15.

Mischa

Elf Jahre vorher

Ich klopfte an Elizas Schlafzimmertür. »Jetzt mach schon. Steh auf, sonst kommst du wirklich noch zu spät. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich deine Mutter«, meckerte ich. Nach unserem Riesenkrach gestern Abend hatte ich in Erwägung gezogen, sie einfach verschlafen zu lassen, aber das brachte ich nicht übers Herz. Aus dem Zimmer war lautes Stöhnen zu hören. Ich öffnete die Tür einen Spalt. Nikolaj war gestern Abend nicht geblieben, deswegen wusste ich mit Sicherheit, dass ich die beiden nicht nackt und ineinander verschlungen vorfinden würde. Oder Schlimmeres.

»Ich fühle mich nicht gut«, kam eine erstickte Stimme unter der Decke hervor.

»Das sind die Nerven«, kommentierte ich. Heute Abend war Schwanensee-Premiere.

»Ich glaube, am Essen war irgendwas schlecht. Es hatte einen komischen Beigeschmack.«

Ich hatte Nasi Goreng gemacht, meine Spezialität. Meine Mutter und John waren unerwartet zu Besuch ­gekommen und hatten ebenfalls mitgegessen. Den Kontakt zu ­meiner Mutter hatte ich schon eine Zeit lang stark heruntergeschraubt, obwohl das schwierig war, weil ich ihr natürlich ständig im Nationalballett über den Weg lief. Meine Mutter gab Eliza die Schuld für mein Verhalten. Ihr zufolge hetzte Eliza mich gegen sie auf. Nach einer intensiven Suche hatte Eliza ihre leibliche Mutter gefunden, aber auch die wusste angeblich nicht, wer ihr leib­licher Vater war. Wir sprachen viel über dieses Thema, und es stimmte, dass unsere Unterhaltungen in mir neue Gefühle der Wut, der Trauer und des Nichtbegreifens auslösten. Warum weigerte sich meine Mutter, mir zu sagen, wer mein Vater war? Sie wusste doch, wie wichtig es für mich war, seine Identität zu kennen. Aber Eliza und ich stützten uns gegenseitig, denn wir konnten nachvollziehen, was die ­andere durchmachte.

Ich war ganz verrückt nach John und vermutete, dass meine Mutter ihn aus diesem Grund mitgebracht hatte. Ihm konnte ich den Zutritt nicht verweigern. Seine Anwesenheit hatte allerdings nicht verhindern können, dass es gestern zu einem großen Streit gekommen war. Alles hatte begonnen, als sich Eliza nach dem Essen eine Zigarette anzündete. Seit dem Beginn ihrer Beziehung zu Nikolaj, der ebenfalls rauchte (und nicht nur Zigaretten), hatte sie damit angefangen.

»Machst du das bitte draußen auf dem Balkon?«, hatte meine Mutter Eliza gebeten und demonstrativ den Rauch weggewedelt.

»Das hier ist mein Haus. Wenn dir etwas nicht passt, kannst du gerne gehen«, hatte Eliza erwidert. Dabei schaute sie in meine Richtung, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Von mir würde sie nichts als Beifall bekommen, und das wusste sie.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, hatte meine Mutter gefragt und Elizas überdeutliche Provokation ignoriert.

»Warum denn nicht?«

»Wegen der Gesundheit.«

»Ich bin ja wohl nicht die einzige Tänzerin, die raucht.«

Damit hatte sie recht. Ballett war Hochleistungssport, und trotzdem gab es unter den Tänzern auffallend viele Raucher.

»Aber du gehörst zu den wenigen, die Hasch rauchen«, sagte John da. »Oder hast du vielleicht geglaubt, das merken wir nicht?« Mit »wir« meinte er das Nationalballett. »Deine Kleidung stinkt danach.«

Eliza zuckte erneut mit den Schultern.

»Es ist nicht gut für dich«, meinte meine Mutter.

»Machst du dir plötzlich Sorgen um meine Gesundheit?«

»Unter anderem, ja. Seit du Umgang mit Nikolaj …«

Eliza beugte sich zu meiner Mutter hin und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Willst du mir jetzt eine Predigt über richtige und falsche Freunde halten? Ich gehe jedenfalls nicht mit einem Fremden ins Bett und bin danach schwanger!« Dann hatte sie mir die Schachtel zugeworfen und gefragt, ob ich auch eine wolle.

