Gegenwart
Niemand hatte meine neue Handynummer, außer Gregory, meiner Mutter und John, und das verschaffte mir eine herrliche Ruhe. Aus Neugierde hatte ich meine Facebook-Seite besucht und auf Google nachgesehen, was es Neues über den Brand gab, doch schon nach fünf Minuten war mir schwindlig geworden. Über Facebook hatte ich Tausende von ermutigenden Nachrichten erhalten und fast genauso viele Fragen. Und natürlich waren da auch die sogenannten Tastaturkrieger. Die hinterließen auch Kommentare unter den häufig sehr einseitigen, suggestiv formulierten Artikelüberschriften:
»Feuer bei Ballettehepaar offensichtlich Brandstiftung.«
»Gerüchte: Mischa de Kooning legt Feuer.«
»Gerüchte: Nikolaj Iwanow legt Feuer.«
»Auch erste Freundin Iwanows bei geheimnisvollem Brand ums Leben gekommen.«
Woher wussten die Journalisten das?
Es gab vielerlei Reaktionen, darunter auch Spekulationen. Ich scrollte schnell hindurch, und als ich die vielen abscheulichen Kommentare las, wurde mir übel. Menschen schrieben, ich hätte mein Schicksal verdient, ich sei eine arrogante Tussi. Das stammte von einer Frau, die behauptete, einmal zusammen mit mir getanzt zu haben, doch ich erkannte den Namen nicht wieder. Es hieß, ich hätte Nik wegen seiner vielen Affären ermorden wollen. Andere ermutigten mich, weil ich schon so große Verluste hatte durchstehen müssen. Die Schreibenden – konnte man Menschen, die häufig anonym den gröbsten Schmutz online hinterließen, überhaupt so nennen? – reagierten auch untereinander auf ihre Kommentare. Sie wünschten anderen den Tod, weil die mir den Tod wünschten, oder forderten sie auf, mir gegenüber respektvoll zu sein und die Tatsachen abzuwarten, bevor sie irgendwelchen Blödsinn verzapften.
Seit ich hier lag, war die Außenwelt für mich zu einem exotischen Ort geworden: Hin und wieder dachte ich daran, und irgendwann, so hoffte ich, würde ich wieder dorthin zurückkehren. Aber da draußen wurde über uns gesprochen, über das, was vorgefallen war. Die Leute spekulierten, es wurden Lügen verbreitet. Lager bildeten sich, man ergriff für Nik und gegen mich Partei, und andersherum. Und auf der Grenzlinie bewegte sich der Ermittler, der untersuchte, was vorgefallen war.
Ich loggte mich aus, doch selbst das dunkle Display hatte kein Mitleid mit mir, sondern reflektierte schwach mein verbranntes Gesicht. Ich war so vertieft in meinen eigenen abscheulichen Anblick, dass ich nicht hörte, wie jemand durch die Schleusentür kam.
»Alles in Ordnung?«, fragte Willy.
Erschrocken und einigermaßen ertappt schaute ich auf. »Ich wollte nachschauen, was man über mich schreibt. Das hätte ich lieber bleiben lassen«, erklärte ich.
»Als wäre das, was Sie haben durchstehen müssen, nicht schon schlimm genug«, meinte Willy.
Ich nickte dankbar.
»Ich darf gar nicht daran denken, dass Ihr Leben so in die Öffentlichkeit gezerrt wird«, sprach sie weiter.
Bevor ich reagieren konnte, schob sich die Tür auf, und Hans Waanders betrat den Raum.
»Können Sie uns kurz allein lassen?«, bat er Willy. Nach einem fragenden Blick in meine Richtung, den ich mit einem kurzen Nicken beantwortete, nickte auch sie und verließ mein Zimmer.
Waanders warf einen Papierstapel auf den Tisch.
»Was ist das?«
»Berichte von allen Vorfällen, bei denen Ihren Kindern etwas zugestoßen ist.«
Vor meinen Augen bildete sich ein Nebel, und Waanders verwandelte sich in einen grünen Streifen, den ich nur zu gern einfach weggewischt hätte. Mein Magen wurde zu einer inneren Alarmglocke, die mit einem lauten Schrillen in mir zum Leben erwachte. Ich zog die Papiere zu mir heran und begann darin zu blättern. »Das verstehe ich nicht.«
Waanders klopfte mit den Fingern auf die oberste Seite.
