38.

Mischa

Vor zehn Jahren

Auf dem Rad überfuhr ich eine rote Ampel, die hupenden Auto- und die schimpfenden Radfahrer ignorierte ich. Mein roter Schal wehte wie eine Warnflagge hinter mir her. Anhalten brachte ich nicht über mich, denn wenn ich das getan hätte, wäre ich vielleicht umgekehrt und zurückgefahren. Nikolaj hatte zum zigsten Mal eine Sarkasmen-Probe versäumt. In ein paar Wochen würde die Premiere stattfinden. Paul stellte einen ausgezeichneten Ersatz dar, aber ich wollte keinen ausgezeichneten Ersatz. »Solide« bedeutete in diesem Fall alles andere als ein Kompliment; in der Kunst stand dieses Prädikat für »seelenlos«. Ich wollte ein Feuerwerk, ich wollte Nikolaj – nur er war in der Lage, dem Tanz diese unbeschreibliche Dimension zu verleihen, die einen bezauberte.

Deswegen hatte ich beschlossen, zu ihm zu gehen. Er wohnte für einige Zeit bei einem Freund. Seit Elizas Tod hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ihre Familie gab ihm die Schuld daran, dass sie umgekommen war. Eingeschlafen, während sie einen Joint geraucht hatte. Vor ihrer Beziehung zu Nikolaj hatte sich Eliza von Drogen ferngehalten.

Elizas Familie hatte ihm sogar die Teilnahme am Begräbnis verboten. Seitdem igelte er sich ein. Mehrere Leute hatten versucht, ihn umzustimmen, doch es war ihnen nicht gelungen. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu ihm sagen wollte, ich verspürte nur ein quälendes Bedürfnis, bei ihm zu sein. Bis zu dem Hausbesetzergebäude am Stadtrand musste ich etwa eine halbe Stunde fahren, und als ich mein Rad gegen die Hauswand warf, war ich schweißnass und völlig erschöpft. Das Gebäude – viereckig, mit zwei Stockwerken und aus gelbem Backstein – war ein ehemaliges Büro, und Niks Freund bewohnte eines der Zimmer. Ich hatte mir seinen Schlüssel geliehen und öffnete mir selbst die Tür. Der ehemalige Empfangsraum lag im Dunkeln, und der Rezeptionstresen war noch erhalten. Man musste nach rechts, durch den Flur, und dann war es die letzte Tür auf der linken Seite, hatte der Freund mir erklärt. Und: Achte nicht auf das Durcheinander. Er hätte lieber sagen sollen: Achte nicht auf den Geruch! Es stank, als wären sämtliche Toiletten übergelaufen. Ich schlug mir meinen Schal vor den Mund, während ich durch den Gang lief, und versuchte so wenig wie möglich Luft zu holen.

An der Tür zögerte ich kurz. Noch immer hatte ich keine Ahnung, was ich sagen oder tun wollte. Ich klopfte nicht an, sondern öffnete die Tür mit dem Schlüssel.

Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Die Jalousien waren ganz zugezogen. Ich suchte nach dem Lichtschalter, und die Neonröhren flackerten einige Male, als müssten sie erst aufwachen, bevor sie ihr unbarmherzig grelles Licht verbreiteten.

»Licht aus, verdammt noch mal!«, erklang Niks erstickte Stimme. Ganz hinten in dem etwa hundert Quadratmeter großen Raum hatte man mit Tüchern und Laken eine Fläche abgeteilt, auf der linken und auf der rechten Seite. Ich bahnte mir einen Weg durch die Unordnung auf dem Boden: Müllsäcke, Zeitungen, Kleidungsstücke, Pizzakartons, Zeitschriften und leere Flaschen. Ein saurer Geruch stieg auf. Wie konnte man, um Gottes willen, in diesem Dreck wohnen? Unter einer Wölbung aus Decken schauten ein nacktes Bein und ein bloßer Arm hervor. Mit dem Fuß schob ich ein paar leere Weinflaschen zur Seite. Niks Kopf war unter einem Kissen verborgen, und ich zog es weg.

»He!«, protestierte er.

»Du hast dich jetzt lange genug im Selbstmitleid gesuhlt«, verkündete ich.

»Mischa. Ich hätte es mir ja denken können.« Er drehte sich nicht um.

»Du stinkst.«

»Dann geh doch einfach wieder.«

»Ich kann gar nicht glauben, was ich hier sehe. Du bist doch ein Kämpfer, kein Schwächling.« Ich wusste, unter welchen Umständen er aufgewachsen war – alle wussten das.

