55.

Mischa

Eine Woche später

An Johns Arm schritt ich über den breiten roten Teppich zum Eingang des Mariinski-Theaters. Die Farbe der Fassade konnte ich noch immer nicht definieren – irgendetwas zwischen Hellblau und Hellgrün.

Ich trug ein Abendkleid von Valentino, allerdings aus zweiter Hand. Ein smaragdgrünes Exemplar mit einem gezackten Saum und einem Blumenmotiv aus Spitze.

Bevor wir das Gebäude betraten, wandten wir uns um und winkten den anwesenden Presseleuten zu. Vor den Kameras küssten wir einander. Ich winkte noch einmal. Mein neuer Ehering funkelte im Blitzlicht.

John und ich hatten erst vor zwei Tagen geheiratet. Es war eine kleine, intime Zeremonie gewesen, nur mit unseren nächsten Angehörigen und Freunden. Ich hatte mir ein richtiges Brautkleid gekauft, ein trägerloses Kleid im Trapezschnitt, mit Spitze, aber doch stilvoll. »Genau wie du«, hatte John bei meinem Anblick gesagt, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Ganz anders als das simple Stück, das ich bei meiner Hochzeit mit Nik getragen hatte (an einem Montagmorgen, weil es dann nichts kostete und die Trauzeugen vom Standesamt gestellt wurden).

Danach waren wir mit unserer handverlesenen Gesellschaft essen gegangen, und John und ich hatten unsere Hochzeitsnacht im Hotel Ambassade verbracht. Kai war unser Standesbeamter gewesen. Kai, von dem ich inzwischen wusste, dass er mein Vater war. Das hatte mir John verraten, schon vor dem Feuer. Meine Mutter wusste nicht, dass ich es wusste, und was mich anging, würde das auch so bleiben. John meinte, meine Mutter und Kai hätten eine kurze Affäre gehabt, die Kai jedoch beendet hatte, weil er verheiratet war und Vater wurde. Kurz darauf war er zu einer anderen Balletttruppe gegangen. Er vermutete zwar, ich wäre seine Tochter, doch meine Mutter hatte das immer abgestritten. Nur John, sie und ich kannten die Wahrheit. Und das sollte auch so bleiben. Es gab nicht den geringsten Anlass, dass weitere Leben aus den Fugen gerieten.

Diese Reise nach Sankt Petersburg gehörte zu unseren Flitterwochen, und danach würden wir auf die Malediven fliegen; Gregory blieb in der Zwischenzeit bei meiner Mutter.

Nun reichte mir John die Hand, und wir gingen nach drinnen. In einer halben Stunde würde die Aufführung des Mariinski-Balletts beginnen, das Johns Werk ein ganzes Programm widmete. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus arbeitete ich als Johns Assistentin. Ich unterstützte ihn dabei, seine Inszenierungen mit anderen Truppen einzustudieren. Bei einem seiner vielen Krankenbesuche hatte er mir das vorgeschlagen.

»Inzwischen interessiert man sich sehr für Sarkasmen und meine anderen Werke. So sehr, dass ich Anfragen habe ablehnen müssen, weil ich keine Zeit habe, diese ganzen Truppen zu besuchen und die Ballette mit ihnen einzustudieren.«

»Wie schrecklich für dich, John. Du gehst an deinem eigenen Erfolg zugrunde«, hatte ich gesagt.

»Ja, lach du nur. Ich habe nachgedacht, und vielleicht kommt das auch viel zu früh, dann musst du es mir sagen, aber ich könnte dich gut als Assistentin gebrauchen.«

»Als deine Assistentin?«

»Ja, als Assistentin, die mit anderen meine Ballette einübt. Wie ich schon sagte: Allein schaffe ich es nicht. Ich brauche jemanden, der meine Stücke genauso gut kennt wie ich. Und weil du schon in so vielen von ihnen getanzt hast, wärst du für diesen Job perfekt. Ich hoffe natürlich, dass du einmal wieder tanzen wirst, bitte versteh mich nicht falsch, aber stell dir vor, das geht nicht – dann kannst du immer bei mir, für mich arbeiten.«

»John …« Ich war gerührt.