»Natalja, zwei Jahre alt, wird mit hohem Fieber im Krankenhaus aufgenommen. Keine Ursache gefunden. Nach fünf Tagen entlassen. Natalja, drei Jahre alt, isst einen halben Blister eines Schmerzmittels und hat Vergiftungserscheinungen. Gregory, vier Jahre alt, gerät mit dem rechten Fuß zwischen die Fahrradspeichen. Gregory, fünf Jahre alt, bricht sich das Schlüsselbein, als er von einem Stuhl fällt. Gregory, vor ein paar Monaten, kommt mit Brandwunden ins Krankenhaus, verursacht durch kochend heißes Wasser. Immer in andere Kliniken. Haben Sie das absichtlich gemacht? Damit man keine Fragen stellt, damit es nicht auffällt?«
»Damit was nicht auffallen würde?«
»Da gibt es doch ein Muster.«
»Das waren alles Unfälle.«
»Das ist Kindesmisshandlung.«
»Natalja, die mit drei Jahren diese Tabletten aufisst? Daran ist eine unserer Nannys schuld, die hat nämlich telefoniert. Das mit den Fahrradspeichen bei Gregory? Er hat hinter Nik auf dem Rad gesessen. Und Gregorys gebrochenes Schlüsselbein? Da hat er bei meiner Mutter übernachtet und wollte vom Sofa auf den Holztisch im Wohnzimmer springen, und das ist schiefgegangen. Und seine Brandwunden? Das war ein Unfall, den ich mir übrigens bis heute jeden Tag vorwerfe. Sie können sich bei den Kindermädchen erkundigen, bei meiner Mutter und bei Nik, wobei ich bezweifle, dass Ihnen Nik die Wahrheit sagen wird. Diese Informationen haben Sie doch von ihm, oder?«
»Einweisungen ins Krankenhaus sind häufig nur die Spitze des Eisbergs. Ich habe mich auch bei Ihren Hausärzten erkundigt.« Waanders zauberte einen weiteren Papierstapel zum Vorschein. Er schob ihn mir hin, aber ich weigerte mich, ihn zu betrachten. Plötzlich hasste ich dieses Zimmer mit derselben Intensität, mit der ich Nik hasste. Es hielt mich gefangen. Es gab zwar keine Gitterstäbe, aber trotzdem hielten mich die Wände fest. Als Waanders begriff, dass ich nicht vorhatte, die Blätter zu lesen, fasste er zusammen, was darin stand.
»Da sind so einige Besuche beim Hausarzt zusammengekommen.«
»Ich habe zwei Kinder«, erwiderte ich. Hatte.
»Trotzdem. Ich habe zwei Söhne, und die haben als Kinder nie ein Krankenhaus von innen gesehen.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt sagen? Ich bin eine besorgte Mutter, und dafür werde ich mich nicht entschuldigen.«
»Eine besorgte Mutter oder eine Mutter, die ihren Kindern mit Absicht Verletzungen zufügt? Haben Sie schon einmal vom Münchhausen-Stellvertretersyndrom gehört?«
Wütend fegte ich die Papiere vom Tisch. Die Art und Weise, wie sie auf den Boden flatterten, ließ mich noch wütender werden: ruhig, sanft, als hätten sie alle Zeit der Welt, in ihrem eigenen Tempo, unbeeindruckt von meinem Gemütszustand. »Jedes Mal, wenn Sie hier erschienen sind, habe ich Ihnen freundlich Rede und Antwort gestanden, obwohl Sie mich mit schweren Anschuldigungen konfrontiert haben, aber jetzt gehen Sie zu weit. Ich will einen Anwalt, sonst werde ich keine einzige Frage mehr beantworten.«
»Den brauchen Sie noch nicht. Sie gelten noch nicht als Beschuldigte.«
Noch nicht, dachte ich. »Sie beschuldigen mich aber der Kindesmisshandlung. Natalja und Gregory wurden zu früh geboren, beide haben einige Zeit im Brutkasten verbracht. Ihre Lungen waren noch nicht vollständig ausgereift, und sie hatten einen Infekt nach dem anderen. Finden Sie es unter diesen Umständen seltsam, dass ich mir Sorgen mache, wenn sie krank werden, und dass ich dann einen Arzt aufsuche?«