»Mischa raucht doch nicht«, reagierte meine Mutter.

Demonstrativ steckte ich mir eine Zigarette an.

»Mischa …«, sagte John.

Eliza lachte. »Ja, das hättest du von deinem kleinen Liebling nicht erwartet, was?«

»Vergiss nicht, für wen du arbeitest«, warnte John sie.

»Was willst du denn machen? Dich bei Hugo beschweren? Ach nein, warte, das hast du ja schon getan.« John war der Ballettmeister für Schwanensee.

»Das war nichts Persönliches«, sagte John.

»Das freut mich aber jetzt! Nur weißt du, ich merke, wie schwierig ich es finde, Privatleben und Beruf voneinander zu trennen. Jetzt sitzen wir hier und unterhalten uns gemütlich, und morgen kriege ich wieder ein Messer in den Rücken. Vielleicht ist es besser, wenn ihr nicht mehr kommt. Wir sollten das Ganze auf eine professionelle Ebene beschränken.«

»Wovon redet ihr überhaupt?«, fragte ich.

»John wollte nicht, dass ich die Hauptrolle bekomme. Stimmt’s, John?«

»Richtig, das wollte ich nicht«, bestätigte John.

Triumphierend schaute mich Eliza an.

Meine Mutter stand auf. »Ich glaube, wir gehen jetzt besser, bevor die Dinge hier noch außer Kontrolle geraten. Eliza, ich kann dir nur raten, dir ein dickeres Fell zuzulegen. So etwas gehört nun einmal zum Leben einer professionellen Tänzerin dazu.«

Eliza streckte ihr die Zunge heraus.

»Warst du nicht ein bisschen zu extrem zu ihnen?«, fragte ich sie, nachdem die beiden gegangen waren. Auf dem Tisch herrschte ein Chaos aus schmutzigen Tellern, Töpfen, halb vollen Gläsern, zwei leeren Weinflaschen, Krabbencrackern, zerknitterten Servietten, Besteck, Schälchen mit Tomaten und Gurken.

Eliza verdrehte die Augen. »Also wirklich, willst du sie jetzt verteidigen? Aber lass nur, ich habe sowieso nichts anderes von dir erwartet.«

»Was soll das nun wieder heißen?« Ich war genauso verärgert wie sie.

»Du hast wirklich keine Ahnung, was?«

»Jetzt hör auf rumzueiern und sag, was los ist.«

»Du bist ganz einfach ihr Liebling.«

»Ja, natürlich bin ich ihr Liebling. Meine Mutter ist meine Mutter, und John ist wie ein Vater für mich. Für deine Eltern bist du auch der Liebling.«

»Das bezweifle ich stark, wenn ich mir die Gesamtsituation so betrachte, aber darum geht es jetzt nicht. Sondern darum, dass meine Eltern nicht am Nationalballett arbeiten.«

»Was willst du mir eigentlich sagen?« Das wusste ich natürlich, aber sie sollte es laut aussprechen.

»Du wirst einfach vorgezogen. Und ich bin nicht die Einzige, die das denkt.«

»Ich arbeite genauso hart wie ihr alle. Wenn ich wirklich schlecht wäre, hätte ich es niemals so weit gebracht, da hätte sich meine Mutter auf den Kopf stellen können. Außerdem hat man doch dich zur ersten Solistin gemacht, nicht mich«, fügte ich hinzu, bevor ich wütend aus dem Zimmer stapfte. Sollte sie doch sehen, wo sie mit ihren ungerechtfertigten Anschuldigungen blieb.

In der Nacht hatte ich kaum ein Auge zugetan. Das ungute Gefühl, das ich während der vergangenen Wochen, seit dem Anfang ihrer Beziehung zu Nik, häufiger empfand, nistete sich wieder in meiner Brust ein, wie eine hartnäckige Erkältung. Wir schienen uns voneinander zu entfernen. Schon seit Wochen waren wir nicht mehr unter uns gewesen, und wir sprachen kaum noch miteinander. Ich hatte keine Ahnung, was in ihr vorging. Und jetzt das. Es tat mir weh, dass auch sie glaubte, ich würde die Position meiner Mutter zu meinem Vorteil nutzen. Von anderen hatte ich das erwartet, aber von ihr … Was redete ihr Nik nur alles ein?

