Montag

Es war bereits Vormittag, als Penelope die Tür zum Golden Sunshine and Luxury Club aufschloss. Sie hatte grauenvoll geschlafen. Genau genommen hatte sie überhaupt nicht geschlafen und sich nur in ihrem Himmelbett von einer Seite auf die andere geworfen. Ständig waren ihr die verletzte Frau und der kleine Hund erschienen.

Sie warf den Schlüssel auf den Schreibtisch und ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen. Diese Agentur mochte nicht laufen, aber es passierte genug anderes in Shaftesbury. Ächzend erhob sie sich wieder aus dem Stuhl und ging in den kleinen Raum hinter dem Laden zur Kaffeemaschine.

Als sie die Türglocke hörte, seufzte sie. Sosehr sie ihren Beruf liebte, im Augenblick fehlte ihr der Sinn dafür, zwei Menschen zueinanderzubringen.

Mit einer Tasse starken Espresso ging sie nach vorn in den Ladenraum. Dort stand ein gut aussehender blonder Mann in Jeans und Lederjacke. Mit seinem markant geschnittenen Gesicht wäre er das Aushängeschild für den Golden Sunshine and Luxury Club. Für ihn eine Frau zu finden, sollte kein Problem sein.

»Guten Tag, Mrs St. James? Philip Farnsworth, Chief Inspector City of London Police.«

»Polizisten aus London herzuschicken ist offenbar leichter, als ein Breitbandkabel hierher zu verlegen«, plapperte Penelope drauflos.

Er fuhr sich durch die Haare und sah verwirrt aus. »Wie?«

»Vergessen Sie’s.« Penelope gab ihm die Hand. »Penelope St. James. Was kann ich für Sie tun?«

Er hatte einen kräftigen Händedruck und ein angenehmes Lächeln. »Können wir uns vielleicht setzen?«

»Natürlich, bitte.« Penelope stellte ihre Tasse ab. »Möchten Sie auch einen Espresso?«

»Haben Sie auch eine Tasse Tee?«

»Einen Augenblick.«

Penelope brühte Tee auf und legte einen Keks auf die Untertasse.

»Es geht um den Verkehrsunfall gestern auf der Straße nach Middlesbrough«, begann Farnsworth, als er die Tasse entgegennahm.

»Oh.« Penelope setzte sich. »Ich fürchte, ich kann dazu nicht viel sagen.«

»Was können Sie mir denn sagen?«

Penelope berichtete ihm, dass sie die Gemeindeversammlung verlassen und beschlossen hatte, joggen zu gehen.

»Ist das Ihre übliche Laufstrecke?« Farnsworth nahm den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn auf der Untertasse ab.

»Ich lebe erst seit einer Woche hier. Diese Strecke bin ich zum ersten Mal gelaufen. Ich wollte sie mal ausprobieren.«

»Verstehe. Dann sind Sie zufällig auf die Frau gestoßen.«

»Nein, ich habe zuerst den Hund gefunden. Auf der kleinen Brücke habe ich eine Pause gemacht und das Winseln gehört. Dann habe ich Sam angerufen. Dr. Sam Bower.« Penelope deutete nach links. »Er ist hier der Tierarzt. Er hat mir gesagt, was ich tun soll, und sich dann ganz schnell auf den Weg zu mir gemacht.«

»Und was haben Sie getan?«

»Mein Oberteil ausgezogen und den Hund damit zugedeckt. Ich hab’s nicht so mit Tieren, und außerdem wollte ich Sam auf die Stelle, wo der Hund liegt, aufmerksam machen, deshalb bin ich zur Straße hochgegangen, um auf ihn zu warten.«

»Und dort haben Sie die Frau gefunden.«

»Ja, es war schrecklich. Wie geht es ihr?«

Farnsworth, der eben die Teetasse anheben wollte, zog die Hand zurück. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass die Frau die Nacht nicht überlebt hat.«

Penelope schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein«, flüsterte sie. »Das ist furchtbar. Jemand überfährt sie einfach und lässt sie dann liegen?«

Farnsworth räusperte sich und schien ihrem Blick auszuweichen. »Hm, ja.«

Penelope erholte sich langsam von dem schrecklichen Schock, aber ihr war sein Zögern bei seiner Antwort nicht entgangen.

»Hat sie auf dem Weg von Ihrem Cottage bis zur Brücke ein Fahrzeug überholt?«, fragte der Inspector.

»Nein. Ich habe niemanden bemerkt. Weder mit Auto noch ohne.« Penelope sah ihn aufmerksam an. »Das war kein normaler Autounfall, oder?«

Farnsworth hob seine Teetasse an und nahm sich Zeit. »Es gibt keine Bremsspuren.« Er wiegte den Kopf. »Es handelt sich allerdings um eine Schotterstraße, auf der Spuren schwer nachweisbar sind. Aber wenn beispielsweise der Hund vor den Wagen gesprungen wäre, hätte der Fahrer abrupt gebremst. Der Schotter wäre weggeschleudert worden, und man könnte festen Sand darunter sehen.«

»Und solche Spuren gab es nicht«, stellte Penelope fest.

