23.

Mischa

Gegenwart

»Guten Morgen, Mischa.« Willy betrat das Zimmer, gefolgt von Jantien. Sie gab etwas in den Computer ein. »Heute Nachmittag kommt ein Psychologe vorbei, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Worüber denn?«

»Worüber Sie wollen«, gab Willy zurück.

»Da fällt mir nichts ein.«

»Über die Zukunft vielleicht? Diese Frage stellen sich die meisten Patienten zuerst. Werde ich wieder arbeiten können? Sie haben von den Ärzten erfahren, dass Sie wahrscheinlich nie wieder Ihr altes Niveau beim Tanzen erreichen. Das scheint mir doch ein Thema, das man besprechen sollte.«

Ich wollte in Ruhe gelassen werden. Jeden Tag kam fast ein ganzes Heer vorbei: Ärzte, Pflegekräfte, eine Diätberaterin, ein Physiotherapeut und jetzt also auch noch ein Psychologe. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis nach professioneller Einmischung. Beim letzten Mal hatte mir das auch nichts gebracht, außer einigen klischeeartigen Ratschlägen, die ich mir genauso aus Zeitschriften oder Selbsthilfebüchern hätte besorgen können. Das wäre dann auch mindestens hundert Euro pro Woche billiger gewesen.

»Kann ich dieses Angebot auch höflich ablehnen?«

Willy tauschte einen Blick mit Jantien und zog sich einen Stuhl heran. Sie setzte sich nicht mir gegenüber, ­sondern seitlich von mir an den Tisch. Ganz ohne Zweifel lag dem eine psychologische Erklärung zugrunde. Man musste die Distanz zwischen sich und dem Patienten verkleinern. Jantien verließ den Raum nicht, sondern überprüfte die Funktion der Apparate und machte mein Bett.

»In den vergangenen paar Tagen hat man Ihnen mehrere Leute vorgestellt. Die waren vor allem hier, um Ihnen zu helfen, dass es Ihnen besser geht. Körperlich, meine ich. Aber den psychischen Aspekt gibt es natürlich auch. Und dafür haben wir einen Psychologen.« Sie schaute mich erwartungsvoll lächelnd an. Ich erwiderte ihr Lächeln und nickte, weil ich klarstellen wollte, dass ich sie verstanden hatte.

»Viele Opfer von Bränden leiden unter Albträumen oder Flashbacks. Das ist auch gar nicht erstaunlich. Sie haben etwas Traumatisches erlebt, einen Zustand, in dem sich ihnen kein Ausweg bot.«

Sollte mich das etwa beruhigen?

»Das ist etwas ganz Normales. Haben Sie damit auch Probleme?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich schlief wie ein Stein.

»Schön.« Sie räusperte sich. »Sie sind nicht nur das Opfer eines Brandes, sondern stehen außerdem unter Verdacht. Ihr Mann beschuldigt Sie, den Brand verursacht zu haben … Und Sie umgekehrt ihn.« Sie hüstelte, fühlte sich ganz eindeutig unbehaglich.

Misstrauen regte sich in mir. Würde sie etwa Waanders Bericht erstatten? »Darüber will ich nicht sprechen.«

»Das muss auch gar nicht sein, jedenfalls nicht mit mir, aber der Psychologe …«

»Den brauche ich nicht.«

Es war unglaublich, was diese Schutzkleidung für einen Effekt hatte. Der Körper des Gegenübers wurde auf Augen und Augenbrauen reduziert. Willy wirkte verletzt.

»Ich verstehe, dass das im Augenblick alles ein wenig viel für Sie ist. Und dann kommen ständig die Leute zu einem ans Bett und wollen etwas. Aber wir sind hier, um Ihnen bei der Genesung zu helfen, auch wenn sich viele Patienten schwer damit tun, jemand anderem die Kontrolle zu überlassen. Natürlich können Sie sich weigern, aber Sie können später jederzeit Anspruch auf psychologische Hilfe erheben, wenn Sie das wünschen.«

»Gut, dann danke ich Ihnen.«

»Darf ich fragen, warum Sie eine psychologische Betreuung ablehnen?«

Weil ich nicht will, dass mir jemand im Hirn herumstochert. Weil ich dann ständig ganz genau auf jedes Wort achten müsste, weil ich Angst habe, mich zu verplappern.

»Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.«

»Mir fällt auf, dass Sie ziemlich feindselig reagieren. Das ist durchaus verständlich, wissen Sie. Manchmal richten Patienten ihre Wut gegen diejenigen, die ihnen helfen wollen.« Sie tätschelte mir die Hand, voller Verständnis, auch wenn ihre Stimme beleidigt geklungen hatte.

Durch diese Geste, durch Willys Versuche, mich zu trösten, begriff ich plötzlich, dass ich die Sache gerade falsch anging. Ich musste möglichst viele Leute auf meine Seite ziehen. Ich musste Jantien und Willy zu meinem Vorteil einsetzen. Ich musste dem Vorbild meiner Mutter folgen.

»Kommt denn auch ein Psychologe zu ihm, zu meinem Mann, der mich umbringen wollte? Ich kann einfach nicht glauben, dass er auch hier zusammengeflickt wird. Er hat es verdient, im Gefängnis zu verrotten. Dieser Mann … Er ist …« Ich erstickte beinahe an dieser Wortlawine.

»Ich kann mir vorstellen, dass …«

»Schön! Schön, dass Sie sich etwas vorstellen können. Wissen Sie, was ich mir vorstellen kann? Wie er für den Rest seines Lebens in einer dunklen Zelle verfault.«

Ich beschwor Tränen herauf. Und Rotz. Wegen des Verbands fühlte sich das komisch an. Ich schluchzte laut, krümmte mich vor Schmerz und Kummer, wofür ich noch nicht einmal schauspielern musste. Willy half mir ins Bett zurück, deckte mich behutsam zu, fuhr mir mit einem nassen Waschlappen über das erhitzte, klebrige Gesicht und streichelte mir immer wieder sanft übers Haar. Die ganze Zeit flüsterte sie mir zu, alles würde gut werden.

»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihr. »Es tut mir leid, dass ich mich Ihnen gegenüber so dumm verhalten habe.«

»Pssst, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich verstehe es schon, Sie müssen einfach mit unheimlich viel fertigwerden.«

Ich nickte heftig. »Es ist alles meine Schuld. Wenn ich nicht gesagt hätte, dass ich mich scheiden lassen will, wäre das alles nicht passiert. Ich wusste, er würde ausflippen. Er hatte schon vorher gedroht, er würde mir etwas antun, wenn ich ihn verlasse. Darum habe ich es auch nie getan. Aber jetzt …«

»Aber jetzt?«, hakte Willy nach.

»Gregory wird älter. Er fängt an, Fragen zu stellen, er nimmt wahr, was für eine Beziehung sein Vater und ich führen. Bei seinen Freunden sieht er, dass es auch ganz anders sein kann … Dass es Väter gibt, die ihre Partnerinnen nicht schlagen.« Als ich unter meinen Wimpern hervorspähte, sah ich, wie Jantien und Willy einen Blick miteinander tauschten. »Er spürt die Anspannung zwischen uns. Und seit dem Tod seiner Schwester … Ich musste mich für meinen Sohn entscheiden, sonst wäre er daran zerbrochen.«

»Hören Sie mir jetzt gut zu, Mischa: Es ist nicht Ihre Schuld. Ich erlebe das oft bei Frauen, die von ihrem Partner misshandelt werden – sie nehmen die Schuld auf sich.«

»Aber ich mache immer alles falsch. Wenn ich etwas richtig machen würde, würde Nik nicht immer so böse auf mich werden«, schluchzte ich.

»Sie machen nichts falsch, das dürfen Sie nie vergessen. Er ist derjenige mit dem Problem, nicht Sie.«

Niedergeschlagen schüttelte ich den Kopf. »Er sagt oft, dass ich ihm während der Proben nicht widersprechen darf, wenn alle dabei sind, und dann tue ich es trotzdem. Dann fühlt er sich lächerlich gemacht. Niederländische Männer vertragen das, aber russische … Er kann nichts dafür. Es liegt in seiner Erziehung: Der Mann ist der Herr im Haus.« Du liebe Güte, wo nahm ich das nur alles her? Ich fühlte mich an diese Fernsehsendungen mit Doktor Phil und Oprah Winfrey erinnert, die Eliza und ich früher abends auf dem Sofa mit Wonne angeschaut hatten.

