Freitag

Am nächsten Morgen wachte Penelope mit schrecklichen Rückenschmerzen auf. Das geblümte Sofa war einfach zu kurz, und sie hatte das Gefühl, ihre Wirbelsäule habe eine Zickzackform angenommen. Gebückt wie eine alte Frau schleppte sie sich in die Küche. Sie stellte den Wasserkocher an und sah in den Vorgarten. Zu dem Unkraut gesellte sich jetzt auch noch ein Berg altes Holz. Genau genommen wurden die Dinge nicht besser, sondern immer schlimmer.

Als erneut unvermittelt das Gesicht vor dem Fenster auftauchte, das ihr schon am Tag zuvor aufgefallen war, erschrak sie. Und da sie eben dabei war, den Kaffee aufzugießen, schwappte das kochende Wasser über, und Penelope sprang rasch ein Stück beiseite. Der kurze Moment, in dem sie den Blick nicht aufs Fenster gerichtet hielt, reichte aus, und das Gesicht war verschwunden, als sie wieder hinschaute.

»Scheiße!«

Wenn sie in besserer Verfassung gewesen wäre, wäre sie zur Tür hinaus geflitzt, aber bis sie dort ankäme, wäre auch die langsamste Schnecke aus dem Salat gekrochen.

Immerhin ließ der Wasserboiler sie nicht im Stich, und Penelope genoss das heiße Wasser auf ihrem schmerzenden Rücken. Währenddessen ging sie in Gedanken ihren Tagesplan durch, zu dem sich noch der Kauf eines neuen Bettes gesellt hatte.

An diesem Morgen nahm sie den Wagen, weil sie den Weg zur Agentur nicht in einer akzeptablen Zeitspanne hätte zurücklegen können. Sie hatte kaum die Räume aufgeschlossen und die Agentur betreten, als der Lieferwagen vor dem Haus hielt, der etwas brachte, was ihre Laune ziemlich hob: die Leuchtreklame mit dem Namen der Agentur.

Eine Stunde später wurde das verschlafene Shaftesbury von einem goldgelben Schild erhellt: Golden Sunshine und Luxury Club.

Das auffällige Schild stimmte Penelope zuversichtlich. Jetzt war weithin zu sehen, was sie hier tat. Dass sie hier war! Okay, »weithin« war in diesem Zusammenhang ein dehnbarer Begriff, aber es war wohl kaum zu leugnen, dass künftig auf Penelopes Kosten große Teile der Main Road von Shaftesbury beleuchtet wurden.

Mit sich im Reinen setzte sie sich hinter ihren Schreibtisch, auf dem noch immer ein Festnetzanschluss und Internetzugang fehlten, aber sie wollte nicht undankbar sein. Immerhin hatte sie Strom.

Als die Ladentür geöffnet wurde, sah sie auf. Eine korpulente Frau betrat die Agentur. Ihre Lider waren blau geschminkt, die Lippen karmesinrot angemalt, und offenbar hatte sie ein wenig der roten Farbe auch auf ihre Wangen aufgetragen. Sie trug ein geblümtes Kleid, darüber eine lange Strickjacke. An einer Leine führte die Dame einen schnaufenden Mops.

»Ich nehme erst einmal eine halbe Stunde und dann, wenn es geht, eine Zehnerkarte mit Rabatt.«

Penelope war noch viel zu fasziniert von dem Anblick ihrer riesigen funkelnden Ohrhänger, um überhaupt nur ein Wort zu begreifen. Erst als die Frau sie ungeduldig ansah, fragte Penelope sich, wo sie diese Naturgewalt schon mal gesehen hatte und vor allem, wovon sie sprach.

Die Frau sah sich suchend um. »Ich wundere mich allerdings, wo Sie die Bänke aufgestellt haben.«

Penelope stand auf, kam um den Tisch herum und begrüßte ihre potentielle Kundin.

»Guten Tag, ich bin Penelope St. James. Was kann ich denn überhaupt für Sie tun?«

»Machen Sie auch Nägel und Spa?«

»Oh, ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor«, entgegnete Penelope. Das beleuchtete Schild hatte offenbar einen falschen Eindruck hervorgerufen. Die Leute dachten jetzt nicht mehr, dass sie eine Detektei eröffnen würde, sondern ein Sonnenstudio. Sie rückte der Dame einen Besucherstuhl zurecht.

»Bitte nehmen Sie erst einmal Platz.«

Der Mops ließ sich schnaufend neben seinem Frauchen auf dem Boden nieder. Einen Augenblick befürchtete Penelope, dass sie beide nur mit Mühe wieder hinausbefördern würde können.

»Ein Missverständnis?«, fragte die Frau.

»Mrs …« Penelope hob fragend die Augenbrauen.

»Colombine.« Die Frau deutete nach unten. »Das ist Valentine.«

»Schön, Mrs Colombine, Ihren Worten entnehme ich, dass Sie dachten, dies wäre so etwas wie eine Wellnessoase. Tatsächlich ist es eine Partneragentur.«

»Tatsächlich?« Mrs Colombine blickte sie fragend an.

»Ja, ich vermittle Partner mit gehobenen Ansprüchen.«

Mrs Colombine starrte Penelope unverwandt an, nur Valentine ließ ein kurzes Ächzen hören.

»Interessant«, sagte sie schließlich.

»Darf ich fragen, in welchen familiären Verhältnissen Sie leben, Mrs Colombine?«

»In alleinlebenden, meine Liebe. Mein erster Mann Herbert war ein notorischer Fremdgänger, John hat Skatabende meiner Gesellschaft vorgezogen und Julius die Gesellschaft unserer Nachbarin.«

Penelope verzog schmerzlich das Gesicht. »Wie unschön. Das waren sicher drei sehr grässliche Scheidungsverfahren.«

»Scheidung?« Mrs Colombine schüttelte den Kopf. »Sie sind allesamt verblichen. Ich habe mich daraufhin in tierische Gesellschaft begeben. Valentine bringt mehr Loyalität und Treue auf als alle drei Ehemänner zusammen.«

Penelope schämte sich nicht gerade für den Gedanken, der ihr prompt durch den Kopf schoss, aber sie hielt doch einen Augenblick inne. War der Verdacht, dass ihr eine männermordende Matrone gegenübersaß, abwegig oder begründet? Mrs Colombine schien ihre Gedanken lesen zu können.

»Herbert meinte, er käme mit zwei Stunden Schlaf pro Tag aus. Na ja, neben seiner vielen Arbeit und den Affären kam er ja auch kaum zum Schlafen. John hat die Verluste beim Kartenspielen mit zu viel Wodka runtergespült, und Julius hat die Auseinandersetzung mit dem Ehemann der Nachbarin nicht überlebt.«

Penelope war sprachlos. »Vielleicht möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie, nachdem sie sich gefasst hatte.

»Warum nicht? Haben Sie vielleicht ein wenig Gebäck da?«

Die kleine Pantry im hinteren Teil der Geschäftsräume bot nicht viel, aber seit kurzem beherbergte sie einen glänzenden Kaffeeautomaten. Mit zwei Tassen Kaffee kehrte Penelope in den Ladenraum zurück. Auf der Untertasse für ihre Besucherin lag ein kleiner Schokoladenkeks. Der Keks war verschwunden, ehe Mrs Colombine auch nur einen Schluck Kaffee getrunken hatte.

Penelope deutete auf den Hund. »Möchte Valentine vielleicht ein wenig Wasser?«

»Sicher.« Mrs Colombine beugte sich über den Mops und kraulte ihn zwischen den Ohren. »Ich glaube, er hätte auch keine Einwände gegen einen Keks.«

»Meinen Sie, dass das gut für ihn ist?«

»Ach, ein Keks wird schon nicht schaden.«

Der dicke Mops sah nicht aus, als sei das der erste Keks, den er futterte. Aber wer war sie, dass sie der Frau Ernährungstipps für ihren Hund gab? Und sie wusste, wenn sie damit anfing, würde sie sich nicht zurückhalten können und gleich bei der Frau und ihrer Ernährung weitermachen. Also holte sie zwei weitere Kekse und verteilte sie an Hund und Frauchen.