»Neun von zehn Mal war es nichts Schlimmes, aber Sie haben jedes Mal darauf bestanden, in ein Krankenhaus weiterverwiesen zu werden. Warum? Um noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?«
»Aufmerksamkeit?«
»Frauen, die unter diesem Syndrom leiden, wollen Aufmerksamkeit. Reicht Ihnen die auf der Bühne nicht? Geht es darum?«
»Die reicht mir vollkommen.« Ich wies auf die Blätter, die rund um den Tisch verstreut lagen. »Und für diese Aufmerksamkeit arbeite ich auch sehr hart. Sechs Tage in der Woche, um genau zu sein. Ich habe überhaupt keine Zeit, all die Dinge zu tun, derer Sie mich beschuldigen. Neun von zehn Mal ist unsere Nanny mit den Kindern zum Hausarzt gegangen.« Mit diesen Worten wollte ich mich selbst vom Verdacht befreien, aber gleichzeitig bestätigten sie das Bild, das Waanders von mir hatte, wenn auch auf eine andere Art: Ich war eine schlechte Mutter gewesen. Oder eine abwesende Mutter. Die Besuche beim Hausarzt waren nicht die einzigen Momente geblieben, in denen ich meine Kinder im Stich gelassen hatte. Ihre ersten Schritte, der erste Zahnarztbesuch, der erste verlorene Zahn, die Aufführungen am Schuljahresende. Diese Augenblicke hatten sie mit anderen geteilt, und andere hatten mir davon erzählt, oder ich hatte Fotos davon gesehen. Andere Eltern hatten mir Bilder geschickt, auf denen Natalja in einem grünen Glitzeranzug und mit einigen Blättern in der Hand einen Baum darstellt. Oder Bilder von Gregorys blassem Gesicht hinter dem Busfenster, als er auf einer Klassenfahrt zusammen mit seiner Schwester in einen Vergnügungspark aufbricht. Es gab einen kurzen Film von Gregory, der zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad fährt, aufgenommen vom Kindermädchen.
Für Nik galt dasselbe – er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er keine Zeit hatte und seine Arbeit vorging. Weil ich meinem Mann anders als so viele Mütter in nichts nachstehen wollte, hatte auch ich meiner Arbeit Vorrang gewährt. Als hätte ich eine Art Statement abgeben wollen. Ganz kurz schloss ich die Augen. Spielchen, dachte ich. Dumme Spielchen. John hatte tatsächlich recht gehabt mit seiner Behauptung, dass uns die Rollen für Sarkasmen wie auf den Leib geschrieben waren.
»Frau de Kooning?«
Ich öffnete die Augen wieder.
»Erzählen Sie mir doch noch einmal von dem Streit, den Sie und Ihr Mann am Abend des Brandes hatten. Da ging es nicht darum, dass sich Nik scheiden lassen, sondern dass er Ihnen Ihren Sohn wegnehmen wollte, um Ihren Sohn vor Ihnen zu schützen. Sie haben behauptet, Sie hätten ihn stoppen müssen, weil Sie wussten, dass die Chance groß gewesen wäre, Nikolaj würde das Sorgerecht für Ihren Sohn bekommen. Wegen der Unfälle Ihres Sohnes und wegen Ihres Alkoholmissbrauchs.«
Nikolaj. Natürlich. Waanders hatte sich das alles nicht selbst ausgedacht. Nikolaj hatte ihn auf diese Spur gebracht. Plötzlich ließ er den perfekten Vater heraushängen! Ich saß hoffnungslos in der Falle. Nikolaj hatte mich in die Zange genommen. Mein Denkvermögen zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, während ich verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Ich wollte nachdenken, ruhig nachdenken, doch der scharfe Blick des Ermittlers gönnte mir keine Ruhe.
Alles war kaputt. Meine Beziehung. Meine Karriere.
Die Worte hallten tief in meinem ganzen Körper nach. Jetzt war alles egal. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, nur noch eins: meine Freiheit. Meine Freiheit stand auf dem Spiel. Mein Leben mit Gregory.