»Viktor hat mir Essen gekocht, Therese aufgeräumt und Naomi sich mit ihren Zigaretten zu mir gesetzt und mitgetrunken. Die haben sich wenigstens nützlich gemacht.« Nik hob den Kopf und schaute mich endlich an. »Hier hat zum Beispiel schon Jahrhunderte niemand mehr Staub gesaugt.«

»Ich bezweifle stark, dass ihr hier einen Staubsauger habt. Und selbst wenn, würde ich den höchstens in die Hand nehmen, um dich damit aus dem Bett zu scheuchen.« Hatte ich da gerade »Bett« gesagt? Das war einfach eine kahle Matratze auf dem Boden.

»Lass mich in Ruhe.«

»Nichts lieber als das, aber in ein paar Wochen haben wir Premiere, und die kann ich ja wohl kaum allein tanzen.«

»Man hat doch sicher für einen Ersatz gesorgt.«

»Natürlich. Für deinen großen Rivalen, Paul.«

»Paul?« Nik stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich auf. Mit beiden Händen rieb er sich die Augen.

»Es wird sicher ein großer Erfolg.«

Nik lächelte. »Was willst du dann hier?«

»Er ist nicht du. Ein unglaublicher, fantastischer Erfolg muss es werden.«

»Ich kann nicht. Ich werde nie wieder tanzen.«

Was er da sagte, machte mich wütend. Ich stieß gegen die Flaschen, und sie rollten klirrend über den Boden. Wie sich herausstellte, war eine nicht ganz leer gewesen, und der Wein verteilte sich auf dem Boden. An den Flecken überall konnte ich erkennen, dass das nicht zum ersten Mal passierte.

»Was für ein Chaos«, schnauzte ich Nik an. Natürlich hatte ich die Geschichten der Leute gehört, die bei ihm gewesen waren. Dass er sich zu tanzen weigerte, ganze Tage im Bett verbrachte, nur rauchte und trank.

»Du verstehst das nicht. Ich habe sie geliebt.«

»Ich auch.«

»Das ist etwas anderes.«

»Warum? Warum ist das etwas anderes? Warum schätzt man eine Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau höher ein als eine zwischen Frauen? Ich habe sie viel länger gekannt als du. Und besser. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir waren wie Schwestern. Wer oder was gibt dir das Recht, hier so erbärmlich zu liegen und so zu tun, als wäre dein Leben vorbei? Ihre Mutter hat ihr Kind verloren, ihr Vater seinen Augapfel. Und ich meine beste Freundin. Wir wollten zusammen die Welt erobern. Und später wollten wir zusammen als alte Frauen auf unsere Karrieren zurückschauen, und zwar nicht in irgendeinem langweiligen Altenheim, sondern in Spanien oder auf Bali. Eine Ballettschule eröffnen und mit Achtzig immer noch den Fuß auf die Stange bekommen. Verglichen mit mir hast du sie nicht einmal eine Minute gekannt. Und du meinst, dir allein steht es zu, um sie zu trauern? Ein egoistischer Sack bist du«, beschimpfte ich ihn.

»Ihre Eltern haben einander, und du wirst schon eine neue beste Freundin auftun. Wir waren seelenverwandt, jemanden wie sie finde ich nie wieder.«

»Du hast wenigstens eine Seelenverwandte gehabt. Viele andere dürfen diese Erfahrung niemals in ihrem Leben machen.«

»Ich will nie wieder jemanden so sehr lieben.«

»Alles schön und gut, aber was hat das mit dem Tanzen zu tun?«, wollte ich verärgert wissen. »Du hast eine Gabe. Wenn du jetzt mit dem Tanzen aufhörst, lässt du zu, dass dein Vater gewinnt.«

»Sie fehlt mir.«

»Mir fehlt sie auch!« Jedes Mal, wenn mir eine perfekte Pirouette gelang, erwartete ich, im Spiegel ihr lachendes Gesicht zu sehen. Nach jeder Probe stand ich draußen und wartete auf sie, bis mir bewusst wurde, dass sie nicht gleich mit der Hälfte ihrer Besitztümer im Schlepptau durch die Tür wirbeln, nicht wieder nach drinnen gehen würde, weil sie etwas vergessen hatte, während sie rief, sie wäre gleich wieder da – das stimmte nie, weil sie immer jemandem begegnet war, mit dem sie noch alles Mögliche besprechen musste, während ich mir in der Zwischenzeit draußen den Hintern abfror. Mein Gott, wie gern hätte ich nun wieder so zitternd vor Kälte auf sie gewartet. »Aber ich habe mich nicht ins Bett gelegt, um langsam zu verfaulen. Was sollte das auch für einen Sinn haben? Davon bekomme ich sie nicht zurück. Ich mache weiter, ich lebe ihren Traum – wir haben uns einmal geschworen: Wenn wir es nicht beide bis an die Spitze schaffen, muss das zumindest einer von uns gelingen. Sie hätte weitergemacht, das weiß ich ganz bestimmt.«