»Tut mir leid, dass das Firmenschild einen falschen Eindruck hervorgerufen hat.« Penelope setzte sich wieder und musterte die Frau. Allein mit dem Theobromin der Schokolade ließ sich der freundliche Gesichtsausdruck von Mrs Colombine nicht erklären.

»Diese Partneragentur interessiert mich.«

»Äh ja.« Penelope setzte ein verbindliches Lächeln auf. »Wollen Sie es vielleicht doch noch mal mit einem Mann probieren?«

Mrs Colombine seufzte tief und herzergreifend. »Bis ich eben vor ihrer Ladentür stand, hätten Sie mich mit diesem Gedanken verjagen können, aber wissen Sie …« Sie warf einen Blick auf Valentine, der nach dem Genuss des Schokoladenkekses in einen komatösen Schlaf gefallen war. »Aber er ist ein Hund.«

Penelope, die aufgestanden und sich über den Tisch gebeugt hatte, um einen Blick auf den Hund zu werfen, setzte sich wieder. Fünf Worte, aber sie sagten alles über das Leben der Frau aus. Vielleicht sollten Kalorien und Make‑up nur ein eher inhaltsleeres Leben kaschieren.

»Haben Sie vielleicht eine Bilderkartei?«

Mrs Colombine war wie der Earl Blackmore ein eher schwieriger Kandidat. Die Dame sah sich auf Penelopes Schreibtisch um.

»Bräuchten Sie nicht irgend so ein Computerdings dafür?«

Penelope verzog das Gesicht. »Sie sagen es. Allerdings gibt es noch leichte technische Anlaufschwierigkeiten.«

»Ja, sieht so aus.« Mrs Colombine nahm ihre Kaffeetasse auf.

»Aber das ist kein Problem.« Penelope nahm einen Schreibblock und ihren Füllfederhalter zur Hand. »Das Wichtigste bei der Partnersuche sind ohnehin Sie. Erzählen Sie mir mal von sich.«

***

Sam setzte den Wellensittich in seinen Käfig zurück, und Heather hob den kleinen Drahtkäfig an.

»Sie können ihn jetzt Mrs Hunter zurückbringen. Schnabel und Krallen sind gekürzt, und sie soll ihm einen Wetzstein am Gitter anbringen.«

»Wird gemacht. Haben Sie übrigens gesehen?«

»Was denn?« Sam zog sich das Tuch vom Kopf. »Bringen Sie gleich noch den Behandlungstisch in Ordnung? Danach können Sie Mittag machen.«

»Die neue Beleuchtung von Shaftesbury«, ließ ihn Heather wissen, ohne auf seine Anweisungen einzugehen.

»Welche Beleuchtung?«

»Von Mrs Sunshine.« Heather grinste breit. »Sie versteht es wirklich, Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei fand ich ihren Auftritt hier im OP schon ziemlich gut.« Sie warf ihrem Chef einen letzten Blick zu und ließ dann die Tür zum Behandlungsraum hinter sich zufallen.

Er verstand kein Wort, aber Sam nahm an, dass seine Sprechstundenhilfe von seiner neuen Nachbarin sprach. Der Gedanke an sie ließ sein Herz höher schlagen. Vielleicht sollte er sich diese phänomenale Leuchtquelle mal ansehen. Schien ja bemerkenswert zu sein. Sam schlüpfte in seine Lederjacke und trat auf die Straße. Heather hatte recht. Über dem Nebeneingang hing ein überdimensionierter Leuchtkörper mit der interessanten Aufschrift Golden Sunshine und Luxury Club.

Was zum Teufel war das?

Eine Bewegung im Innern des Ladens lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Schild ab. Penelope St. James stand am Schaufenster, strich sich eine Strähne hinter das Ohr und lächelte ihm zu. Er wusste nicht, was heller strahlte, ihr Lächeln oder die Leuchtreklame. Jetzt deutete sie nach oben und hob dann fragend die Schultern. Sam reckte den Daumen in die Luft. Penelope winkte ihn herein.

»Nicht zu hell?«, fragte sie, als er eintrat.

»Ziemlich hell, aber wenn Sie damit Aufmerksamkeit erregen wollen, haben Sie Ihr Ziel erreicht.« Sam sah sich um. Nach einer Boutique sah es hier nicht aus. Eher nach einem Büro.

»Tja, stellt sich nur die Frage, inwiefern ich Aufmerksamkeit errege.«

»Wie?«

»Offenbar verwirre ich die Leute mit meinem Firmenschild. Die jüngste Vermutung war ein Sonnenstudio.«

»Interessant. Ich habe gehört, Sie hätten ein Einrichtungsstudio aufgemacht.«

»Das ist mir neu«, stellte Penelope fest. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gern.«

»Setzen Sie sich doch.«

Sam setzte sich und sah sich um. Es gab überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, was sie hier vorhatte. Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee hin. Den Keks von der Untertasse steckte er sich in den Mund. Das war sein Mittagessen.

»Sie kommen auch nicht drauf, oder?«

»Worauf?«

»Na ja, was ich hier aufziehen will.«

»Ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, Earl Blackmore wünscht sich den Zeitschriftenladen zurück.«

»Das stimmt. Und ich gehe inzwischen davon aus, dass ich damit mehr Erfolg hätte.«

Sam hob die Augenbraue.

»Ich habe kein Telefon. Und ein Internetzugang scheint für mich unerreichbar zu sein.«

»Tja, was genau haben Sie denn hier vor?«

»Eine Partneragentur.«

Sie wirkte auf ihn plötzlich verzagt. So als sei sie sich ihrer Sache gar nicht mehr sicher. Und Sam war verwirrt. »So etwas wie eine Partnervermittlung?«

Ihr Gesicht sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Das klingt wirklich interessant«, bemühte er sich, ihre Stimmung aufzuhellen.

»Es klingt, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»So krass würde ich es nicht formulieren.«

»Es klang wie eine gute Idee, als mein Chef mir damals vorgeschlagen hat, hier eine Niederlassung zu eröffnen. Aber jetzt bin ich plötzlich nicht mehr so sicher. Dabei dachte ich, dass die Leuchtreklame alle Unklarheiten beseitigt.«

Sam grinste. »Und jetzt hat das Licht die Verwirrung erst komplett gemacht?«

»So ungefähr.«

»Ihr Plan klingt doch sehr Erfolg versprechend. Sie müssen wir davon unbedingt mehr erzählen.« Sam rutschte ein wenig auf dem Stuhl herum. »Vielleicht bei einem Abendessen?« Jetzt war es raus.

Penelope lächelte verlegen. »Das wäre nett. Nur wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, dann vielleicht nicht im Golden Horse.«

Sam grinste. »Verstehe ich gar nicht. Dort ist es nett und immer gut besucht.«

Sie grinste ebenfalls, und es gefiel ihm, dass sie nicht einfach nur lächelte. Die Frau hatte Humor.

»Und wie laufen die Geschäfte?«

»Oh, es kamen schon jede Menge Menschen herein, die auf die Sonnenbank wollten oder eine Zeitschrift über Rosen kaufen und die als potentielle Kunden wieder hinausgingen.«

»Der Earl vermisst Mrs Middlecroft vermutlich. Sie haben sich blendend verstanden. Rosen war ihr gemeinsames Thema.«

»Jetzt fühle ich mich schlecht.«

»Tut mir leid«, sagte Sam. »Aber es liegt ja nicht an Ihnen. Edna wollte den Laden schließlich nicht mehr weiterbetreiben.« Er sah sich um. »Und es gibt also Probleme mit dem Anschluss an den Rest der Welt? Das überrascht mich nicht. Unser Telefon funktioniert auch nur, wenn die Sonne scheint, und das Internet hängt von Umständen ab, die wir noch nicht durchschaut haben.« Sam sah sie an. »Hilft Ihnen nicht wirklich weiter, wie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist tröstlich, dass ich nicht allein bin.«

»Der Earl war hier?«, fragte er nach.