Elizas Stöhnen brachte mich in die Gegenwart zurück.

»Dann müsste ich doch aber auch krank sein? Außerdem hast du dich doch schon gestern nicht wohlgefühlt. Im Moment sind einfach alle krank, da geht was um. Los, du schluckst jetzt ein paar Tabletten, dann schaffst du’s wieder.«

»Du musst für mich tanzen.«

»Jetzt stell dich nicht so an. Auf, raus aus dem Bett und unter die Dusche mit dir.«

Unter noch größerem Stöhnen wurde die Decke zurückgeschlagen. Eliza quälte sich aus dem Bett. »Tut mir leid wegen gestern Abend, ich hätte das alles nicht sagen dürfen.«

»Warum hast du es dann getan?«

Sie zuckte die Schultern. »Zu viel getrunken.«

»Du trinkst öfters mal zu viel, und dann verhältst du dich nicht so.«

Eliza seufzte. »Ich fühle mich einfach im Moment nicht wohl in meiner Haut, und das habe ich an dir ausgelassen.«

»Was ist denn los?«

»Ach, das Übliche eben – leibliche Mütter, die einen anlügen, was die wahre Identität des eigenen Erzeugers betrifft. Ich verstehe einfach nicht, wie du es mit dieser Person aushältst.« Mit »dieser Person« meinte Eliza meine Mutter.

»Manchmal ist es okay und manchmal weniger«, gab ich zurück. »Ich bin nicht umsonst nach London gegangen. Auch wenn die Sache bei mir ein bisschen anders aussieht. Meine leibliche Mutter hat mich großgezogen, und ich kenne es gar nicht anders, als dass ich nicht weiß, wer mein Vater ist. Du hast erst vor einem Jahr erfahren, dass …«

Eliza brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus. »Woher nehmen sie sich das Recht, sich in mein Leben zu mischen, und dann …?« Der Rest ihrer Worte ging in den Tränen unter, die ihr jetzt über die Wangen liefen. Ich setzte mich auf den Bettrand und umarmte sie.

»Kommen sie denn heute Abend zur Premiere?«, fragte ich, als sich Eliza beruhigt hatte.

»Das habe ich ihnen verboten.«

Genau wie Nik, dachte ich. Der hatte seiner Mutter bei seinem Debüt auch gesagt, sie dürfe nicht kommen. War das Zufall? »Und das haben sie akzeptiert?«

»Ich habe gedroht, ich gehe von der Bühne, wenn ich sie entdecke. Und das meine ich auch ganz ernst.«

Ich beschloss, nicht darauf einzugehen. »Los jetzt, du musst dich beeilen«, sagte ich und stand auf. »Ich fahre schon mal. Bis gleich.« Seit Eliza und Nikolaj ein Paar waren, schlief er sehr oft hier, und weil ich mir ihr Geschmuse nicht länger ansehen konnte als unbedingt nötig, war es zur Gewohnheit geworden, dass ich morgens allein zum Ballett radelte. Rein der Form halber bat mich Eliza immer, ich solle doch warten, aber eigentlich wollte das keiner von uns dreien.

»Warte kurz, ich muss dich noch etwas fragen.«

Ich wusste schon Bescheid. Ich hatte die beiden darüber reden hören. Die Wände hier waren entsetzlich dünn, hatte ich in den vergangenen Monaten festgestellt.

»Nikolaj muss bald raus aus der Wohnung, die er gemietet hat, und etwas Neues hat er noch nicht gefunden. Fändest du es schlimm, wenn er hier einzieht?«

Natürlich fand ich das schlimm. Schrecklich sogar. Ich durfte gar nicht daran denken. Meine beste Freundin und der Mann, in den ich verliebt war, zusammen in einem Haus. Jeden Tag musste ich duldsam mitansehen, wie sie einander romantische Dinge zuflüsterten, Zukunftspläne schmiedeten und einander befummelten. Elizas Gekicher, wenn ihr Nikolaj die Füße massierte, rief Mordgelüste in mir hervor. Ich wohnte quasi im Nationalballett. Ihre Insider-Witze, gefolgt von der Bemerkung »Das dürfen wir nicht, das ist nicht schön für Mies«, um danach bei jedem weiteren Blick aufs Neue zu kichern, sodass sie mich zu einem dummen Lächeln und der Antwort zwangen, ich fände es gar nicht schlimm, haha. Ganz rasend machte mich das.

