Vor zwei Jahren
Ich sog so viel Luft in meine Lungen wie möglich und tauchte wieder nach unten. Durch das viele Wasser, mit dem sich mein Mantel vollgesogen hatte, wurden meine Bewegungen frustrierend träge. Die Strömung war stark und kümmerte sich nicht um meinen Instinkt, mit dem ich meine Kinder retten wollte. Ich kämpfte mich nach unten, bewegte Arme und Beine so kräftig wie möglich. Die Augen hatte ich geöffnet, sah jedoch nichts. Alles war schwarz. Es dauerte endlos lange. Wie tief war es hier? Befand ich mich auf dem richtigen Weg? Was, wenn ich mich irrte?
Gerade wollte ich in eine neue Richtung schwimmen, als meine Finger das Gummiprofil eines Reifens berührten. Ich hielt mich mit einer Hand an der Unterseite des Wagens fest und öffnete mit der anderen den Reißverschluss meines Mantels. Meine Finger waren eiskalt und gehorchten mir kaum. Die Zeit verging wie ein schnell davonströmender Fluss. Endlich hatte ich den Reißverschluss gelöst und konnte mich in entsetzlicher Langsamkeit aus dem Mantel winden, erst aus dem einen Ärmel, dann aus dem anderen. Meine Lungen schrien nach Luft, sie protestierten, kreischten nach Sauerstoff, doch ich wusste, dass ich nicht noch einmal nach oben schwimmen konnte. Dafür fehlte mir die Zeit. Meinen Kindern fehlte die Zeit. Waren sie wach? Hielten sie die Luft an? Waren sie bewusstlos und hatten das alles erstickende Wasser bereits eingeatmet?
Ich suchte nach der Tür, bis ich bemerkte, dass ich mich auf Höhe der Hinterräder befand. Dann hielt ich mich an der Unterseite des Autos fest und arbeitete mich zur Beifahrertür vor, während ich mich dafür verfluchte, dass wir einen Dreitürer geliehen hatten. Auf halbem Wege überfiel mich ein Gedanke, der mir alle Kraft raubte. Welchen Sinn hatte das Ganze? Das Wasser hatte doch sicher schon gewonnen und meine Kinder als Tribut gefordert.
Wo war Nik? Ich betete darum, er hätte unsere Kleinen bereits aus dem Wagen geholt. Während ich nach unten geschwommen war, befand er sich schon auf dem Weg nach oben. Wir hatten einander um Sekunden verpasst. In Gedanken sah ich vor mir, wie er Natalja und Gregory mit einem einzigen Griff packte und sie an die Oberfläche zog. Mit kräftigen Armbewegungen erreichte er das Ufer. Er war stark, er konnte mich mit einem Arm über seinen Kopf heben. Die Kinder wogen zusammen so viel wie ich. Ja, während ich hier im Dunkeln herumsuchte, waren sie längst in Sicherheit. Ich wollte schon aufgeben, die letzten Kräfte nutzen, um wieder nach oben zu kommen.
Aber nein, nein, das kam nicht infrage. Ich musste es sicher wissen.
Ich fand die Türöffnung und schwamm in den Wagen. Plötzlich wusste ich es wieder. Gregory hatte hinter mir gesessen und Natalja hinter Nik. Ich wand mich durch die schmale Öffnung zwischen den Vordersitzen. Meine Hände ertasteten zwei Köpfe, die sich im Wasser auf und ab bewegten. Ein Schrei wallte in meiner Brust auf, wie der Urschrei, mit dem ich sie zur Welt gebracht hatte, jetzt jedoch umgekehrt.
Nein, jetzt gab es keinen Platz für Emotionen, ich musste handeln, einfach nur handeln. Wenn ich mich mit Gefühlen aufhielt, verlor ich kostbare Sekunden, die ich nicht verschwenden durfte. Die Gurtschnallen befanden sich nebeneinander, und mit zwei Händen konnte ich sie lösen. Ich zog und zerrte an den dicken Wintermänteln, bis ich spürte, dass beide Kinder frei im Wasser schwebten. Sie hatten überhaupt kein Gewicht, und ganz kurz erwies sich das Wasser als mein Freund. Beide hielt ich an den Kapuzen ihrer Mäntel fest, und es gelang mir, erst ein Kind und dann das andere mit viel Stoßen und Ziehen durch die schmale Öffnung zwischen den Vordersitzen hindurchzubekommen.
Es war, als würde mir die Euphorie dieses Sieges Flügel verleihen, denn ehe ich es mich versah, hatten wir es durch die Tür geschafft. Doch das Gefühl ebbte ebenso schnell ab, als ich mit einem Kind an jeder Hand nach oben zu schwimmen versuchte. Sämtliche Kräfte verließen mich. Die beiden waren nicht länger unendlich leicht, sondern zehnmal so schwer wie sonst. Mein Körper verfügte nicht mehr über genug Sauerstoff, um meine Arme und Beine zu versorgen, sie mit der lebensrettenden Energie auszustatten, die ich brauchte, um an die Oberfläche zu gelangen. Ich fing an zu zucken, während ich gegen den alles beherrschenden Drang ankämpfte, Luft zu holen.
Ich verfluchte meine Schwäche. Beim Ballett war ich so stark, konnte endlos weitermachen. Das musste auch so sein, wenn man eine Vorstellung von zwei oder drei Stunden zu absolvieren hatte. Mein körperliches Durchhaltevermögen war riesig. Beim Messen meiner Lungenkapazität hatte ich ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis erzielt. Mein größter Stolz waren meine Beine. Sie vollführten die fantastischsten hohen Sprünge – und zwar hintereinander. Ich konnte Pirouetten drehen, bis mir schwindlig wurde. Beim täglichen Fitnesstraining, das nötig war, um die so sehr benötigte Muskulatur aufzubauen, konnte ich mühelos fünfzig Kilo stemmen.
Und nun war ich hilflos. Das alles nutzte mir nichts. Meine Arme und Beine wurden übersäuert, meine Lungen waren leer. Ich hatte nicht die Kraft, beide Kinder in Sicherheit zu bringen. Ich musste eines von ihnen loslassen.
Aber wen?
Wen?
Gregory oder Natalja?
Gregory.
Natalja.
Entscheide dich.
Jetzt.