»Na ja, er hat mich gefragt, ob ich eine bestimmte Zeitschrift führe. Irgendetwas mit Rosen. Morgen Nachmittag besuche ich ihn, und wir gucken mal, ob ich eine Frau für ihn finde.«

»Wenn Sie das schaffen, sind Sie gut. Er ist ein netter Kerl, aber ein wenig verschroben.«

»Er ist eine Herausforderung«, gab Penelope zu. »Genauso wie Mrs Colombine.«

»Sie war auch hier?«, fragte er erstaunt.

Penelope wiegte den Kopf. »Wie gesagt, versehentlich.«

»Verstehe. Sie war wohl diejenige mit der Sonnenbank. Tja, also wie gesagt, ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Sie haben es in der Hand, sich einen Na…« Sam wurde durch das Läuten der Türglocke unterbrochen. Lilly kam herein.

»Dad, was machst du denn hier?«

Sam streckte die Hand nach ihr aus und gab ihr einen Kuss. »Ich unterhalte mich mit Mrs St. James.«

»Suchst du eine Frau?«

Sam schluckte. »Nein, wie kommst du darauf?«

»Na ja, weil es die hier im GSLC gibt.«

»Wo?«

»Im Golden Sunshine und Luxury Club«, wiederholte Lilly und unterlegte ihre Worte mit einer kleinen Melodie und einer Tanzbewegung.

Sam machte der Vortrag seiner Tochter verlegen, aber Penelope kicherte, und Lilly verbeugte sich.

»Wenn ich mal einen Jingle brauche, würdest du dann einspringen?«, fragte Penelope.

»Klar, kann ich gern machen.« Lilly kletterte auf Sams Schoß. »Wenn du willst, könnte ich versuchen, Rose in die Show mit einzubauen.«

»Darauf würde ich, glaube ich, gern verzichten«, murmelte Penelope.

»Du machst dir nicht so viel aus Ratten, oder?«

»Nein, nicht besonders.«

»Okay.« Sam schob Lilly sanft von seinem Schoß und stand auf. »Wir lassen Mrs St. James jetzt in Ruhe.«

»Na schön.«

»Hast du Hausaufgaben auf?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kaum der Rede wert.«

»Dann werden wir uns diese Belanglosigkeit nach dem Mittagessen mal ansehen«, entgegnete er.

Sam bugsierte Lilly zur Tür und wandte sich noch einmal zu Penelope um. »Ich hole Sie um sieben ab, okay?«

»Okay.« Sie stand auch auf und winkte ihm zu. Und als sein Herz einen kleinen Hüpfer machte, wusste er, dass er sich nicht geirrt hatte.

Es gab vermutlich niemanden, der sich so häufig auf dem Friedhof von Shaftesbury herumtrieb wie sie. Jedenfalls bekam Penelope hier nie eine Menschenseele zu Gesicht. Sie kannte sich einfach nicht gut genug aus auf Friedhöfen. Bisher hatte sie sich stets anlassbezogen auf ihnen aufgehalten, also bei Beerdigungen. Und wenn man es genau nahm, war sie wieder anlassbezogen hier, wenn auch der Anlass ein anderer war. Sie wollte telefonieren. Und weil heute offenbar ihr Glückstag war und ihr Smartphone drei Balken anzeigte, nutzte sie die Gelegenheit, um Jeremy mal über die neuesten Ereignisse in Kenntnis zu setzen.

»Darling!«, begrüßte er sie überschwänglich. »Wie schön, von dir zu hören. Dummerweise habe ich gerade ganz, ganz wenig Zeit.«

»Geht auch schnell«, warf Penelope hastig ein. So einfach würde er sie nicht loswerden. »Es gibt hier logistische Probleme.«

»Penny? Die Verbindung ist so schlecht. Ich kann dich kaum hören.«

»Das ist kein Wunder, Jeremy! Ich bin auf dem Friedhof.«

»Schätzchen, als ich dich das letzte Mal gesehen habe, sahst du aus wie das blühende Leben.« Sein Lachen dröhnte durch die Leitung.

»Witzig, Jeremy. Ich meine es ernst. Die Geschäfte kommen hier ganz schlecht in Gang. Shaftesbury ist funktechnisch vollständig unerschlossen.«

»Das ist doch für dich alles gar kein Problem, Liebes. Also, ich muss dann jetzt auch mal. Schreib mir doch eine E‑Mail.«

Dann war die Leitung tot. Penelope knurrte wütend. Wenn das mal ginge! Sie warf das Handy auf die Bank. So ein Mistkerl! Schickte sie hier raus in die Pampa und machte sich dann auch noch über sie lustig. Penelope kochte vor Wut. Dummerweise war heute Freitag, und der gute Jeremy war am Wochenende nie in der Agentur. Wenn sie ihn also erwischen und zur Rede stellen wollte, musste sie sich bis Montag gedulden, und im Augenblick war sie nicht sicher, ob ihr das gelang. Sie stützte sich auf der Sitzfläche der Bank ab und sah sich um. Das war doch irre. Wenn sie klug war, baute sie ihre Leuchtreklame ab und kehrte nach London zurück. Edna Middlecroft konnte wieder Zeitschriften verkaufen, und alle wären glücklich und zufrieden. Kein Bewohner von Shaftesbury würde sie vermissen. Penelope lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Und dieses Orgelgedudel machte sie ganz krank. Jeden Vormittag hockte irgendwer in der Kirche und spielte religiöses Zeug. Das war für ihre Stimmung keineswegs hilfreich. Sie sehnte sich nach einem wummernden Bass oder danach, auf einen Sandsack einzuschlagen. Plötzlich brach das Orgelspiel ab. Penelope legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Strahlend blau und wolkenfrei. Die Luft war warm, ein sanfter Windhauch strich ihr über das Gesicht. Wenn sie alle Ärgernisse verdrängte, war es genau genommen gar nicht so schlecht in Shaftesbury. Hier war es ruhig, und es gab nicht allzu viele Menschen. Die Luft war deutlich besser als in London. Wenn sie jetzt noch Internetzugang hätte, könnte sie wenigstens online in ihren liebsten Shops stöbern. Wenn sie ehrlich war, zeigten sich schon gewisse Entzugserscheinungen. Ihre Finger wollten kühle Seidenstoffe spüren, schmalgeschnittene Jacketts betasten und mit Goldfäden durchwirkte marineblaue Shirts auswählen. Penelope bewegte die Zehen in ihren Jimmy Choo Pumps. Wie gern würden ihre Füße mal wieder in nagelneue Wildlederpumps von Ralph Lauren schlüpfen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich an das Gefühl in London zu erinnern. Okay, sie lebte zwar noch, aber die Lebensqualität hier war … Penelope verzog den Mund. Schlechter? Eigentlich nicht. Anders vielleicht. Sie hatte hier eine ganze Menge interessanter Leute kennengelernt. Die Sorte Menschen, von denen man in London nicht viele antraf.

Erschrocken riss Penelope die Augen auf und machte beinahe einen kleinen Satz von der Bank, als ein rockiges Riff über den Friedhof klang, das sie bisher nur auf einer Gitarre gehört hatte. Das Riff wurde zweimal wiederholt, dann erkannte Penelope den Rocksong »Highway to Hell«.

