Gegenwart
Ich liebe dich, Mama.
Ich vermisse dich, Mama.
Wann kommst du nach Hause?
Als ich Gregorys Nachrichten las, musste ich wieder weinen. Er hatte mir auch ein paar Fotos von sich geschickt, und ich küsste das Display.
Meine Finger schwebten über den Buchstaben.
Ich liebe dich auch.
Ich vermisse dich.
Wir sehen uns bald wieder.
Sei lieb zu Oma.
Danach öffnete ich den Web-Browser und suchte nach Rezensionen zu Mata Hari. Mir war die Ehre zugefallen, in Kais neuem Werk die Titelrolle zu tanzen. Irgendwie empfand ich eine Verwandtschaft mit Mata Hari, die in Wirklichkeit Margaretha Geertruida Zelle hieß, eine exotische Tänzerin aus den Niederlanden, die die Franzosen 1917 der Spionage für schuldig befunden hatten. Sie wurde erschossen. Kais Ballett zeigte verschiedene Phasen ihres Lebens, vor allem aber ging es um Mata Hari als Tänzerin und Doppelspionin, die ihre Verführungskünste einsetzte, um ihren vielen Geliebten Militärgeheimnisse zu entlocken. Eine echte Femme fatale, die durch ihren Verrat ihre große Liebe verlor.
In einer Rezension las ich, dass Anna die Premiere getanzt hatte, zusammen mit Matthias. Ich schloss die Seite wieder, weil ich zum Weiterlesen nicht imstande war. Ich hätte dort auf der Bühne stehen sollen, nicht sie. Auch wenn ich sie nicht gerade darum beneidete, dass sie mit Matthias hatte tanzen müssen. Matthias war ein begnadeter Tänzer, aber manchmal auch faul. Ich ärgerte mich maßlos darüber, wie oft er Pausen machte. Einmal hatte ich ihn darauf angesprochen, und er hatte erwidert, er habe alle Zeit der Welt. Gerade darin bestand das Problem. Ich hatte keine Zeit, ich wollte irgendwann nach Hause, zu meinem Kind, nur konnte ich das nicht laut sagen. Selbst schuld, dass du Mutter geworden bist, konnte ich ihn förmlich denken hören. Ich gehörte zu den wenigen Top-Solistinnen mit Kind. In unserer Welt lebte und atmete man den Tanz. Etwas anderes gab es nicht.
Wenn man ein Kind wollte, bedeutete das das unwiderrufliche Ende der Tanzkarriere. Zumindest für Frauen. Man hatte ganz einfach keine Zeit, keine Energie. Außerdem setzte eine Schwangerschaft dem Körper einer Ballerina sehr heftig zu. Eine Tänzerin konnte sich nicht sicher sein, jemals wieder ihr altes Niveau zu erreichen. Ich hatte allen zeigen wollen, dass das sehr wohl möglich war. In meinem Leben waren mir schon häufiger Dinge gelungen, die unmöglich schienen. Auch dieses Mal würde ich es schaffen, das hatte ich mir vorgenommen. Ich würde zu meiner alten Form zurückfinden und wieder auf der Bühne stehen.
Erneut betrachtete ich Gregorys Foto. Ich studierte sein Gesicht, als könnte ich von dem Bild ablesen, wie es ihm ging. Das Foto brachte mich auf eine Idee. Mithilfe der Kamerafunktion würde ich mich sehen können – bisher hatte man mir hier keinen Spiegel geben wollen.
Ich aktivierte die Kamera und stellte die Selfie-Funktion ein. Ein Jammerlaut entfuhr mir, und voller Abscheu betrachtete ich mich. Am ehesten glich ich einer Mumie. Nur Kinn, Lippen, Augen und Stirn waren zu sehen. Den Rest verbarg der Verband. Mein Gesicht war zweimal so dick wie sonst. Aufgedunsen. Und mein Haar, oder besser das, was davon übrig war, ragte wie ein armseliger Strauch darunter hervor.
Die Tür zur Schleuse öffnete sich, und wie ertappt legte ich das Handy hin. Der Ermittler. Ich war so sehr damit befasst gewesen, mich selbst zu betrachten, dass ich ihn in der Schleuse nicht gesehen hatte. Seine Anwesenheit war wie ein Überfall.
