34.

Mischa

Ich wollte gerade telefonieren gehen, als der Arzt, der sich über Gregorys Verhalten verstimmt gezeigt hatte, aus dem Behandlungszimmer kam. Er war in ein Gespräch mit einer Frau mittleren Alters vertieft: schlank, klein, das graue Haar in einem unordentlich geflochtenen Zopf.

Die beiden unterhielten sich leise, aber weil ich mich ganz in der Nähe befand – war ihnen das überhaupt bewusst? –, konnte ich das meiste verstehen, auch wenn ich mich dafür sehr anstrengen musste. Ich glaubte, etwas über weitere Anzeichen von Misshandlung zu hören, und darüber, dass Gregory für sein Alter sehr klein und leicht war. Ich wollte aufspringen und rufen, er sei ganz einfach so und auch schon immer so gewesen. Seit seiner Geburt, seit den allerersten Vorsorgeuntersuchungen bekam ich das zu hören. Es hatte mir immer das Gefühl vermittelt, ich würde nicht gut für ihn sorgen. Das hatte ich vielleicht auch nicht getan, aber nicht, was das Körperliche betraf. Ich hatte ihn noch nie geschlagen, ihm noch nie Essen entzogen. Plötzlich war der Arzt vom Retter zum Feind geworden, der eine Bedrohung für mein bereits so angegriffenes Familienglück darstellte.

Und warum kamen sie nicht zu mir? Ich wollte wissen, wie es meinem Sohn ging. Ich hatte ein Recht darauf zu erfahren, wie es um ihn stand. Mit wenigen Schritten hatte ich die beiden erreicht und unterbrach ihr Gespräch: »Wie geht es Gregory? Kann ich ihn sehen?«

»Wir kümmern uns noch um ihn und werden ihn für eine Weile schlafen lassen.«

»Was tun Sie dann hier draußen? Warum sind Sie nicht bei ihm?«

»Meine Kollegen sind Experten und können die Behandlung nun ohne mich fortsetzen.«

»Und was ist mit mir? Warum kommt niemand zu mir? Ich warte hier schon seit Stunden.« Meine Stimme klang schrill. Hoch. Zu hoch, fast hysterisch. Hysterische Frauen nahm niemand ernst. Ich spürte ihre Blicke wie heiße Hände auf meiner Haut.

»Sie haben völlig recht, entschuldigen Sie«, versuchte mich der Arzt zu beschwichtigen.

»Ich bin seine Mutter …« Mir brach die Stimme.

»Ich war davon ausgegangen, dass die Pflegekraft, mit der Sie das Zimmer verlassen haben, Sie über alles informiert hätte.«

»Warum sprechen Sie so über meinen Sohn, wie Sie es vorhin getan haben?«

Einigermaßen erschrocken schauten die beiden sich an. Die Frau, die sich mit dem Arzt unterhalten hatte, streckte mir die Hand hin und stellte sich als Doktor de Groot vor, Kinderärztin. »Nehmen Sie mir das nicht übel«, sagte sie. »Unser Austausch war nicht für Ihre Ohren bestimmt.«

»Was ist denn los?«

»Machen Sie sich keine Sorgen, eine solche Beratung gehört zum Standardverfahren, wenn Kinder nach Unfällen eingeliefert werden. Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen.« Sie schlug vor, wir sollten uns hinsetzen, und ich folgte ihr in ein kleines Zimmer, in dem sich nur ein Tisch und vier Stühle befanden. Kalt war es dort.

»Denken Sie etwa, ich hätte das getan?«

»Das sage ich gar nicht«, erwiderte die Kinderärztin in beschwichtigendem Ton. »Wir möchten lediglich herausfinden, was vorgefallen ist.«

»Damit Sie entscheiden können, ob ich mein Kind misshandle oder nicht.« Ich wusste, ich hätte froh sein müssen, dass es Menschen wie sie gab, denn sie tat nur ihre Arbeit, und auf diese Weise rettete sie vielen Kindern das Leben. Doch jetzt, wo ich selbst ins Visier der Mediziner geraten war, trat dieses Gefühl in den Hintergrund. Schon allein deswegen fühlte ich mich schmutzig. Schuldig. Natürlich war ich das auch. Ich hatte nicht gut auf Gregory aufgepasst.

Widerwillig berichtete ich. Nach dem Unfall vor zwei Jahren hatte ich mich mit Büchern zum Thema Verlust beschäftigt und gelesen, dass man ein Kind nach einem traumatischen Ereignis seine Geschichte immer wieder erzählen lassen sollte. Als Vater oder Mutter hatte man das Gefühl, das Kind beruhigen zu müssen. Dann behauptete man, es sei alles nicht so schlimm, und versuchte das Kind mit irgendwelchen Aktivitäten abzulenken, aber das war völlig falsch. Auf diese Weise konnte das Kind das Trauma nicht verarbeiten. Jetzt fragte ich mich, ob das nur für Kinder galt.

»Haben Sie oder Ihr Sohn den Topf vom Herd gestoßen?«, fragte Doktor de Groot.

»Ich … Ich weiß es nicht. Es war ein Unfall.«

»Sind Sie an den Topf gekommen?«

Sollte ich die Schuld auf mich nehmen, war das besser? Oder genau falsch? Aber ich hatte es nicht absichtlich getan.

»Es war ein Unfall«, wiederholte ich.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir mit Ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen?«

Mir fiel die Kinnlade herunter. Die ganze Situation, allein die Frage, all das machte mich so aggressiv, dass ich die Frau am liebsten schlagen wollte. Mir war kalt, ich hatte Hunger, ich war erschöpft und hatte Angst. Und ich musste ganz dringend zur Toilette.

»Warum denn?«

»Wir möchten uns gern ein Bild von Ihrem Sohn machen, von Ihrer Familie …«

»Was wollen Sie wissen? Das können Sie mich doch auch einfach selbst fragen. Wir haben als Familie schon genug durchmachen müssen. Vor zwei Jahren haben wir bereits Gregorys Schwester verloren …« Abrupt hielt ich inne. Warum hatte ich das gesagt? Ich wusste, wie das in den Ohren der Ärztin klingen musste. Jetzt hatte ich ihr Misstrauen geweckt. Und »bereits«? Ich würde Gregory nicht verlieren.

»Ihre Tochter ist gestorben?«, fragte de Groot.

Ich nickte.

»Wie ist das passiert?«

Die Frage klang alles andere als mitfühlend.

Plötzlich sah ich mich selbst mit den Augen der Ärztin, und ich wirkte nicht gerade beherrscht. »Ich muss zur Toilette«, sagte ich. Als ich mich erhob und das Zimmer verließ, um ein WC zu suchen, hielt sie mich nicht zurück. In der Kabine ließ ich mich auf die Brille sinken und versuchte, mich zu beruhigen.

Der Umzug nach Amsterdam war für uns als Familie als Neubeginn geplant gewesen, aber mehr und mehr ging schief. Was hatte ich denn anderes erwartet? Wir hatten unser Leben auf vier stabilen Pfeilern errichtet, doch durch Nataljas Tod war einer von ihnen gewaltsam weggeschlagen worden und dadurch alles unwiderruflich ins Rutschen geraten, geradewegs in einen unendlich tiefen Abgrund hinein.