Blackmore Manor war umgeben von einer wunderschönen Parkanlage – und von einer Mauer. Penelope hielt vor dem zwei Meter hohen Gartentor und genoss einen Augenblick lang die Pracht. Wer hätte das gedacht, dass der hagere alte Mann mit dem schäbigen Anzug in so einem großzügigen Anwesen lebte? Sie jedenfalls nicht, und ihr Zorn auf Jeremy verrauchte ein klitzekleines bisschen.

An dem rechten der beiden gemauerten Torpfosten entdeckte sie einen unscheinbaren Klingelknopf, den sie drückte. Es dauerte einen Augenblick, dann sprach eine weibliche Stimme zu ihr.

»Guten Tag, Mrs St. James. Bitte kommen Sie herein.«

Die beiden Flügel der Pforte öffneten sich, und Penelope sprang schnell in den Wagen. Der Kies knirschte unter den Rädern ihres Minis, als sie die Auffahrt hochfuhr. Sie fuhr im Schritttempo, um die wunderschönen Rosenbeete auf beiden Seiten zu bewundern. Dagegen nahm sich ihr unkrautverseuchter Garten mit dem hölzernen Scheiterhaufen armselig aus. Als sie den Blick wieder nach vorn richtete, sah sie im letzten Moment etwas bunt Glitzerndes vor sich und trat auf die Bremse. Was war das? Penelope erhob sich ein wenig von ihrem Sitz. Ein Pfau? Ein Pfau! Vor ihrem Wagen schlug ein Pfau mit türkis schimmerndem Federkleid ein riesiges Rad. Dabei hob er den Schnabel ein wenig in die Höhe und machte den Eindruck, als würde er durch den nachmittäglichen Besuch sehr gestört.

Penelope ließ sich in den Sitz zurücksinken. Ein Pfau. Okay. Sie warf einen Blick über die Schulter, setzte den Wagen ein wenig zurück und machte einen kleinen Bogen um das Tier herum. Es bewegte sich kein bisschen. Jedenfalls so lange, bis Penelope den Wagen vor dem Herrenhaus zum Stehen brachte und sich im selben Augenblick die Tür öffnete. Die Haushälterin Sarah erschien auf der Schwelle und fuchtelte wild mit den Armen.

»Weg da, Erwin!«, rief sie. »Mach, dass du in deine Voliere kommst!«

Penelope stieg aus. »Erwin?«

Sarah hob die Schultern. »Ein eitler Pfau«, sagte sie, und beide Frauen lachten.

Erwin klappte sein Rad ein und zog dann ein wenig beleidigt mit wippendem Federschweif von dannen.

Sarah kam die Eingangsstufen herunter. »Der Kerl hat ein gutes Gehör. Sobald er die Pforte aufgehen hört, kommt er heran und macht sich wichtig.« Sie machte eine einladende Bewegung ins Innere des Hauses. »Bitte, kommen Sie herein. Der Earl erwartet Sie schon. Er hat sogar seinen besten Anzug aus dem Schrank geholt. Seit Sie Ihr Kommen angekündigt haben, ist er ganz aus dem Häuschen.« Sie beugte sich vertraulich zu ihr herüber. »So ähnlich wie Erwin.«

Arm in Arm gingen sie ins Haus, und Penelope wurde ganz warm ums Herz. Sarah war eine angenehme Frau, anders als Penelope im Gemischtwarenladen bei ihrer Bemerkung über die Pizza gedacht hatte. Sie durchquerten eine beeindruckende Halle mit Rüstungen, Schwertern und Gemälden an den Wänden.

»Der Earl wollte gleich mit Ihnen in der Bibliothek eine Whiskeyverkostung machen, aber ich konnte ihn dazu überreden, dass sie zuerst im Salon eine Kleinigkeit zu sich nehmen.«

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar«, entgegnete Penelope. »Es ist nicht so, dass ich keinen Whiskey mag, aber ich habe heute noch gar nichts gegessen.«

Sarah blieb abrupt stehen und betrachtete Penelope von oben bis unten. »Tss, Sie müssen mehr essen, meine Liebe. Sonst werden Sie das Leben hier in Shaftesbury nicht durchstehen.«

Da hatte sie möglicherweise recht, und tatsächlich verspürte Penelope ein leichtes Hungergefühl. Als Sarah die Tür zum Salon öffnete, bot sich Penelope der Anblick eines reich gedeckten Tisches, auf dem sich sämtliche Leckereien eines Teesalons versammelt zu haben schienen. Penelope entdeckte englische Madeleines mit Kokosflocken und Zierkirschen, Teigröllchen mit Sahne, Gurkensandwichs, Shortbread, Makronen und Zitronentörtchen.

»Ich bin im Himmel«, flüsterte Penelope.

»Setzen Sie sich. Der Earl wird gleich da sein. Er wollte noch nach Charles Rennie Mackintosh sehen. Nehmen Sie Earl Grey, Ceylon oder lieber grünen Tee?« Sarah rückte ein Sesselchen zurecht. »Oder wäre Ihnen ein Lapsang Souchong lieber?«

Penelope sank in den zierlichen Sessel. »Ich weiß nicht«, hauchte sie.

»Na, ich mache mal drei Kannen zur Auswahl. Sie nehmen dann einfach das, was Ihnen am besten schmeckt.«

»Gewiss.« Penelope ließ den Blick über die Wände schweifen, die mit rotem Brokat bespannt waren und an denen zahlreiche Stiche hingen. Die Nachmittagssonne brachte eine Menge silberner Kerzenleuchter, Bilderrahmen und Kunstgegenstände zum Funkeln. Das hier war das Paradies. Es musste doch möglich sein, für den Earl eine passende Frau zu finden. Vor ihrem inneren Auge erschien eine elegante, kulturell interessierte Rosenliebhaberin. So etwas musste es doch geben.

»Ah, da sind Sie schon.« Earl Vincenz Blackmore hatte den Salon betreten. »Sarah sagte, Sie würden gern eine Kleinigkeit zu sich nehmen.«

Penelope erhob sich. »Unter einer Kleinigkeit verstehe ich etwas anderes. Guten Tag, Earl Blackmore.«

»Vincenz für Sie, meine Liebe. Und Sie müssen nicht denken, dass die gute Sarah mir diese Zuwendung jeden Tag angedeihen lässt.« Er knöpfte das Jackett auf und setzte sich. »Ich kann froh sein, wenn ich eine Scheibe Trockenbrot kriege.«

Das leise Klirren von Geschirr kündigte die Rückkehr der Haushälterin an, die auch schon mit einem Teewagen hereinkam.

»Sie tun mir von Herzen leid«, sagte sie in Richtung ihres Dienstherrn, dessen letzte Bemerkung sie offenbar gehört hatte.

Der Earl schnalzte mit der Zunge. »Gestern habe ich Sie gebeten, mal wieder Ihre Schokoladentorte zu backen, und das haben Sie mir verweigert.«

Sarah schenkte Penelope Tee ein. »Sie wissen selbst am besten, was Dr. Fennary über Ihre Cholesterinwerte gesagt hat«, bemerkte sie ungerührt. »Solche Werte wären für den ein oder anderen Diktator ein Grund, den dritten Weltkrieg anzufangen.« Sie wandte sich an Penelope. »Das ist jetzt ein Lapsang. Probieren Sie sich durch.«

»Vielen Dank für alles, Sarah.«

»Gern.« Sarah drückte kurz ihre Schulter und verließ den Raum.

»Ein wenig aufmüpfig, die Gute«, stellte der Earl missmutig fest.