»Natürlich nicht! Das passt perfekt. Dian hat mich nämlich gefragt, ob ich bei ihr einziehen will, weil sie sonst die Miete nicht zusammenbekommt. Ich habe gesagt, ich überlege es mir, weil ich dich nicht im Stich lassen wollte, aber so ist das überhaupt kein Problem.«

Elizas Gesicht hellte sich auf. Es machte mir zu schaffen, dass sie meine Lüge so ohne Weiteres schluckte. Und es tat weh, dass sie nicht einmal aus Anstand protestierte. »Großartig.« Dann zog sie einen Schmollmund. »Aber vermissen werde ich dich.«

»Wir sehen uns doch jeden Tag beim Ballett«, meinte ich.

Erfreut klatschte sie in die Hände. »Ich rufe sofort Nikolaj an und erzähle es ihm.« Damit hüpfte sie ins Wohnzimmer.

»Ich dachte, dir geht es nicht gut …«, sagte ich leise. Sobald ich ihr Gurren hörte und wusste, dass sie Nikolaj am Telefon hatte, machte ich mich auf den Weg. Ich trampelte die Treppe herunter und stellte mir vor, ihre Schädel unter meinen Füßen krachen zu hören. Draußen lehnte ich mich kurz an die Hauswand. So kannte ich mich gar nicht. Früher war »von Eifersucht verzehrt« einfach eine bedeutungslose Redensart für mich gewesen, jetzt jedoch wurden diese drei Worte harte, bittere Realität. Sie bildeten ein Dreieck, das mich gefangen hielt.

Während ich zum Musiktheater radelte, versuchte ich den Kopf freizubekommen, aber das gelang mir überhaupt nicht. Die Gedanken strömten immer wieder nach; wie Blätter im Herbst segelten sie mir vor die Füße. Zum ersten Mal im Leben bekam ich nicht, was ich wollte: nicht die Rolle, die ich wollte, nicht den Mann, den ich wollte. Ausgerechnet meine beste Freundin kriegte all das. Ich tat mein Möglichstes, um mich für sie zu freuen, aber jedes Mal, wenn ich sie tanzen sah, mit ihm, überzog der Neid wie Schweiß meine Haut.

Ich stopfte mein Rad zu den vielen anderen im Ständer. Drinnen war unglaublich viel los. Fieberhaft legte man letzte Hand an Kulissen und Kostüme. Bald nach mir erschien Eliza. Sie war sehr blass, und nachdem sie einige Übungen an der Stange absolviert hatte, erklärte sie, sie werde sich kurz hinlegen, damit sich ihr Magen etwas beruhigen konnte. Ich riet ihr, beim Physiotherapeuten vorbeizuschauen, vielleicht konnte der etwas für sie tun.

In den kommenden Stunden versuchte ich in aller Ruhe meine Muskeln zu strecken, mich aufzuwärmen und meine Rolle durchzugehen, doch ich konnte mich nur schwer konzentrieren. Um mich herum summte es nervös und hektisch, und ständig kamen und gingen Leute.

In der Kantine, wo ich zusammen mit den anderen Tänzern eine leichte Mahlzeit zu mir nahm, erschien John an unserem Tisch. Ganz kurz hatte ich Angst, er würde von gestern Abend anfangen, aber er erkundigte sich, ob ich wisse, wo Eliza steckte.

»Sie hat sich kurz hingelegt, aber muss sie nicht schon zur Anprobe?«, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr.

»Schläft sie etwa?«, fragte John.

