51.

Nikolaj

Gegenwart

»Hast du noch Ärger bekommen deswegen?«, fragte ich Jantien. Ich schlurfte vom Bett zum Tisch, während sie mich beobachtete. Ein paar Minuten war sie nun hier, und sie sprach nicht viel, nur das Nötigste; Blickkontakt vermied sie. Endlich erwischte ich sie allein. Davor war sie immer zusammen mit Willy gekommen, und ich hatte sie nichts fragen können. Ich wollte wissen, was Hans Waanders aus meinen Beschuldigungen gegenüber Mischa gemacht hatte.

Sie wusste sofort, was ich meinte. »Willy hat gesagt, ich muss angemessenen Abstand zu den Patienten halten. Pffft, als würde sie das immer tun«, berichtete Jantien empört. »Nur weil sie hier schon länger arbeitet als ich glaubt sie, sie könnte sich mir gegenüber aufspielen.«

Ich musste lachen.

»Ja, sehr lustig. Ich habe noch keinen festen Vertrag hier, ich muss mich also gut benehmen.«

»Ich kann doch mit ihr sprechen«, bot ich an.

»Lieber nicht, dann weiß sie, dass wir geredet haben. Oder geklatscht, wie sie das nennt.«

»Hast du denn neuen Klatsch für mich?« Langsam ließ ich mich in einen Sessel sinken.

»Die Polizei ist wieder bei ihr gewesen. Ach, warte, wenn man vom Teufel spricht …«, meinte sie, als Hans Waanders in der Schleuse erschien.

»Lass ihn das lieber nicht hören«, meinte ich.

»Lass das lieber nicht Willy hören.«

Wir lachten noch, als der Ermittler den Raum betrat. Etwas an ihm hatte sich verändert, auch wenn ich nicht gleich sagen konnte, was es war. Lag es daran, wie er mich ansah? An seiner Haltung? Nein, es war sein Blick. Er musterte mich. Schlimmer noch, er tat es mit einer gewissen Selbstzufriedenheit.

Ich wurde unruhig. Ich stand auf, allein schon, weil ich ihn so um mindestens zwanzig Zentimeter überragte.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Hans Waanders.

»Ein bisschen Bewegung tut mir gut«, erwiderte ich. Es tat entsetzlich weh, und ich bereute es sofort, aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Wie ein alter Mann schlurfte ich durch den Raum, mit gekrümmtem Rücken. Die Haut, die man an diese Stelle transplantiert hatte, gab keinen Millimeter nach. Ich fürchtete, sie würde reißen, wenn ich mich zu sehr aufrichtete – als wäre ich dazu überhaupt in der Lage gewesen. An meinem Oberschenkel fehlte nun ein Stück, etwa zehn Zentimeter lang und drei Zentimeter breit, und dadurch glich die Stelle einer Hügellandschaft. Gestern hatte man dort das verbrannte Gewebe weggemacht. Weggeschabt. Zehn Prozent pro Operation, hatte mir der Arzt erklärt. Danach standen mir noch zwei weitere Eingriffe bevor, an der Schulter und am Rücken. Pro Woche wächst Haut einen Millimeter. Eine Wunde verheilt vom Wundboden aus. Bei mir war dieser Wundboden jedoch so stark beschädigt, dass die Heilung von den Wundrändern erfolgen musste. Man hatte ein Stück Haut von meinem gesunden Oberschenkel genommen und sie daraufgesetzt. Dann erfolgte die Heilung innerhalb von fünf Tagen, sofern die Haut gut mit dem Rest verwuchs und keine Infektion entstand, lautete die optimistische Botschaft.

Ich fühlte mich völlig erschöpft, hatte größere Schmerzen als vorher und absolut keine Lust auf neue Beschuldigungen oder Fragen des Ermittlers.

»Dann lasse ich Sie mal allein«, verkündete Jantien.

»Wie ich sehe, haben Sie die Schwester auch um den Finger gewickelt«, kommentierte Hans Waanders, nachdem Jantien durch die Schleuse verschwunden war.

»Eifersüchtig?«, fragte ich.

»Nicht einmal hier können Sie es lassen.«

»Ich bin ein freier Mann.«

»Das waren Sie vorher nicht, und Sie haben trotzdem gemacht, was Sie wollten.«

»Die Vereinbarung zwischen Mischa und mir geht Sie nichts an.«

»Oh doch, wenn sie ein Mordmotiv darstellt.«

»Hat Mischa darum das Feuer gelegt?«

»Dieser Punkt geht an Sie«, gab Waanders zurück. »Aber ich bin nicht gekommen, um über Ihre Affären zu reden …«

»Folgen Sie diesem Beruf aus einer Berufung heraus?«, unterbrach ich ihn.