»Es machte aber den Anschein, als hätte sie Ihr Wohl im Blick. Und wir müssen wohl heute nicht verhungern.«

»Sie scheinen so etwas wie ein ausgleichendes Wesen zu haben.« Der Earl nahm sich ein Gurkensandwich und biss herzhaft hinein. »Greifen Sie zu, denken Sie aber daran, dass das Ganze nachher noch mit ein wenig Whiskey getränkt werden muss.«

»Sie haben es wunderschön hier.« Penelope nahm sich ebenfalls ein Sandwich. »Ihr Park ist prachtvoll.«

Der Earl seufzte. »Ich kann das alles hier nur noch am Laufen halten, indem ich Führungen zulasse.« Er warf Penelope einen vorwurfsvollen Blick zu. »Fremde Besucher im eigenen Haus. Können Sie sich das vorstellen?«

»Ich kann mir vorstellen, dass das nicht sehr angenehm ist. Auf der anderen Seite ist es doch schön, dass Sie diese Möglichkeit haben, Ihr Anwesen zu erhalten.«

Er warf ihr einen Blick zu, dem Penelope sehr wohl entnehmen konnte, dass das nichts an der Belästigung änderte.

»Vermutlich beschränken Sie die Besichtigungen auf einen Teil des Herrenhauses.«

»Selbstverständlich. Diese Hottentotten kommen nur in den Ostflügel. In meinen Räumen will ich keinen von diesen Barbaren sehen.«

»Und wer macht die Führungen?«

»Leonard. Ein ehemaliger Geschichtslehrer. Wenn Sie dem fünf Minuten zugehört haben, schlafen Sie ein.«

»Hm, wie schade. Sind die Führungen denn gut besucht?«

Er schüttelte den Kopf. »Das geht so. Könnten mehr Besucher sein. Ich rechne jedes Mal damit, dass Sarah abends nach so einer Führung einen vom Schlaf übermannten Besucher im Haus findet und aufscheucht. Die werden das sicher nicht weiterempfehlen.«

»Wo werden die Führungen denn angeboten?«

»In der Tourismuszentrale. Die legen dort Broschüren aus.«

Penelope nahm sich ein Zitronentörtchen. »Sie könnten doch im Internet mit einem virtuellen Rundgang durch Ihren Park und den Ostflügel die Besucher neugierig machen. Und Sie könnten Lesungen von englischen Kriminalromanen durchführen. Und vermutlich ließen sich auch Führungen durch Ihren Park arrangieren.« Ihr Blick begegnete dem des Earl. »Keine gute Idee?«

»Ich bin nicht sicher. Es klingt interessant. Könnten Sie da etwas machen?«

»Äh, eigentlich bin ich ja wegen der Partnervermittlung da.«

Er winkte ab. »Ich bin gar nicht so sicher, ob ich hier eine weitere Frau im Haus haben will. Eigentlich reicht mir Sarah schon.«

Penelope musste lachen. »Sarah ist Ihre Haushälterin. Ich dachte eigentlich eher an eine Lebensgefährtin für Sie.«

Der Earl sah nachdenklich auf die geschlossene Tür, durch die Sarah verschwunden war. »Genau genommen sind wir bereits seit vierzig Jahren Lebensgefährten. Solange befindet sie sich schon in meinen Diensten.«

Penelope verspeiste gerade eine Makrone. »Das spricht für Sarah. Sie scheint eine angenehme Gesellschaft zu sein.«

Der alte Mann machte ein unwirsches Geräusch. »Geht so. Sie redet mir ein wenig zu viel in meine Ernährung hinein. Und in meine Kleidung. Wenn ich es recht überlege, auch in meinen Tagesablauf.«

»Für mich klang es recht fürsorglich. Sarah macht sich Gedanken um Ihre Gesundheit.«

Earl Blackmore nahm sich ein Teigröllchen und leckte die herausquellende Sahne ab. »Das ist nicht nötig. Mit meiner Gesundheit ist alles in Ordnung.« Er wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »So, meine Liebe. Jetzt mache ich Sie mit Charles Rennie Mackintosh bekannt, und anschließend nehmen wir einen Schluck Wasser des Lebens.«

Penelope sah ihn verständnislos an.

»Whiskey, meine Liebe. Das Wasser des Lebens.«

***

Sam strich Lilly das Haar aus der Stirn. »Bist du sicher, dass du alleine zurechtkommen wirst?«

Sie machte ein empörtes Gesicht. »Ich bin doch kein Baby mehr.«

Er zog ihr die Decke bis unter die Nasenspitze. »Aber du bist meine Kleine. Das Einzige, was ich habe, und ich habe immer Angst um dich.«

Lilly kämpfte sich aus der Decke hervor und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Musst du nicht. Ich liege hier doch ganz kuschelig und sicher in meinem Bett.«

Sam drückte sie an sich. »Das will ich hoffen. Ich werde den Fernseher morgen früh fragen, ob er heute Nacht arbeiten musste.«

Sie kicherte und ließ ihn los. »Ich würde niemals nachts fernsehen«, verkündete sie ernsthaft und legte sich wieder hin. »Und was ist mit dem Eichhörnchen?«

Er stupste mit dem Zeigefinger gegen ihre Nasenspitze. »Da hast du meine Schwachstelle entdeckt. Das muss ich mitnehmen. Immerhin braucht es alle zwei Stunden sein Fläschchen.«

»Im Restaurant?«, fragte sie erstaunt.

»Ich werde es unter meinem Jackett in einem Beutel tragen und es auf dem Klo füttern.«

»Ist das denn erlaubt?«

»Weiß ich auch nicht.« Sam deckte sie wieder zu. »Wir machen ja beide manchmal Dinge, die nicht erlaubt sind.«

»Wichtig ist nur, sich nicht erwischen zu lassen«, erklärte Lilly ernsthaft.

»Na ja, ganz so ist es nicht. Wir sprechen morgen früh darüber.«

Lilly drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. »Genau, das wird ein sehr ernsthaftes Gespräch.«

Sam gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Richtig. Das wird es. Dein Handy liegt hier auf dem Nachttisch. Wenn etwas ist, rufst du mich sofort an.«

»Mach ich«, antwortete sie verschlafen.

»Gute Nacht.«

»Nacht.«

Sam zog die Tür ihres Schlafzimmers ran und löschte das Licht im Flur. Er ging hinunter in die Praxis, holte das Eichhörnchen und verstaute es vorsichtig in einem Beutel, den er vor der Brust tragen konnte. Es hatte sich recht gut entwickelt und bereits einige Gramm zugenommen.

Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zu Penelope St. James’ Cottage. Zu seiner Verwunderung war alles dunkel. Er stieg aus und klopfte, und als nichts geschah, ging er zum Wohnzimmerfenster. Er legte die Hände an die Schläfen und versuchte, durch die bleigefasste Scheibe hineinzusehen. Drinnen brannte kein Licht, und es dauerte eine Weile, bis er etwas erkennen konnte. Penelope schien auf dem Sofa zu liegen, zugedeckt mit einer Decke. Sam war enttäuscht. Offenbar hatte sie ihre Verabredung vergessen. Er hob die Hand, um an die Scheibe zu klopfen, aber dann ließ er sie wieder sinken. Vielleicht war es besser so. Schließlich hatte er mit Lilly und der Praxis genug zu tun, und eine Beziehung brachte doch immer Schwierigkeiten. Und würde er nicht jede Frau mit Jessica vergleichen? Ihr Tod war so unerwartet gewesen. So als wäre er abrupt aus einem wunderschönen Traum herausgerissen worden. Wenn das Adrenalin noch durch die Blutbahnen schoss und das Herz laut wummerte. Sein Adrenalinpegel war immer noch hoch.

Erschrocken fuhr er zurück, als das Fenster aufgerissen wurde.

»Dr. Bower. Sam!« Penelope sah entzückend aus. Die Haare ungeordnet, Falten vom Kopfkissen auf der Wange. »Es tut mir leid, ich bin eingeschlafen.« Sie fuhr sich durch die Haare. »Wissen Sie, ich habe Charles Rennie Mackintosh kennengelernt. Und anschließend Henry McKenna.«

»Wow.« Mehr brachte er als Reaktion nicht zustande.