Nik lachte leise. »Heuchlerische Kuh.«

»Bitte?«

Nik stand auf, und ich machte unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts. Er trug nur eine Boxershorts, und ich musste mich sehr anstrengen, um den Blick nicht über seinen Körper gleiten zu lassen. Den hatte ich doch bei den Proben unzählige Male gesehen, sagte ich zu mir selbst. Ich hatte überhaupt schon sehr viele bloße Oberkörper zu Gesicht bekommen.

»In Wirklichkeit warst du doch total eifersüchtig auf sie.«

»Jetzt rede keinen Quatsch.«

»Auf ihr Talent, auf uns.«

Ich schluckte. Hatte Eliza es gewusst? Sie hatte nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren. Plötzlich wünschte ich mir, ich wäre nie hergekommen.

»Mich beeindruckst du nicht. Du magst hergekommen sein, um mich runterzumachen, aber ich habe dir auch etwas zu sagen.«

Er kam auf mich zu und stand so dicht vor mir, dass ich seine Atemzüge auf der Stirn fühlen konnte.

»Du hast dir gewünscht, ich würde mich für dich entscheiden. Darum bist du hier, und nicht, weil du mich zum Weitertanzen überreden willst«, sagte er leise.

»Bilde dir bloß nichts ein.« Ich versuchte einen Schritt zurückzutreten, doch er packte mich heftig an den Oberarmen. Ich wollte mich losreißen, tat es jedoch nicht, auch wenn ich mit keiner einzigen meiner Hirnzellen hätte begründen können, warum nicht. Dieselben Hirnzellen schrien förmlich, ich solle sofort gehen, doch mein Körper verweigerte ihnen den Gehorsam. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, während Nik quälend langsam mit den Fingern darüberstrich.

Er lachte leise. »Keine Sorge. Eliza hat nichts davon mitbekommen, und ich habe ihr nie etwas gesagt. Ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen.«

Intuitiv wusste ich, dass er recht hatte. Eliza hatte mir zu hundert Prozent vertraut und das Wort »Eifersucht« nicht einmal gekannt. Sie hatte mir stets alles gegönnt, was ich umgekehrt nicht getan hatte. Ein Gefühl des Versagens überfiel mich, es fühlte sich an wie Verrat.

»Deine Eifersucht hätte eure Freundschaft kaputtgemacht.«

»Nein, das ist nicht wahr.«

Ich dachte an unser Versprechen, wir würden nie zulassen, dass ein Mann zwischen uns käme. Solche Versprechen geben junge Mädchen einander, die keine blasse Ahnung davon haben, was das Leben noch für sie bereithält, welche Streiche einem das Schicksal spielen kann. Dumme Versprechen sind das, und sie verglühen im Feuer der Liebe, der Begierde und des Neids. Sie gelten nicht länger, als eine Kerze brennt.

Allerdings hätte sich Eliza an dieses Versprechen gehalten.

»Du hast es nicht ertragen, uns zusammen zu sehen, oder?«

»Du bist ganz schön von dir selbst überzeugt. Hier in den Niederlanden bezeichnen wir das als ›eingebildet‹.«

»Was hattest du denn vor?«

Ich erschrak. Wie viel wusste er?

»Was ich vorhatte

»Du gehörst nicht zu den Leuten, die einfach nur zusehen. Du bist es gewohnt zu bekommen, was du willst. Die zweite Geige spielen, das war und ist nichts für dich.«

Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. Ich versuchte mich wieder auf die Muttermale zu konzentrieren, die wie Sternbilder seine Haut schmückten. Trotzdem drangen seine Worte zu mir durch: »Du wolltest weg, habe ich gehört, an ein anderes Ballett, vielleicht sogar ins Ausland.«

»Das ist jetzt alles nicht mehr wichtig.«

»Stimmt, das ist jetzt alles nicht mehr wichtig.«

Ich hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Danach stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Oder er beugte sich vor und küsste mich. Oder beides passierte gleichzeitig. Später, als ich nackt auf der Matratze lag, mit Nik auf mir, hätte ich nicht sagen können, wer von uns die Initiative ergriffen hatte.