»Haben Sie …?«, fragte ich, noch immer ziemlich betäubt.
»Das Einverständnis der Ärzte? Natürlich. Sie können gern nachfragen.«
»Schon in Ordnung«, gab ich zurück. Vielleicht war es ja gut, wenn er mich in diesem Zustand sah: schwach, hilflos und am Ende. Alles durch Niks Schuld.
Ich war froh darüber, dass Willy den Ermittler gestern so zusammengestaucht hatte. Das hatte mir Zeit verschafft, darüber nachzudenken, was ich sagen sollte. Nie hätte ich geglaubt, die Rolle meines Lebens einmal in einem Krankenhausbett zu spielen statt auf der Bühne.
Er gab mir die Hand, was sich durch das Plastik komisch anfühlte, und deutete mit einem Nicken auf den Stuhl neben meinem Bett. »Darf ich?«
»Natürlich.«
Waanders setzte sich und schlug die kurzen Beine übereinander. Seine Füße berührten den Boden nicht. Das Ganze sah lächerlich aus. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen – jetzt, wo Sie das Vorgefallene noch frisch im Gedächtnis haben«, erklärte er.
»Das Haus … es gehört uns nicht.« Waren wir versichert? Oder mussten die Eigentümer versichert sein? Ich hatte keine Ahnung. Noch mehr Sorgen. Ich fummelte am Laken herum. Das Licht schien mir so sehr in die Augen, war so grell.
»Das hat man mir bereits gesagt. Es gehört Ihren Freunden.«
»Wissen Sie schon, was …?«
»Wir haben sie noch nicht erreichen können.«
»Es tut mir so schrecklich leid für sie. Ihre ganzen Sachen …« Und unsere, obwohl sich das meiste noch in unserem Haus in London befand.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Wie Sie schon sagten, es sind nur Sachen. Es hätte auch Tote geben können.« Er schwieg kurz. »Und wenn ich das richtig verstehe, hätte es wohl auch Tote geben sollen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich das so direkt formuliere. Gestern haben Sie oder besser Ihre Mutter gesagt, dass Ihr Mann für den Brand verantwortlich ist, weil er Sie ermorden wollte. Stimmt das so?«
Ich nickte und sank in mich zusammen.
»Und warum glauben Sie das?«
»Ich … Bitte?«
»Warum sollte er Sie ermorden wollen?« Der Ermittler schaute mich mit einem forschenden, durchdringenden Blick an.
»Ich wollte mich von ihm trennen.« Meine Wangen fühlten sich nass an, und mir wurde klar, dass ich weinte.
Waanders machte ein skeptisches Gesicht. »So hat Ihr Mann mir das nicht erzählt. Ihm zufolge war es genau andersherum: Er wollte Sie verlassen, weil Sie ein Alkoholproblem haben.«
Ich schnappte nach Luft. Beleidigt. Wütend. Empört. »Das ist eine Lüge.«
»Ich habe mit Kai van Wijnen gesprochen, und von ihm weiß ich, dass er Sie nicht wie vorgesehen als erste Solistin in der neuen Produktion einsetzen konnte.«
»Sie lügen.«
Aus der Tiefe meines Gedächtnisses tauchte eine Erinnerung auf. Kai, der mich nach der Probe beiseitegenommen und gesagt hatte, er wolle mich sprechen. Ich hatte genickt, war aber nach den Proben nicht zu ihm ins Büro, sondern nach Hause gegangen. Tief in meinem Inneren hatte ich gewusst, worum es in diesem Gespräch gehen würde. Ich wollte diesen Moment hinauszögern. Den Moment, in dem mein Untergang beginnen, in dem ich denselben Weg beschreiten würde wie die anderen großen Primaballerinas vor mir: Ich wurde von der jüngeren Generation eingeholt. Darum hatte ich zu Hause eine Flasche Wein geöffnet. Ich wollte den Augenblick selbst bestimmen und hatte mir vorgenommen, am nächsten Morgen zu Kai zu gehen und ihm mitzuteilen, dass es an der Zeit für mich sei, mit dem Tanzen aufzuhören. Ich wollte mir die Würde nicht nehmen lassen.