»Kommen Sie, ich lasse Sie rein.«

Sie schloss das Fenster, das Licht im Haus ging an, und kurz darauf wurde die Haustür geöffnet. Penelope stand in der Tür und drückte den Handballen gegen die Stirn. »Dieser McKenna ist mir nicht gut bekommen.«

»Auch auf die Gefahr hin, indiskret zu sein. Wer ist dieser mysteriöse Mr Mackintosh? Und wer ist McKenna?«

»Whiskey.« Penelope ging in die Küche. »Also Charles Rennie Mackintosh ist eine Rose und McKenna ein Whiskey.« Sie runzelte die Stirn. »Oder war es andersrum?« Sie griff nach dem Wasserkocher. »Wenn ich nicht schon genug intus hätte, würde ich vorschlagen, dass wir einen Drink nehmen. Aber im Augenblick ist eine Tasse schwacher Tee besser für mich. Sie können gern einen Drink haben.«

Sam setzte sich an den Küchentisch. »Tee ist in Ordnung für mich. Wo haben Sie diese Sachen kennengelernt?«

»Ich war heute bei Earl Blackmore.« Penelope stellte den Kocher an und füllte Teeblätter in eine Kanne. »Das Problem ist mein Büro. Also, der fehlende Internetanschluss. Jedenfalls habe ich heute einen Besuch in Blackmore Manor gemacht. Eigentlich, um dem Earl Informationen darüber zu entlocken, welche Frau zu ihm passt. Aber er hat mich durch seinen Park geschleift und anschließend mit Whiskey abgefüllt.« Sie wandte sich um und lehnte sich gegen den Geschirrschrank. »Es tut mir leid, dass ich unsere Verabredung verschlafen habe. Ich wollte mich nur einen Augenblick ausruhen und muss dann eingeschlafen sein.«

»Kein Problem.«

»Wenn Sie mir fünf Minuten geben, bin ich gleich wieder bei mir. Ein bisschen Farbe ins Gesicht, und dann kann es losgehen.«

Sam sah ihr zu, wie sie den Tee aufgoss. »Wenn es Ihnen nicht passt, können wir unser Abendessen gern verschieben.«

»Nein, wirklich nicht. So ein paar Rosen können mich ja nicht derart aus der Bahn werfen.«

Er grinste. »Die Rosen vielleicht nicht, aber der Whiskey.«

Penelope stellte zwei Tassen auf den Küchentisch und schenkte Tee ein. »Genau genommen habe ich auch schon genug Tee getrunken. Sarah hat drei verschiedene Teesorten aufgegossen. Falls man mal sehr hungrig und durstig ist, wäre ein Besuch in Blackmore Manor die Lösung.« Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Der Earl sucht eine Frau?«, fragte er.

Penelope legte die Hände um ihre Tasse. »Bis er in meinen Laden stolperte, um eine bestimmte Rosenzeitschrift zu bestellen, nicht.«

»Das spricht für Ihre Geschäftstüchtigkeit.«

»Seit ich in Shaftesbury lebe, würde ich niemals auf den Gedanken kommen, meinen Namen und das Wort geschäftstüchtig in einem Atemzug zu verwenden.«

»So schlimm?«

Sie stützte das Kinn auf. »Sehen Sie mich an. Es ist Freitagabend, ich bin völlig derangiert, habe Kreuzschmerzen und einen Kater.«

»Ich dachte immer, in London freut man sich auf einen verkaterten Abend?« Er grinste.

»Witzig.«

»Ich bemühe mich immer, humorvoll rüberzukommen. Sagten Sie nicht neulich noch, dass Sie es gar nicht so schlecht finden, in Shaftesbury zu leben?«

»Das war gestern. Ich bin dazu berechtigt, meine Meinung täglich zu ändern.«

Er lächelte sie an. Sie gefiel ihm. Penelope war witzig und ein netter Kumpeltyp. Und selbst wenn sie im Augenblick nicht gestylt war, sah sie doch hinreißend aus. »Geht’s wieder?«

»Meine Lebensgeister kehren zurück.«

»Haben Sie inzwischen ein neues Bett?« Ein Satz, den man furchtbar gern wieder in den Mund zurücksaugen würde, nachdem er einem entschlüpft war. »Wegen der Rückenschmerzen …«

»Nein, ich bin nicht dazu gekommen. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, woher ich eines kriegen sollte. Ich dachte schon daran, in den Wald zu gehen und mir einen Baum zu schlagen. Mit ein bisschen Geschick kriege ich es vielleicht hin, mir ein Bett zu schnitzen.«

»Ich habe eine bessere Idee.« Sam sah auf seine Armbanduhr. »Sie kriegen fünf Minuten, und wir fahren nach Chesterfield. Die haben da ein kleines Möbelgeschäft. Einverstanden?«

»Einverstanden. Bin gleich wieder da.«

Penelope öffnete den Wasserhahn und hielt beide Hände darunter. Das kalte Wasser in ihrem Gesicht war eine Wohltat. Aber als sie die Augen öffnete und in den Spiegel sah, erkannte sie, dass das Gefühl nur äußerlich war. Sie sah aus wie eine übermüdete Schnapsdrossel. Mit einem Handtuch rubbelte sie sich das Gesicht, bis sie wieder Farbe bekam. Dann benutzte sie Eyeliner, Mascara und Lippenstift, was sie aussehen ließ wie ein Zombie, der in einen Farbtopf gefallen war. Dafür, farblich abgestimmte Kleidung auszuwählen, fehlte ihr der Nerv, weshalb sie sich für eine schwarze Chinohose und eine schwarze Bluse entschied.

Sam saß auf dem Sofa und hatte immer noch seine braune Wildlederjacke an. Er sah auf, als sie den Raum wieder betrat. »Hey, Sie sehen toll aus.«

Penelope schlüpfte in einen Blazer. »Und Sie sind ein wohlerzogener Charmeur.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Wollen wir?«

»Gern.«

Sie hatte den Eindruck, dass er ein wenig Mühe damit hatte, vom Sofa aufzustehen, und wunderte sich etwas.

Sam fuhr einen großen Jeep, in dem es ein wenig nach Tieren roch. Unauffällig schob Penelope die Nase in das Tuch, das sie sich um den Hals geschlungen hatte und das nach ihrem Lieblingsparfum roch.

»Tut mir leid, dass es hier drinnen wie im Pumakäfig riecht.« Sam legte einen anderen Gang ein. »Das bleibt leider nicht aus, wenn man ständig Tiere transportiert.«

»Ist schon okay«, sagte sie und atmete flach.

Sam grinste. »Sie sind wirklich eine tapfere Frau.«

Sie fuhren über endlose Landstraßen, und als Penelope sich zu fragen begann, wann sie ihr Ziel erreichen würden, hielten sie vor einem unscheinbaren Möbelhaus mitten auf dem Land. »Ich denke, dass wir hier ein geeignetes Bett für Sie finden werden. Mit einer harten Matratze gegen Kreuzschmerzen«, stellte er fest, während er sich abschnallte.

Sam stieg irgendwie merkwürdig aus dem Wagen aus. So, als litte er selbst unter Rückenschmerzen. Er warf Penelope einen zwinkernden Blick über das Wagendach zu und steuerte dann den Eingang an.

