49.

Mischa

Gegenwart

Das Geräusch der Schleusentür erklang, doch ich wagte die Augen nicht zu öffnen. Ich hatte Angst, es wäre wieder Hans Waanders, fürchtete mich vor seinen Fragen, die wie ein Hobel alle Lügen abtrugen, eine nach der anderen, bis nur die nackte, kahle, hässliche Wahrheit übrig blieb.

Gott sei Dank war es John. Er hatte zwei Gläser Nutella in den Händen. »Ich dachte, du schläfst. Gerade wollte ich alles auf den Tisch stellen und wieder gehen.«

Nach Waanders’ Aufbruch hatte ich sofort John angerufen. Weil er nicht abnahm, hatte ich ihm eine SMS geschickt, in der ich ihn bat, so schnell wie möglich zu mir zu kommen. Ich brauchte jemanden, der mir als Airbag diente, der die Stöße von mir abhielt, ein Sprungnetz, das meinen Fall bremste. Meine Mutter konnte ich nicht anrufen, denn sie wäre hysterisch geworden.

»Wage es ja nicht«, sagte ich und streckte die Hände nach den Gläsern aus, die mir John überreichte. Ich legte sie zu beiden Seiten von mir hin, genauso wie ich vor Jahren mit den Zwillingen im Bett gelegen hatte. Mit Natalja, die zusammengerollt auf die Hälfte meines Unterarms passte, die kleiner und schwächer gewesen war als ihr Bruder.

Ich ließ den Kopf wieder ins Kissen zurücksinken. »Die kannst du mir bald ins Gefängnis bringen. Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten«, meinte ich. Diese Worte brachte ich nur mühsam hervor und erzählte ihm von Waanders’ Besuch.

»Lass dir keine Angst einjagen«, meinte John. »Das will er doch, dich nervös machen, damit du möglicherweise Dinge sagst oder tust, die er gegen dich verwenden kann. Er hat aber überhaupt keine Beweise.«

»Die hat er doch«, sagte ich voller Panik. »Hast du mir nicht zugehört?«

»Ich habe dir zugehört, aber jetzt musst du mir zuhören. Ich habe nämlich Neuigkeiten für dich, und diese Neuigkeiten werden vielleicht den ganzen Ermittlungen eine andere Richtung geben.«

Ich nickte duldsam, spürte, wie ich in ein Meer der Lethargie versank, weil mein Körper durch die so schlimmen Gedanken schwer wurde – sie hefteten sich an meine Arme und Beine, sodass ich den Kopf nicht an der Oberfläche halten, nicht atmen konnte. Fühlte sich so eine Panikattacke an?

»Wie du weißt, hat Nik seine Giselle-Version ans Theater von Van Campen verlegt.«

»Nachdem man die Giselle wegen deines Jubiläums verschoben hat, ja.« Ruhig ein- und ausatmen. Ein. Aus.

»Gerade habe ich erfahren, dass das Theater am Tag vor dem Brand durch den Sturm beschädigt wurde.«

Wie durch einen Nebel schaute ich John an.

»Ich habe mit dem Gebäudeeigentümer gesprochen, wir kennen uns noch von früher, und er hat mir von seinem Gespräch mit Nik erzählt. Er fühlte sich ziemlich mies, weil Nik nicht versichert war.«

»Was?« Ganz kurz schien mir das Herz im Körper zu schweben und dann mit einem Schlag wieder an seinen alten Platz zurückzufallen.

»All das Geld, das er in die Sache gesteckt hat, ist also futsch.«

Plötzlich war mir alles klar. Deswegen hatte Nik nichts von unserem Sparkonto auf das andere Konto überwiesen. Es gab kein Geld mehr auf dem Sparkonto. Trotzdem begriff ich immer noch nicht, wie sich das auf die Ermittlungen auswirken sollte.

»Die Lebensversicherung …«, fuhr John fort.

Plötzlich verstand ich, was er meinte. »Natürlich, Nik wollte mich ermorden, um eine halbe Million Euro einzustreichen, damit er seine Schulden abbezahlen konnte«, brachte ich mit erstickter Stimme heraus. Die enorme Erleichterung, die ich nun empfand, ließ einen Kloß in meinem Hals entstehen.

»Es sieht ganz danach aus«, meinte John.

»Du musst mit Waanders sprechen.«

John packte meine Hand und beugte sich vor, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. Dankbar schmiegte ich mich an ihn. John rettete mich, wie immer.