«

Heftig schüttelte er den Kopf. »Im Krankenhaus stirbt man.«

»Wir waren damals auch im Krankenhaus, Schätzchen, und wir leben noch. Natalja …« Ich schluckte. »Natalja war schon tot, schon im Wasser. Das habe ich dir doch erzählt, weißt du noch?«

Ich merkte, wie unglaublich neugierig die Sanitäterinnen waren, doch zum Glück spürten sie, was los war, und verkündeten, sie würden eine Trage holen. So hatte ich Zeit, mit Gregory zu sprechen, der irgendwann zustimmte, auch wenn er sich auf keinen Fall auf die Trage legen wollte. Die Treppenstufen nach unten kosteten ihn ganz offensichtlich sehr viel Energie, und als er erst einmal im Rettungswagen war, wehrte er sich nicht mehr, als man ihn auf die Trage legte.

»Sie dürfen bei ihm bleiben«, sagte die ältere Frau zu mir.

Ich nickte dankbar und nahm die zierliche, kraftlose Hand meines Sohnes. Der schlimme Vorfall hatte ihm so viel abverlangt, dass er während der Fahrt einschlief, obwohl über ihm die Sirenen heulten. Mir dagegen war zumute, als hätte ich eine Handvoll Amphetamine geschluckt. Und so sah ich wahrscheinlich auch aus, denn die Sanitäterin fragte: »Wie geht es Ihnen?« Sie legte mir eine Decke um, und erst da wurde mir bewusst, dass ich einfach in meinen nassen Sachen in den Rettungswagen gestiegen war. Das Haar klebte mir an der Stirn. Ich fing an zu zittern und zog die Decke mit einer Hand fester um mich.

»Ich bin erschrocken, das ist alles. Und ich mache mir Sorgen. Kann man meinem Sohn helfen?«

»Wir bringen ihn ins Brandwundenzentrum. Dort wird man sich gut um ihn kümmern.«

Das war keine Antwort auf meine Frage, das wussten wir beide, aber wir wussten auch beide, dass sie nicht mehr tun konnte als das: mich beruhigen. Meinem Gefühl nach dauerte die Fahrt endlos lange, und ich stellte mir vor, dass Gregorys kleiner Körper mit jeder vergehenden Minute schlimmer geschädigt wurde.

»Selbst haben Sie kein kochendes Wasser abbekommen?«

»Nein, ich bin nur nass, weil ich meinen Sohn unter der Dusche trösten wollte.«

Ungeduldig schaute ich nach draußen. Allerdings half das nichts, denn ich hatte keine Ahnung, wo wir gerade waren.

»Noch fünf Minuten«, meinte die Frau.

Ich zählte mit. Auf diese Weise hatte ich etwas zu tun. Ich musste Nikolaj anrufen, auch wenn mir vor dem Telefonat schon graute.

Im Brandwundenzentrum ging plötzlich alles sehr schnell. Als die Trage aus dem Rettungswagen geholt wurde, wachte Gregory auf. Zwei Ärzte warteten auf uns, ein älterer Mann mit beginnender Glatze und eine junge Frau. Sie sahen, dass Gregory wach und ansprechbar war, und berieten sich kurz mit den Leuten vom Rettungsdienst. Danach übernahmen sie. Ich hielt immer noch die Hand meines Sohnes fest, und so kamen wir in ein Zimmer, wo uns weiteres Klinikpersonal erwartete.

Um den Ärzten und Pflegekräften ihre Arbeit zu ermöglichen, musste ich Gregorys Hand loslassen. Voller Panik schaute er sich um.

»Ich bin hier, Schatz. Ganz in deiner Nähe.«

»Du sollst herkommen.«

»Wenn ich hier stehe, können die Ärzte besser arbeiten, mein Schatz. Dann ist es umso schneller vorbei.«

Am liebsten wäre ich weggerannt, bis das Ganze erledigt war. Das hier kam mir alles viel zu bekannt vor. Der schmale kleine Körper meines Sohnes wich dem meiner Tochter. Ich schüttelte den Kopf. Nein, nicht daran denken. Ich zwang mich, Gregory anzusehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich auf beruhigende Weise. Er atmete, er lebte.

Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht selbst zu hyperventilieren, und konzentrierte mich auf meine Atmung. Meine Beine waren schlaff, und ich lehnte eher an der Wand, als dass ich stand. Mit den Nägeln krallte ich mich fest, bis meine Fingerspitzen schmerzten.

»Mama«, erklang ein klägliches Rufen. »Ich will meine Mama.«

»Ich bin hier, du hast es gleich geschafft.«

»Nicht. Nicht anfassen.« Gregory begann um sich zu schlagen und zu treten. Er schubste die helfenden Hände weg und wollte aufstehen. Man drückte ihn zurück auf die Trage, und dadurch wurde er noch hysterischer. Die leisen, sanften Worte der Ärzte und Schwestern halfen nichts und wurden bald zu Ermahnungen.

»Du musst jetzt wirklich still liegen, Gregory.«

»Hör zu, Gregory, so machst du das Ganze nur schlimmer und bekommst noch mehr Schmerzen.«

»So geht das nicht«, beschwerte sich einer der Ärzte.

Ich konnte es nicht länger mitansehen und drängte mich zwischen allen hindurch. Dann nahm ich Gregorys Hand und legte ihm die andere auf die klamme, fiebrige Stirn.

»Ich habe solche Angst«, rief Gregory weinend.

»Er hat einen Unfall gehabt, vor zwei Jahren. Damals ist seine Zwillingsschwester gestorben. Im Krankenhaus …«, stammelte ich. Krankenhäuser assoziiert er mit dem Tod, wollte ich sagen, aber plötzlich war mir der Hals wie zugeschnürt.

»Wir machen eine Vollnarkose«, entschied ein Arzt. Sein Befehl wurde sofort befolgt – die Pflegekräfte brachten die benötigten Geräte. »Wir halten dir jetzt diese Maske an den Mund, und dann schläfst du ein.«

»Ich will nicht.« Gregory stieß die Maske weg.

Der Pfleger schaute mich an, und ich nickte. »Es wird dir helfen, etwas ruhiger zu werden. Tu es mir zuliebe, Schatz. Wenn du dann aufwachst, ist alles vorbei.«

Der Pfleger wartete Gregorys Antwort nicht ab, sondern drückte ihm die Maske auf Mund und Nase. Gregory schaute panisch um sich und wollte protestieren, doch dann fielen ihm die Augen zu. Seine Hand erschlaffte.

Es war, als durchlaufe ein kollektiver Seufzer den Raum. Wieder kehrte Stille ein.

»Schön, dann können wir ja weitermachen«, kommentierte der Arzt.

Ich fühlte mich zittrig. Erschöpft. Schwankend machte ich ein paar Schritte rückwärts und lehnte mich an die Wand. Eine der Schwestern kam auf mich zu. »Sie sehen aus, als müssten Sie sich kurz hinsetzen. Einen Moment, ich bringe Ihnen eine Tasse Tee.«

Mir wäre etwas Stärkeres lieber gewesen, etwas viel Stärkeres. Widerstandslos ließ ich mich aus dem Zimmer führen, nachdem ich einen letzten Blick auf meinen Sohn geworfen hatte. Die Schwester brachte mich zu einem Stuhl, und ich sank darauf nieder. Wenig später erschien die Frau mit einem Plastikbecher glühend heißem Tee. »Mit ordentlich viel Zucker drin«, meinte sie. »Können wir jemanden für Sie anrufen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss gleich meinen Mann benachrichtigen. Gibt es hier Fernsprecher?«

»Die meisten Leute haben heutzutage ein Handy, aber Sie können gern schnell das Telefon am Empfang benutzen«, gab sie zurück.