»Solche Beziehungen sind schwieriger als solche zwischen zwei Menschen mit demselben kulturellen Hintergrund«, kommentierte Willy. »Aber das bedeutet nicht, dass man dem anderen seine Überzeugungen einprügeln darf.«

»Er hat mich gar nicht so fest geschlagen …«, fügte ich schnell hinzu. »Oder wenigstens …« Ich verkrallte mich in mein Laken und sah zu meiner großen Zufriedenheit, wie meine Knöchel weiß wurden.

»Auch psychische Misshandlung ist Misshandlung«, erklärte Willy. »Wenn man immer nur zu hören bekommt, dass man nichts wert ist, dann …«

»Nein, so war es nicht. Ich … Ich bin keine Heilige, ich weiß, dass ich ihn zur Weißglut treiben kann. Ich muss ganz einfach lernen, wann ich den Mund zu halten habe, das ist alles.«

»Darüber brauchen Sie sich ja jetzt keine Sorgen mehr zu machen«, meinte Jantien trocken. Willy schaute sie schockiert an. Ich brach in Gelächter aus, und schon bald lachten wir alle drei, bevor ich das Gelächter in Weinen übergehen ließ.

»Die Polizei glaubt, ich hätte es getan.«

»Die Polizei ermittelt, das ist alles«, versuchte mich Willy zu beruhigen.

»Ich habe Angst. Jedes Mal, wenn dieser Mann hier erscheint … Er verdreht alles. Nik verdreht alles. Darin ist er ein Meister.« Einen Augenblick lang fürchtete ich, ich hätte zu viel gesagt. Wie passte das zu der schuldbeladenen Frau, die ich ihnen gerade vorgespielt hatte? Aber weder Willy noch Jantien schienen etwas gemerkt zu haben.

Jantien schaute auf ihre Armbanduhr.

»Es tut mir leid, ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten.«

Willy wechselte einen Blick mit Jantien. »Nein, nein, das ist wichtig. Es ist so gut, dass Sie sich das endlich eingestehen, nachdem Sie so viele Jahre lang geschwiegen haben. Ich muss jetzt gleich noch zu einem anderen Patienten, den ich nicht warten lassen kann, aber wir werden zusammen an dieser Sache arbeiten. Sie sind nicht allein.«

Ich gab einen zitternden Seufzer von mir und zwang mich zu einem Lächeln. Willy nickte mir ermutigend zu.

»So schlimm das alles auch sein mag, eins dürfen Sie nie vergessen: Endlich sind Sie frei von ihm.«

»Frei?«

»Sie brauchen nicht mehr krampfhaft und um jeden Preis so zu tun als ob. Als ob Ihre Beziehung perfekt wäre. Sie können endlich Ihr eigenes Leben führen.«

Meinte sie das wirklich ernst? Hier lag ich in einem speziellen Zimmer, das so gut wie möglich Bakterien und Infektionen von mir fernhalten sollte, mitten zwischen allerlei Apparaten. Ich war verbrannt, was das Ende meiner Tanzkarriere bedeutete, einer Karriere, für die ich mein ganzes Leben lang unglaublich hart gearbeitet hatte – ein anderes Leben als dieses kannte ich nicht, und ich wollte es auch nicht kennen. Und sie versuchte doch tatsächlich, dem ganzen Schlamassel einen positiven Aspekt abzugewinnen? Mir wurde kotzübel, und am liebsten hätte ich mich spontan auf ihren Schutzanzug übergeben.

»Nun ja, unsere Beziehung ist alles andere als perfekt.« Ich zog eine Grimasse. »Das ist wohl inzwischen nur allzu deutlich.« Ich sah, wie mir die beiden an den Lippen hingen, als wäre ich eine Klatschzeitschrift, die zum Leben erweckt worden war und gerade mit ihnen sprach. Etwas Spannenderes hatten sie wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr erlebt. Waren solche Pflegekräfte nicht einfach die schlimmsten Voyeure? Sie wühlten schließlich ohne Hemmungen und sogar mit Zustimmung im Leben anderer Leute herum.

Ich schniefte noch einige Male. Du lieber Gott, was war es doch einfach, Leute zu manipulieren.