Einmal mehr erwies er sich als mein Retter. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Du brauchst auch überhaupt nichts zu sagen. Denk in aller Ruhe darüber nach, das Ganze hat wirklich keine Eile.«

»Ich habe dich gar nicht verdient. Du tust so viel für mich.«

»Weil ich dich liebe, das weißt du.«

Im Foyer, wo zurzeit eine Skulpturenausstellung zu besichtigen war, schüttelten wir Hände, nippten am Champagner – ich leerte mein Glas nicht, denn der Alkohol und ich waren keine Freunde mehr. Doch es gab einen noch wichtigeren Grund: Ich war seit einigen Wochen schwanger. Mein Körper konnte nicht mehr tanzen, aber Leben konnte er noch hervorbringen. Ich hoffte auf ein Mädchen, auf eine Tochter, die die Balletttradition fortsetzen würde. Dabei unterhielten wir uns angeregt mit Männern in gut sitzenden Anzügen und mit schmuckbehangenen Frauen in den schönsten und engsten Kleidern.

Nun kündigte eine Glocke an, dass die Vorstellung in einer Viertelstunde beginnen würde und es an der Zeit war, uns zu unseren Sitzplätzen zu begeben.

»Ich gehe noch schnell auf die Toilette«, sagte ich zu John. Während ich mir einen Weg durch die Menge bahnte, schaute ich mich kurz um. Ein Gefühl des Stolzes überwältigte mich. John sah gut aus in seinem Smoking. Er hatte vierzig Kilo abgenommen, und das stand ihm gut. Manchmal tanzten wir zusammen. Das war seltsam und zuweilen auch traurig, weil ich nie wieder mein altes Niveau erreichen würde, aber gleichzeitig war es wunderschön.

Vor dem Spiegel überprüfte ich mein Make-up. Nach unzähligen Operationen konnte sich meine Nase wieder einigermaßen sehen lassen. Eine Maskenbildnerin, die zu den Besten ihres Fachs gehörte, hatte mir beigebracht, wie ich meine Narben am besten kaschieren und die Aufmerksamkeit davon ablenken konnte, indem ich meine Stärken betonte.

An manchen Tagen war der Juckreiz kaum zu ertragen, aber ich gab ihm nicht nach. Der Juckreiz hatte den Schmerz ersetzt. Ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte.

Ich zog mir die Lippen nach.

Dann schaute ich auf meinen Ehering, das Zeichen meines Bundes mit John. Meine Hand im Tausch für sein letztes Opfer.

Dass mein Plan so perfekt aufgegangen war, musste ein Wunder sein.

Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Ich hatte nur wenig übrig für diesen anderen Bibelspruch, in dem es hieß, man müsse die andere Wange hinhalten.

Nun ja, fast perfekt war mein Plan aufgegangen, denn Nik hatte das Feuer überlebt, und das hätte nicht so sein sollen, aber aus heutiger Sicht war dieses Ergebnis vielleicht sogar noch besser. Er würde einen Großteil seines Lebens hinter Gittern verbringen und nie wieder tanzen.

Ich dachte an den Nachmittag zurück, an dem mir John von Niks Plänen berichtet hatte, von denen ich nichts wusste.

»Ich könnte ihn umbringen«, hatte ich gesagt.

»Meinst du das ernst?«, hatte John gefragt.

Ich hatte damit meine Wut darüber zum Ausdruck bringen wollen, dass Nik mich verraten hatte, aber in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich es wirklich so meinte.

»Manchmal glaube ich, es ist die einzige Möglichkeit, mich von ihm zu befreien. Für immer.« Und Nik hatte noch eine Schuld zu begleichen, aber das erwähnte ich John gegenüber nicht.