Aber all das brauchte Waanders nicht zu wissen. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Offenheit und Ehrlichkeit nur verwundbar machten.
»Aus demselben Grund haben Sie auch das Royal Ballet verlassen. Ihr Alkoholmissbrauch wurde zum Problem.«
»Das stimmt nicht.«
»Warum sind Sie dann von dort weggegangen?«
»Ich wollte zurück in die Niederlande, weil ich Heimweh hatte. Am Royal Ballet hatte ich alle großen Rollen getanzt, alles erreicht, mich genug bewiesen.« Ich hatte wegen des Unfalls weggewollt, weil alles und jeder mich dort an meine Tochter erinnerte, doch das ging ihn nichts an.
»Sie leiden also nicht unter einem Alkoholproblem, wie alle sagen?«
»Es ist schon möglich, dass ich in der letzten Zeit etwas mehr trinke als normal, aber dafür gibt es einen Grund.« Ich fühlte mich hilflos, wie ein Käfer auf dem Rücken.
»Und der wäre?«
»Wie kann ich sicher sein, dass das, was ich Ihnen erzähle, nicht morgen in allen Zeitungen steht?«
»Das können Sie nicht. Aber ich stecke gerade in einer Ermittlung, also …« Fragend schaute mich Waanders an.
»Wir sind vor Kurzem aus London nach Amsterdam gezogen. Alles ist neu, anders. Gregory muss sich an viele Dinge gewöhnen, an die Sprache, die neue Umgebung. Er vermisst seine Freunde … Ich studiere gerade ein neues Ballett ein, und wir leben noch zwischen Umzugskartons. Die vergangenen paar Monate waren äußerst stressig«, kämpfte ich mich mühsam vorwärts.
»Und als wären das nicht schon genug Veränderungen, wollten Sie sich auch noch scheiden lassen.«
Es war schwierig, den Gesichtsausdruck seines Gegenübers gut zu erkennen, wenn man nur dessen Augen sehen konnte. Ich nickte und hielt mich zurück.
»Warum?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Sie behaupten, Ihr Mann habe die Absicht gehabt, Sie zu ermorden, weil Sie sich scheiden lassen wollen. Da habe ich sehr gute Gründe, Ihnen diese Frage zu stellen, scheint mir.«
»Wie lautet auch wieder diese schöne Redensart – das Ende der Fahnenstange ist erreicht?«
»Meiner Erfahrung nach benutzen die Leute solche Plattitüden vor allem, wenn sie sich nicht zum wahren Grund äußern wollen, oder zu mehreren wahren Gründen.« Bevor ich auf seine unverschämte Bemerkung reagieren konnte, fuhr er fort. »Gut, dann möchte ich, dass Sie mir jetzt erzählen, was am Abend des Feuers passiert ist.«
Ich schauderte. »Lieber nicht.«
»Ich verstehe durchaus, dass das unangenehm für Sie ist. Gut, Sie tranken also gerade Alkohol, als Ihr Mann nach Hause kam.« Ich spürte seine Ablehnung wie zwei kalte Hände an meinem Hals.
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Versuchte er mich so aus der Reserve zu locken? »Ich hatte mir ein Gläschen Wein eingegossen, nachdem ich nach Hause gekommen war. Gregory war bei einem Freund auf Übernachtungsbesuch. Weil wir also endlich einmal allein waren, hatte ich vor, meinem Mann zu sagen, dass ich mich scheiden lassen wollte.«
»Und das haben Sie auch getan.«
»Ja.«
»Wie hat er reagiert?«
»Wir haben uns gestritten. Er wollte eine Paartherapie, aber ich war dagegen. Für mich war nichts mehr zu machen, und ich habe gesagt, dass ich ausziehen würde, zusammen mit Gregory.«
»Wohin denn?«
»Zu meiner Mutter. Ich bin nach oben gegangen, um meine Sachen zu packen. Ich war entsetzlich müde von den Proben und dem Streit und muss mich wohl kurz auf Gregorys Bett gelegt haben, denn als ich wach wurde, war das ganze Schlafzimmer voller Rauch. Ich bin nach unten gegangen. Da war Nikolaj. Wir haben gekämpft, daran erinnere ich mich noch. Er hat mich gestoßen, und irgendwann muss ich das Bewusstsein verloren haben. Ich habe keine Ahnung, was danach passiert ist.«
»Einer der Feuerwehrmänner hat Sie gefunden. Im Garten hinter dem Haus. Haben Sie sich selbst in Sicherheit gebracht?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Wie ich gerade gesagt habe«, fügte ich hinzu.