Offenbar hatte man sie erwartet. Die Bettenabteilung befand sich im Erdgeschoss direkt hinter dem Eingang, und zwischen zwei Doppelbetten standen drei in ein Gespräch vertiefte Verkäufer. Als Sam sie ansprach, korrigierte Penelope ihren ersten Eindruck. Die drei warteten nicht auf Kunden, sondern auf den Feierabend. Alle drei sahen wie auf Kommando auf die Uhr, als Sam auf sie einredete. Penelope blickte sich um. Das Möbelgeschäft war nicht übermäßig groß und das Angebot übersichtlich. Nicht so üppig wie in London, aber für einen Möbelladen auf dem Land gar nicht mal so schlecht. Es gab ein Einzelbett mit Metallrahmen, eines, das aussah wie ein Holzgestell mit Matratze und einen Futon. Penelope seufzte. Als sie gesagt hatte, dass es ihr egal wäre, welches Bett sie bekam, hatte sie gelogen. Keines dieser Betten löste einen Kaufreiz in ihr aus, geschweige denn den Drang, sich hineinzulegen. Das Dumme war, dass das alte Bett der verstorbenen alten Dame ganz entzückend gewesen war. Mit zauberhaften Schnitzereien und aus elegantem Mahagoniholz. Es hatte nur den grauenvollen Nachteil gehabt, dass darin eine alte Frau gestorben war. Und jetzt lag es als ein Haufen Sperrholz in ihrem Vorgarten.

Ihr Blick wanderte zu Sam hinüber. Der zog den Reißverschluss seiner Lederjacke herunter, warf einen Blick in den Ausschnitt seiner Jacke und zog den Reißverschluss wieder hoch. Dann hob er den Daumen. Penelope lächelte ihm zu. Eine Lautsprecherdurchsage verkündete, dass es auf sieben Uhr zuging und das Geschäft in wenigen Minuten schließen würde. Alle Kunden wurden gebeten, zur Kasse zu gehen. Wenn ihr Einkauf erfolgreich sein sollte, musste sie sich jetzt entscheiden. Andernfalls konnte sie sich den Gang zur Kasse schenken. Penelope öffnete den Mund, um dem Verkäufer, der an ihr vorübereilte, mitzuteilen, dass sie sich für den Futon entschieden hatte, aber er hatte an diesem Freitagabend wenige Sekunden vor Feierabend offenbar andere Pläne. Penelope seufzte. Sie würde einfach noch ein paar Nächte auf dem Sofa verbringen.

»So, ich habe das Lager angewiesen, das Modell an die Warenausgabe zu bringen.« Der Verkäufer, der es eben noch eilig gehabt hatte, war von irgendwoher wieder aufgetaucht und drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Wenn Sie dann so freundlich wären, zur Kasse zu gehen?« Er schob sie sanft in Richtung Ausgang. »Wir schließen gleich.«

Penelope warf einen Blick auf den Beleg in ihrer Hand. Summernight Dream stand dort. Kaufpreis: fünfhundert Pfund.

»Wollen wir?« Sam sah sie fragend an.

»Was wollen wir?«

»Bezahlen und dann essen gehen. Ich könnte einen Happen vertragen.«

»Summernight Dream

»Beknackter Name, finde ich auch. Aber Hauptsache Sie schlafen gut darin. Ich finde Ihre Wahl gut.«

»Meine Wahl? Aber ich habe doch gar nichts ausgesucht. Ich wollte gerade den Futon nehmen.«

»Ach, haben Sie sich in letzter Minute doch noch anders entschieden?«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Weil ich den Eindruck hatte, dass Ihnen Summernight Dream gefällt.«

»Woran meinen Sie das erkannt zu haben?«

Sam blieb vor ihr stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Weil Sie mir ein Zeichen gegeben haben. Und unter uns gesagt kam auch gar nichts anderes infrage.«

»Was für ein Zeichen?«

»Ein positives.«

Penelope schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen kein positives Zeichen gegeben.«

»Nicht?«

»Entschuldigen Sie.« Der Verkäufer fasste sie beide am Ellenbogen. »Ich muss Sie jetzt wirklich bitten. Wir sind schon über die Zeit.«

»Selbstverständlich.« Sam steuerte zielstrebig auf die letzte geöffnete Kasse zu. Kopfschüttelnd folgte Penelope ihm. Sie musste unbedingt daran denken, beim nächsten Einkauf mit Sam einiges zu beachten: nicht kurz vor Ladenschluss losgehen und genau auf ihre Mimik und Gestik achten. Und sich Gedanken darüber machen, warum Sam seine Jacke ständig auf- und wieder zumachte.

Penelope zahlte und war kaum durch die Tür, als hinter ihr bereits abgeschlossen wurde. Das war der Augenblick, in dem sie sich nach einem Drink sehnte. Freitagabends in London traf sie sich immer mit ein paar Freunden oder Kollegen auf einen Drink, um über die Erfolge der vergangenen Woche zu sprechen und das Wochenende einzuläuten. Hier in Shaftesbury stand sie Freitagabend auf einem dunklen Parkplatz und hatte ein Bett namens Summernight Dream gekauft. Ein Auto hielt direkt vor ihr.

»Kommen Sie, steigen Sie ein.« Sam beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür. »Ihr Bett habe ich schon abgeholt.«

Während sie in Gedanken versunken auf dem Parkplatz gestanden hatte, hatte Sam bereits das Bett abgeholt. Aus der Kofferraumtür ragte ein langes Paket hervor, an dem ein roter Wimpel flatterte. Auf ihr neues Bett war sie wirklich mal gespannt.

Sam hatte ein wunderschönes Lokal in Little Magnolia ausgesucht. Zwischenzeitlich war die Sonne untergegangen, und die erleuchteten Fenster luden in das warme und behagliche Innere ein. Skeptisch betrachtete Penelope die ungesicherte Fracht.

»Machen Sie sich keine Sorgen. In Little Magnolia ist noch nie etwas weggekommen.«

Penelope nickte. »Okay.« Sie würde es tatsächlich bedauern, wenn sie niemals erfahren würde, was für eine Art Bett sich hinter dem Begriff Summernight Dream verbarg.

»Kommen Sie.« Sam bot ihr den Arm, und sie hakte sich ein.

Gedämpfte Gespräche und Gelächter, unterlegt von Klaviermusik, empfingen sie. Auf den Tischen standen Kerzen, und Penelope spürte die Unterarmmuskeln unter dem rauen Leder von Sams Jacke. Als Alternative zu einer Londoner Bar gar nicht mal schlecht. Ihnen wurde ein kleiner Tisch in einer ruhigen Ecke am Fenster zugewiesen. Penelope hängte ihren Blazer über die Rückenlehne, während Sam ihr gegenüber am Tisch Platz nahm. Und seine Jacke anbehielt.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte sie.

»Nein. Ja.« Sam hatte sich kaum gesetzt, als er wieder aufsprang. »Bitte werfen Sie schon mal einen Blick in die Karte. Ich bin sofort wieder da.«

Nachdenklich sah sie ihm hinterher, als er eilig im Herrenklo verschwand. Irgendetwas stimmte mit dem Tierarzt heute nicht.

»Was darf ich Ihnen als Aperitif bringen?«

Ein Kellner reichte ihr die Getränkekarte.

»Ich nehme einen Swimmingpool«, erklärte Penelope, ohne in die Karte zu sehen.

Der Kellner betrachtete sie nachdenklich. »Einen Swimmingpool«, wiederholte er.

»Kokosnusscreme, Ananassaft, Wodka, Rum und Blue Curaçao«, erklärte Penelope. »Und falls Sie eine finden können, dann noch eine kandierte Kirsche obendrauf.«

Der Mund des jungen Mannes formte sich zu einem O.

»Die muss aber nicht sein.«

Diese Mitteilung schien ihn nicht allzu sehr zu beruhigen. »Okay.« Er wandte sich ab und verschwand hinter einer kleinen Bar.

Penelope sah sich um. Abgesehen von zwei Vierertischen gab es nur Zweiertische, und man hätte fast den Eindruck gewinnen können, dass Dr. Sam Bower mit dieser Verabredung irgendetwas im Schilde führte.

Denk nicht wie eine alte Jungfer, wies Penelope sich in Gedanken zurecht. Dass du ihm nicht egal bist, ist jetzt keine allzu große Überraschung, und umgekehrt geht es dir doch genauso. Er war so ganz anders als das, was man üblicherweise Freitagabend in einer Londoner Bar traf.