»Ich kann einen Komplizen gut gebrauchen«, hatte ich hinzugefügt. »Ich weiß, was du für mich getan hast, vor all den Jahren.« Damit riskierte ich etwas. Entweder er hatte Eliza umgebracht, oder es war meine Mutter gewesen. Als Nik von der kaputten Figur angefangen hatte, hatte ich keine Ahnung gehabt, wovon er redete; mir war sie jedenfalls nicht heruntergefallen. Das hatte ich aber nicht zugegeben, weil ich herausfinden wollte, was da los war. Schon zuvor, als ich mitbekam, wie sich John meinetwegen mit Hugo stritt, hatte ich die starke Vermutung gehabt, dass er mehr über Elizas plötzliche Erkrankung wusste. Eine Woche vor dem gemeinsamen Essen hatte ich Rattengift gekauft – aus Versehen, statt Gift gegen Mäuse –, und etwas später stellte ich fest, dass jemand die Packung angebrochen hatte. Eliza hätte sich nie selbst vergiftet, und ich hatte es auch nicht getan, deswegen kamen noch genau zwei Menschen infrage. Zwei Menschen, die später an meine Schlüssel zu Niks und Elizas Wohnung gelangen und sich welche nachmachen lassen konnten, nachdem ich wieder bei meiner Mutter eingezogen war. Und an dem Abend, als Eliza starb, hatte ich sie noch angerufen, um den Streit über die dumme Figur beizulegen. Sie war völlig pleite, hatte sie geklagt, dabei wollte sie unbedingt eine Zigarette oder einen Joint rauchen, hatte aber nichts im Haus. Also hatte sie gar nicht mit brennender Zigarette oder einem Joint einschlafen können. Damals hatte ich den Mund gehalten, weil ich instinktiv begriffen hatte, dass sich entweder meine Mutter oder John für mich geopfert hatten. John tat nicht so, als wüsste er von nichts. »Das habe ich für dich getan. Du solltest im Scheinwerferlicht stehen, nicht sie.«

Ich beugte mich vor und küsste ihn. Meine Zunge fand seine. Unsere Berührung war sanft, zärtlich, ganz anders als Niks harte, beinahe strafende Küsse. Wenn wir uns überhaupt jemals küssten.

»Ich habe einen entsetzlichen Fehler begangen. Hilf mir, den wiedergutzumachen.«

Und so hatte es angefangen.

In den kommenden Monaten hatten John und ich einen unfehlbaren Plan ausgeheckt. Wir waren verschiedene Szenarien durchgegangen. Selbstmord stellte die beste und sicherste Option dar, hatten wir schließlich entschieden. Nik konnte nicht mehr länger mit den Schuldgefühlen leben, die ihm seit Nataljas Tod zusetzten, mit den Gewissensqualen, die ihn auffraßen – diese Lüge würde ich natürlich verbreiten, ohne meinen eigenen Anteil daran preiszugeben. Er würde sich im Bad mit einem Stromschlag töten. Nik schlief oft in der Wanne ein. Es wäre lächerlich einfach, ein Handy am Ladekabel ins Wasser fallen zu lassen.

Wir hatten uns Zeit gelassen, denn wir hatten nur eine Chance, und nichts durfte schiefgehen. Schließlich hatten wir auch überhaupt keine Eile. Die hatten wir dann aber auf einmal doch, als Nik an dem bewussten Abend ankündigte, er wolle sich scheiden lassen. Dann würde sein plötzlicher Tod sicher Fragen aufwerfen. Deswegen hatte ich rasend schnell handeln müssen.

In den wenigen von Panik erfüllten Minuten, die seiner Ankündigung folgten, wusste ich es auf einmal: Nik sollte auf genau dieselbe Art sterben wie Eliza. So einfach, und doch so brillant. Manchmal dachte ich, es hätte so kommen müssen. Vor allem, weil Gregory genau an diesem Abend irgendwo auf Übernachtungsbesuch war, zum ersten Mal in seinem Leben.