Waanders stand auf. »Gut. Ich weiß fürs Erste genug.«
»Und jetzt?«
»Jetzt?«
»Ja, was werden Sie jetzt tun?«
»Die Ermittlungen weiterführen.«
»Das begreife ich nicht. Ich habe Ihnen doch gerade erzählt, was geschehen ist.«
»Ihr Wort allein reicht da nicht aus, fürchte ich.«
»Es muss aber doch Beweise geben. Wie nennt man das noch in der Fachsprache, forensisches Beweismaterial und …«
»Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir keinen einzigen Beweis für Brandstiftung finden können. Vermutlich ist das Feuer durch eine brennende Zigarette entstanden …«
»Soll das heißen, Sie glauben mir nicht?«
»Sind Sie sich der Situation bewusst, Frau de Kooning? Ihr Mann gibt an, Sie hätten ihn umbringen wollen. Außer Ihren gegenseitigen Anschuldigungen haben wir keinen konkreten Beweis gefunden, der Ihre Aussagen untermauert.«
»War das gerade eine Frage, und erwarten Sie eine Antwort von mir? Ich habe Ihnen doch eben erzählt, dass Nikolaj mich niedergeschlagen hat …«
»Dasselbe hat er über Sie gesagt.«
Ich lachte auf, kurz und scharf. »Nikolaj ist größer und stärker als ich.«
»Als das Feuer ausbrach, hat er geschlafen, behauptet er. Er wurde von dem Brandgeruch wach, und dann hat man ihn niedergeschlagen. Er hat eine Kopfplatzwunde.«
»Ach ja, dann habe ich ihm wohl mit der Pfanne eins übergebraten? Eine Kopfplatzwunde habe ich auch.«
»Während es brannte, ist Ihnen möglicherweise etwas auf den Kopf gefallen. Oder Sie haben sich die Wunde selbst zugefügt.«
»Das sind also Ihre Arbeitsmethoden? Sie denken sich solche Fantasiegeschichten aus?«, fragte ich voller Entsetzen.
»Ich suche nach Motiven. Ich führe mir mögliche Szenarien vor Augen, ja«, erwiderte Waanders unbeeindruckt.
»Und warum liege ich dann hier, so schwer verletzt?«
»Die perfekte Tarnung.«
Verblüfft schaute ich ihn an. »Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen. Ich werde nie wieder tanzen können. Warum sollte ich ein solches Risiko eingehen?«
»Vielleicht lief das Ganze ja ein ganz klein wenig anders ab, als Sie es geplant hatten. Ihr Mann kam früher dazu, es gab einen Kampf …«
»Sagt er das?«
»Sehen Sie jetzt, wo mein Problem liegt? Sein Wort steht gegen das Ihre.«
»Ihr Problem? Sie machen Witze.«
»Ganz im Gegenteil. Ihnen ist offensichtlich nicht bewusst, dass Ihnen eventuell eine Gefängnisstrafe droht. Wenn Sie ein Geständnis ablegen, wirkt sich das zu Ihren Gunsten aus. Ich kann einen Psychologen kommen lassen, der Sie untersucht und möglicherweise …«
»Was, möglicherweise? Möglicherweise werde ich dann für verrückt erklärt?«
»Sie haben einen Sohn. Da kann ein Jahr Gefängnisstrafe mehr oder weniger schon einen Unterschied bedeuten.«
»Als ob ich ihn noch zu Gesicht bekommen würde, wenn ich mal im Gefängnis gesessen habe.«
»Es lohnt sich, darüber nachzudenken.«
Wütend schüttelte ich den Kopf. Ich verschluckte mich, hustete und fasste mich dann wieder. »Sie können Nikolaj ausrichten, dass er nicht gewinnen wird, diesmal nicht.«