»Cheers, Madam.« Der Kellner stellte Penelope ein hohes schlankes Glas mit einer giftgrünen Flüssigkeit hin. Er hatte, vermutlich irgendwo im hintersten Winkel einer Schublade, noch ein Schirmchen aufgetrieben und eine Olive aufgespießt.

»Danke.« O Gott, das Getränk sah scheußlich aus und war von einem Swimmingpool meilenweit entfernt.

Sam kehrte vom Klo zurück. »Hey, das sieht interessant aus.« Er wandte sich an den Kellner, der unschlüssig neben dem Tisch stehen geblieben war. »Ich nehme ein Bier.«

»Also, was trinken Sie da?«, fragte Sam mit Blick auf ihr Glas.

»Ich habe keine Ahnung. Bestellt habe ich einen Swimmingpool, aber das Ganze hat eher Ähnlichkeit mit einem Froschteich.«

Sam grinste von einem Ohr zum anderen. »Möglicherweise hätte ich deutlicher darauf hinweisen müssen, dass wir hier in einem sehr bodenständigen Lokal gelandet sind. Ich glaube, von Cocktails verstehen sie hier nicht so viel.«

»Das glaube ich auch.« Penelope beugte sich über den Tisch. »Da gehört Blue Curaçao hinein, und ich habe den Eindruck, dass sie das durch Pflanzenschutzmittel ersetzt haben.«

Sam machte eine Kopfbewegung zu der Begonie auf dem Fensterbrett. »Schütten Sie das Zeug da hinein, und wir bestellen Ihnen noch ein Bier.«

»Das geht nicht«, wisperte Penelope. »Die arme Pflanze wird augenblicklich eingehen, und wir fliegen auf.«

Der Kellner brachte Sams Bier, und Sam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als er plötzlich blass wurde, den Mund wieder schloss und aufsprang. »Entschuldigung.«

Er verhielt sich wirklich merkwürdig. Penelope nahm das Schirmchen von ihrem Glas und zupfte mit den Zähnen die Olive ab. Nachdem sie sie verspeist hatte, setzte sie die Lippen an den Rand des Glases und nahm einen winzigen Schluck. Augenblicklich schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie rang nach Luft.

»Ist alles in Ordnung, Madam?« Der Kellner war herbeigeeilt und machte bei Penelopes Anblick einen hilflosen Eindruck.

Penelope versuchte tief einzuatmen. »Ich …«, machte sie, aber sie brauchte die Luft zum Atmen und konnte nicht sprechen.

»Vielleicht wenn Sie die Arme hochstrecken.«

Er fasste ihre Hände und hob sie hoch, und tatsächlich wurde es etwas besser. Luft strömte in ihre Lunge, und sie konnte wieder normal atmen. »Entschuldigen Sie.« Penelope hatte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Vermutlich war es ein Wunder, dass noch niemand einen Krankenwagen gerufen hatte.

Plötzlich stand Sam neben ihr. »Ist alles in Ordnung?« Er sah sich irritiert um. »Was ist denn los?«

»Es gab einen kleinen Zwischenfall mit Ihrer Gattin«, erklärte der Kellner. »Ich hoffe, dass es jetzt besser geht?«

Beide Männer sahen Penelope fragend an.

»Ja, danke.« Penelope senkte verschämt den Blick. »Vielleicht wollen wir lieber gehen?«, raunte sie Sam zu.

»Klar, wenn Ihnen das lieber ist, machen wir das sofort.« Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche, reichte dem Kellner einen Schein, legte Penelope eine Hand auf den Rücken und ging mit ihr nach draußen. So schnell hätte er ihrem Vorschlag auch nicht zu folgen brauchen.

»Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Sie vorgeschlagen haben zu gehen«, sagte Sam, als sie draußen in der kühlen Luft vor dem Lokal standen. »Es gab da nämlich einen kleinen Zwischenfall.«

»Ja, ich hatte schon den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Er wiegte den Kopf. »Mit mir schon. Aber mit meinem Beifahrer nicht.« Er zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück herunter. »Unser kleiner Sportsfreund hat gerade seine Blase auf meinem Hemd entleert.«

Penelope beugte sich über den Ausschnitt von Sams Lederjacke und entdeckte den winzigen Kopf des kleinen Eichhörnchens, das der junge Mann vom Telefonanbieter auf dem Friedhof gefunden hatte. »Ach du Schreck«, sagte sie und hob den Blick. »Sie haben es dabei?«

»Na ja, es muss alle zwei Stunden seine Flasche kriegen, deshalb konnte ich es nicht zu Hause lassen. Das mit dem Füttern hat auch ganz gut geklappt. Was ich nicht bis zu Ende bedacht habe, ist, dass am anderen Ende auch wieder etwas herauskommt.«

»Darf man denn einfach so ein Eichhörnchen mit ins Restaurant nehmen?«, fragte Penelope.

»Ich habe keine Ahnung, aber Sie glauben gar nicht, wie froh ich darüber bin, dass Sie für ein wenig Ablenkung gesorgt haben.«

Penelope sah in seine dunklen Augen, dann wandte sie den Blick ab und ließ ihn über die kaum befahrene Straße schweifen, an deren einen Ende das Möbelhaus lag, in dem sie ihr neues Bett gekauft hatte. In ihrem Innern löste sich etwas auf, das sie schon eine ganze Weile mit sich herumtrug. Ein Knoten aus ein bisschen Ärger über Jeremy, ein wenig Zukunftsangst, Irritation über die merkwürdigen Menschen hier draußen auf dem Land, und das Ganze zusammengezurrt von der Frage, ob sie hierher gehörte, ob sie hier überhaupt sein wollte. All das löste sich auf, und die Bestandteile überschlugen sich in ihrem Innern, begannen zu blubbern wie nach einer chemischen Reaktion, und das Blubbern stieg auf und kam als ein Prusten aus ihrem Mund, das schließlich in ein herzhaftes Lachen überging.

Etwas irritiert sah Sam zu, wie in Penelope eine Wandlung vor sich zu gehen schien. Er war mit dem Vorsatz vom Klo zurückgekehrt, sie zum Gehen zu bewegen. Es war nicht sehr witzig, mit einer von Eichhörnchenpipi feuchten Hemdbrust zu Abend zu speisen, aber nach dem Desaster mit ihrem Drink hatte er fest damit gerechnet, dass sie irgendwie ausflippen und ihm hier auf dem Parkplatz eine Szene wegen des Eichhörnchens machen würde. Aber jetzt schüttete sie sich aus vor Lachen. Sie krümmte sich, hielt sich den Bauch und trat von einem Bein aufs andere, als müsste sie dringend zur Toilette. Nach einer Weile beruhigte sie sich etwas, trocknete sich japsend die tränennassen Augen, aber als sie ihn ansah, begann sie erneut zu lachen, und in seinem Innern breitete sich ausreichend Wärme aus, um den Pipifleck auf seinem Hemd zu trocknen. Jedenfalls fast. Er gab ihr noch eine Minute.

»Geht’s wieder?«

»Tut mir leid.« Sie japste wieder, atmete tief ein. »Wirklich. Ich wollte nicht albern sein.« Sie räusperte sich. »Peinlich, ich weiß.« Sie räusperte sich erneut. Dann sah sie ihn an, und ihre Miene verzog sich erneut.

»Nächstes Mal nehme ich auch diesen Froschlaichdings, den Sie da eben getrunken haben.«

»Kann ich nicht empfehlen«, sagte sie bemüht ernsthaft. »Das Zeug schmeckte schrecklich. Ich glaube, damit kann man jemanden töten, ohne Spuren zu hinterlassen.« Sie atmete tief ein. »Wissen Sie was, Sam? Das ist mein bestes Date seit langem.«