Nachdem Nik eingeschlafen war, hatte ich eine brennende Zigarette auf sein Bettzeug fallen lassen, das rasch in Flammen aufging. Ein Funke reichte aus, genauso wie vor Jahren der Funke zwischen ihm und Eliza übergesprungen war, was meinen Untergang bedeutet hatte.

Danach musste ich warten. John, den ich sofort angerufen hatte, und zwar auf Niks Handy, weil ich meins nicht finden konnte, sollte mich vor dem Feuer »retten«. Er hatte angeblich eine Verabredung mit Nik und würde so zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.

Das Ganze verlief ein klein wenig anders. Auf grausame Weise anders.

Nik wachte auf und konnte dem Feuer entkommen, das sich inzwischen im Schlafzimmer ausgebreitet und das Wohnzimmer erreicht hatte. John, durch die Tür zum Garten ins Haus gelangt, schlug ihn von hinten nieder. Plötzlich ging alles viel zu schnell. Die Flammen griffen nach mir. Ich ließ mich zu Boden fallen und stieß mit dem Kopf gegen den Salontisch. John rollte mich herum, um das Feuer zu löschen, und hatte mich dann nach draußen geschafft. Er war verschwunden, wie er gekommen war, nachdem ich ihn flehentlich darum gebeten hatte. Er wollte mich nicht im Stich lassen, doch wir wussten nicht, ob Nik noch lebte, ob er John nicht vielleicht doch gesehen hatte. Und Johns Anwesenheit hätte uns sofort verdächtig gemacht.

John hatte Tage der Angst durchlebt. Nicht nur meinetwegen, auch seinetwegen, doch Gott sei Dank hatte ihn niemand gesehen.

Weil Hans Waanders so in der ganzen Geschichte herumgestochert hatte, musste ich einige grausame Tage lang große Ängste ausstehen. Ich konnte immer noch nicht fassen, wie gelegen uns der Sturm gekommen war, der Niks Aufführung vereitelt und ihn in riesige Schulden gestürzt hatte. Natürlich war es meine Idee gewesen, die Lebensversicherung zu erhöhen; Nik hatte keine Ahnung, was er da unterschrieb. Er tat es einfach, weil ich es ihm sagte – so hatte er es immer gehalten, schließlich konnte er Niederländisch kaum lesen. Und so hatte Nik plötzlich ein Motiv, mich aus dem Weg zu räumen. ­Unglaublich, dass mir diese Versicherung plötzlich zum Vorteil gereichte.

Ich bereute nichts. Nik konnte den unschuldig Verurteilten spielen, soviel er wollte, doch ich war es nicht gewesen, die auf meinem Handy recherchiert hatte, wie man ein Feuer legte. Hatte er vorgehabt, unser Londoner Haus in Brand zu stecken? Mit mir darin? War ich einfach schneller gewesen als er?

Nach einem letzten Blick in den Spiegel begab ich mich in den Saal, der einfach nur prächtig anzusehen war. Er erstrahlte in Himmelblau und Sonnengold, und diese Farben wurden durch das Licht der riesigen Kronleuchter noch unterstrichen. Als Ehrengäste saßen wir in einer der seitlichen Logen, quasi auf der Bühne. Unter uns befand sich der Orchestergraben, in dem sich die Musiker bereit machten.

Ich nahm neben John Platz. Die Musik setzte ein, der Vorhang öffnete sich. Tänzer schossen aus den Kulissen wie Pfeile aus einem Bogen.

Ich schaute zur Seite. Ich konnte mich glücklich preisen, diesen Mann zu haben. John ging buchstäblich für mich durchs Feuer, das hatte er bereits bewiesen. Ich nahm seine Hand und verflocht seine Finger mit meinen. »Ich liebe dich«, flüsterte ich.

»Ich dich auch.«