»So wie Sie dem Tanz aus einer Berufung heraus folgen?«

»Tanzen ist keine Berufung, es ist eine Lebensweise.« Ich schaute auf die Uhr über der Schleuse. »Es ist fast fünf, und bald gehen Sie nach Hause. Sie kaufen ein, kochen oder schieben sich ein Gericht in die Mikrowelle, und dann schauen Sie den ganzen Abend fern. Kunst dagegen betreibt man vierundzwanzig Stunden am Tag.«

»Ganz offensichtlich fühlen Sie sich mir überlegen. Aber auch unter Künstlern gibt es Verbrecher. Sie sind ganz eindeutig nicht besser als der Rest der Menschheit, nur weil Sie Ihren Körper extrem verbiegen können.«

Ich musste lachen. »Haben Sie schon einmal eine Ballettaufführung besucht?«

Hans Waanders schüttelte den Kopf.

»Sobald ich wieder auf den Beinen bin, lade ich Sie dazu ein.«

»Sobald Sie wieder auf den Beinen sind, gehen Sie ins Gefängnis. Begreifen Sie eigentlich den Ernst Ihrer Lage? Ihnen steht eine Anklage wegen versuchten Totschlags bevor, vielleicht sogar wegen Mordversuchs, wenn wir beweisen können, dass Sie vorsätzlich gehandelt haben. Und das Abschließen einer neuen Lebensversicherung von einer halben Million Euro vor ein paar Monaten deutet stark darauf hin.«

Wovon sprach er da? Ein Gefühl des Unbehagens breitete sich wie eine Infektion in meiner Brust aus. »Nein, nein, das muss Mischa gewesen sein.«

»Unterschrieben haben aber Sie beide.«

»Das heißt nicht viel, fürchte ich. Mischa lässt mich ständig Dokumente unterzeichnen.«

»Und Sie lesen diese Dokumente nicht?«

»Mein Niederländisch ist nicht so gut, wie ich das gerne hätte. Hören Sie, ich wurde gerade erst operiert, können wir dieses Gespräch bitte ein andermal führen?«

»Wir können dieses Gespräch auch sehr kurz halten. Sie brauchen nur mit Ja oder Nein zu antworten.«

Ich gab nach. Alles andere hätte mich zu viel Energie gekostet. »Und was war noch einmal die Frage?«

»Sie haben eine Lebensversicherung abgeschlossen und das Feuer gelegt, um Ihre Frau zu ermorden, weil Sie das Ganze wie einen Unfall aussehen lassen wollten. Mit dem Geld für die Lebensversicherung wollten Sie Ihre Schulden begleichen.«

Innerlich fluchte ich. Wer hatte da geredet? »Welche Schulden denn?«

»Ich habe mit John Romeijn gesprochen. Er hat mich über Ihr Vorhaben informiert, in Eigenregie ein Ballett aufzuführen. Von ihm weiß ich auch, dass dieses Projekt geplatzt ist, weil der Sturm das Gebäude beschädigt hat, in dem die Vorstellung hätte stattfinden sollen.«

Dieses Arschloch. In all den Jahren war sein Hass auf mich nicht weniger geworden. »John würde ich an Ihrer Stelle kein Wort glauben. Er ist schon seit Ewigkeiten in Mischa verliebt und betrachtet mich als seinen schlimmsten Feind. Ich stehe zwischen ihm und seiner großen Liebe.«

»Ein Blick auf Ihre Bankkonten zeigt, dass Sie tief in den roten Zahlen stecken. Von Ihren Ersparnissen ist nichts mehr übrig, und Sie haben sich von der Bank Geld geliehen.«

»Vor Kurzem sind Sie hier erschienen und haben behauptet, ich wäre ein Mann, der seine Impulse nicht unter Kontrolle hat. Wie passt das zu dem Bild eines Mannes, der immer vorsätzlich und nach Plan handelt?«

»Jetzt zeigt sich ja, dass das eine das andere nicht ausschließt. Auf der Basis dieser neuen Informationen gibt es genug Beweise, um Sie zum Beschuldigten erklären zu können.«

Bis jetzt hatte ich die Gespräche mit Waanders als eine Art sportlichen Kampf betrachtet. Er schlug zu, dann ich. Ich hatte das Ganze nicht ernst genommen, weil ich nie damit gerechnet hatte, er würde irgendwelche Beweise für meine Taten finden. Das war ein großer Fehler gewesen, wurde mir zu spät bewusst. Hans Waanders war die Sache die ganze Zeit ernst gewesen. Ich sah den Schlag nicht kommen und wurde ausgeknockt.

»Nikolaj Iwanow, ich verhafte Sie wegen versuchten Mordes an Mischa de Kooning.«