»Sie hat sich überhaupt nicht gut gefühlt.«

»Guter Gott, auch das noch. Kann denn nicht ein einziges Mal irgendetwas glattgehen, wenn wir Premiere haben?« Nervös flatterte er davon, gefolgt von hinter ihm herwehenden Halstüchern. Von seinem einst schönen und muskulösen Ballettkörper war leider nur wenig übrig geblieben, was er mit weiten Gewändern in bunten Farben kaschierte. Eliza und ich überlegten regelmäßig, ob er wohl etwas darunter trug. Keine zehn Minuten später war John wieder neben mir. »Du musst kommen.«

Wenn diese Anweisung von jemandem wie John kam, fragte man nicht nach, sondern folgte ihr. Trotz seiner Korpulenz bewegte er sich erstaunlich schnell. Wir liefen zum Zimmer des Physiotherapeuten, wo Eliza wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen auf der Behandlungsliege saß. In ihrem weißen Schwanenkostüm. Im Zimmer roch es nach Erbrochenem.

»Sie hat eine ordentliche Spritze bekommen, aber die hilft nichts«, erklärte John. »Sie kann kaum aufrecht stehen, vom Tanzen ganz zu schweigen. Du musst ihre Rolle übernehmen.«

Eliza stöhnte. Ob das Protest oder Zustimmung bedeutete, wusste ich nicht.

Als Allererstes spürte ich eine riesige Aufregung, die irgendwo in meiner Magengrube explodierte. Das war meine Chance. Ich würde allen zeigen, dass sie ursprünglich die Falsche gewählt hatten. Ich nickte mit ernstem Gesicht und ließ nicht zu, dass mir die Freude die Lippen zu einem Lächeln verzog. Danach verspürte ich ganz kurz Mitleid mit Eliza. Viel Zeit, um mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, blieb mir jedoch nicht. Flinke, kundige Hände halfen mir ins Kostüm. Der weiße Tutu und das Mieder waren über und über mit Glitzersteinen verziert. Danach wurde ich in den Solistenflur geführt, um mich schminken zu lassen. Während ich dasaß und man sich mit mir befasste, versuchte ich mich einigermaßen zu beruhigen. Das Herz klopfte mir so stark, dass ich im Spiegel sehen zu können glaubte, wie sich mein Mieder auf und ab bewegte. Einige Kollegen hatten gehört, was los war, und kamen vorbei, um mir viel Glück zu wünschen.

Während mein Haar straff eingeflochten wurde, erschien meine Mutter im Türrahmen. Sie hatte deutlich weniger Probleme damit, ihre Freude zum Ausdruck zu bringen.

»Ich habe es gerade gehört – einfach großartig für dich«, meinte sie.

»Mam! Du bist aber früh dran.«

»Ich wollte dir schnell Hals- und Beinbruch wünschen, und auf dem Weg hierher bin ich Hugo begegnet. Er hat mir von der fantastischen Neuigkeit berichtet.« Dann wandte sie sich an die Maskenbildnerin. »Das Make-up muss noch dicker. Das Lampenlicht ist grell, und wenn sie schwitzt, läuft ihr sonst alles aus dem Gesicht.« Die Maskenbildnerin schaute kurz empört drein, befolgte aber die Anweisung meiner Mutter. Ich hatte das Gefühl, die Schminkschicht würde Risse bekommen, sobald ich auch nur einen Gesichtsmuskel bewegte.

»Alle wichtigen Promis sind gekommen. Und die Presse. Alle großen Zeitungen.«

»Danke schön, Mam, da fühle ich mich gleich ein ganzes Stück weniger nervös.«

»Nervosität ist …«

»… gut, weil sie den Körper auf das vorbereitet, was gleich kommt. Ja, ja, ich weiß.« Wie oft hatte ich sie das in den vergangenen Jahren wohl sagen hören? Trotzdem wurde das Bedürfnis, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen, nicht weniger.

»So schnell kann’s gehen. Gestern Abend war sie doch noch völlig in Ordnung? Gott sei Dank bist du nicht auch krank geworden.«

»Wie meinst du das?«

»Ihr wohnt zusammen. Bakterien oder Viren bleiben nicht bei einem Menschen«, erklärte meine Mutter schaudernd. »Ich sehe gleich mal nach, wie sie sich inzwischen fühlt.«

»Übrigens, kann ich eine Zeit lang bei euch wohnen?«

»Natürlich, Schatz, du bist immer bei uns willkommen, das weißt du doch. Aber warum?«

»Eliza und Nikolaj wollen zusammenziehen.«

»Und das bedeutet, du musst raus?«, fragte sie missbilligend.

»Ich will es selbst so«, gab ich zurück.

Jemand klopfte an die Tür. Eine Sekunde später streckte Hugo den Kopf um die Ecke. »Bist du so weit? In einer halben Stunde ist Einlass.«

Das bedeutete, dass ich noch kurz mit Nikolaj auf der Bühne üben konnte. Ich setzte die Kopfbedeckung mit den Federn auf. Im Spiegel erkannte ich mich kaum wieder. Nach einem letzten Blick ging ich in den Großen Saal. Auf dem Flur nahm ich aus den Augenwinkeln Eliza wahr. Sie stand in einem Bademantel da und zitterte am ganzen Körper. »Viel Erfolg«, sagte sie und warf mir eine Kusshand zu.

»Ich finde das Ganze so schlimm für dich«, beteuerte ich und wollte auf sie zugehen.

»Komm mir nicht zu nahe, sonst steckst du dich noch an. Und wer soll dann tanzen?«, wehrte sie mit einem schwachen Lächeln ab. »Wir sprechen später über alles. Beeil dich, du musst da raus.«

»Wirst du zuschauen?«

»Davon wird mich nichts und niemand abhalten.«

Nikolaj stand schon auf der Bühne und übte seine Tanzschritte. Bei meinem Anblick kam er auf mich zu.

»Es tut mir leid«, sagte ich.

»Du kannst doch aber nichts dafür?«

Er sah ein bisschen komisch aus, anders als sonst.

Was es genau war, konnte ich nicht sagen. Seine Augen wirkten wie vernebelt. Lag das an der Konzentration, oder hatte er etwas genommen? Ich hatte Gerüchte gehört, dass er vor jeder Vorstellung »etwas« einwarf, weil er dann besser tanzte.

»Nein, aber ich … Du hast dich doch sicher darauf gefreut, mit Eliza zu tanzen.«

»Ja, das ist wahr. Aber jetzt werden wir heute Abend die Leute verzaubern. Das ist das Allerwichtigste.«

Natürlich war dieser Auftritt wichtig für ihn. Sein Debüt auf niederländischem Boden. Und nicht nur das: die Rückkehr des Golden Boy.

Und wir verzauberten die Leute. Verrückterweise wurde ich ganz kurz vor meinem Auftritt, als ich schon hinter den Kulissen stand, plötzlich wunderbar ruhig. Ich spähte zum Publikum hinaus. Der Saal war zum Bersten gefüllt. Alle schauten aufmerksam auf die Bühne. Ich dachte nicht an das, was schiefgehen könnte, und das war eine ganze Menge – ich könnte fallen, stolpern, meinen Partner aus dem Gleichgewicht bringen, mir den Fuß verdrehen oder meine Tanzschritte vergessen. Wenn das passierte, würde es eine ganze Weile dauern, bis man mir wieder eine Hauptrolle anvertraute, wenn überhaupt. Stattdessen dachte ich daran, was dieser Abend für mich bedeutete. Ich wartete voller Ungeduld, konnte fast nicht stillstehen.

Der Moment, als ich die Bühne betrat, war wie verzaubert. Erwartungsvoller Applaus erklang. Ich nahm meine Position ein. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Die ersten Takte der Musik erklangen. Wie von selbst bewegte ich mich. Es fühlte sich geschmeidiger, anmutiger, authentischer an als jemals zuvor. Zum ersten Mal in meinem Leben tanzte ich die Hauptrolle. Darauf hatte ich mein ganzes Leben lang hingearbeitet. Dafür war ich geboren, dafür war ich gemacht. Das hier konnte der Beginn meiner Karriere als erste Solistin sein.

Es gelang mir, die zweiunddreißig Pirouetten zu vollenden. Fehlerlos. Ich flog. Ich schwebte. Ich war high vom Adrenalin.

Danach folgte Beifall, der die Leute aus den Sitzen riss und minutenlang anhielt. Aus dem Augenwinkel sah ich John und meine Mutter. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ich warf ihr eine Kusshand zu.