Farnsworth schüttelte den Kopf.

»Die Frau lag in der Fahrbahnbucht zum Ausweichen eines entgegenkommenden Fahrzeuges. Es spricht doch viel dafür, dass sie sich an die Seite gestellt hat, um einen Wagen vorbeizulassen.« Penelope sah den Beamten fragend an. »Oder ist sie durch den Aufprall mit dem Fahrzeug dahin geschleudert worden?« Sie hob die Hand. »Sagen Sie nichts. Sie sind die Polizei und stellen die Fragen.«

»Nein. Nein, es gibt keine Spuren dafür, dass die Frau dorthin geschleudert wurde.«

Penelope war überrascht darüber, dass er ihr die Auskunft so bereitwillig gab. Und seine Antwort machte sie nachdenklich. »Aber das würde doch bedeuten, dass …«

Er nickte. »Dass die Frau absichtlich überfahren wurde.« Farnsworth erhob sich und legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«

»Natürlich, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch mehr dazu sagen kann.« Penelope drehte die Karte in den Händen. »Es war alles schon vorbei, als ich kam.« Sie brachte den Inspector zur Tür. »Diese Frau, hat sie Familie?«

»Sie war alleinstehend, aber ihr Vater lebt noch. Der Tod seiner Tochter hat ihn natürlich sehr mitgenommen.«

Penelope seufzte. »Hat er jemanden, der sich um ihn kümmert?«

Farnsworth stand dicht neben ihr. »Es ist sehr ungewöhnlich, dass sich jemand in einer derartigen Situation nach Angehörigen erkundigt.«

Penelope schluckte. »Ich hoffe nicht, dass Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen.«

Er lächelte. »Nur den, dass Sie eine mitfühlende Frau sind, Mrs St. James. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

Durch das Schaufenster sah Penelope dem Inspector nach, der ihr noch einen Blick zuwarf, ehe er in seinen Wagen stieg. Deshalb bekam sie nicht mit, wie jemand die Tür aufzudrücken versuchte.

»Huch«, machte sie und fuhr herum.

»Dorian«, stellte der Briefträger, den sie am Vortag schon im Pub kennengelernt hatte, grinsend klar. Er trug seine Dienstuniform mit einer Schirmkappe und zog einen großen Briefumschlag aus seiner Umhängetasche.

»Natürlich. Dorian. Ich war mit meinen Gedanken woanders.«

Er grinste anzüglich und nickte in Richtung Straße. »War ja auch ein schmuckes Kerlchen, das sie hier zu Besuch hatten.«

Penelope beabsichtigte nicht, ihm mitzuteilen, dass es sich bei dem schmucken Kerlchen um einen Inspector handelte. Viel mehr interessierte sie der große Briefumschlag. Sie deutete darauf. »Ist der für mich?«

»Ist er.« Dorian übergab ihr den Umschlag. »Ich wollte mich danach erkundigen, ob Sie den Eindringling heute Morgen gestellt haben.«

Der Briefumschlag war von der Telefongesellschaft. Penelope ging zum Schreibtisch und nahm den Brieföffner zur Hand.

»Penelope?«

»Hm?« Sie sah auf. »Entschuldigung. Ich war mit den Gedanken …«

»Woanders«, beendete er den Satz für sie.

Penelope hörte gar nicht zu, weil sie in das Schreiben der Telefongesellschaft vertieft war. Man bedaure, dass es zu Schwierigkeiten bei der Installation des Telefonanschlusses gekommen sei, und sicherte zu, die Angelegenheit baldmöglich zu Penelopes Zufriedenheit zu klären. Dafür und für den von ihr gewünschten Internetanschluss seien nur noch einige zusätzliche Angaben erforderlich. Penelope blätterte durch die Anlagen. Es war ein umfangreicher Stapel von Formularen.

»Was fällt denen ein!«, schimpfte sie. »Warum muss ich eine Zeichnung meines Geschäfts mit den Anschlüssen anfertigen, wenn die nicht einmal in der Lage sind, eine Leitung nach Shaftesbury zu legen. Ohne Leitung sind meine Anschlüsse ohnehin überflüssig.«

Sie hob den Blick. Dorian sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Das interessiert Sie vielleicht gar nicht«, stellte Penelope fest. »Wie war noch mal die Frage?«

»Die Frage war, ob Sie den Eindringling mit der Ackerwinde gestellt haben.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Penelope sich gefasst hatte. Seit der Gemeindeversammlung vom Sonntagmorgen war so viel geschehen, dass sie ihren Auftrag völlig verdrängt hatte. Und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie an diesem Morgen den Eindringling nicht gesehen hatte. »Ich glaube, er war heute nicht da.«

»War er nicht da oder haben Sie ihn nicht gesehen?«, fragte Dorian mit einem leicht gereizten Unterton.

Penelope verzichtete darauf, ihn darüber aufzuklären, dass sie, wenn sie den Eindringling nicht gesehen hatte, nicht wissen konnte, ob er nicht aufgetaucht war oder sie ihn einfach verpasst hatte.

»Ich weiß nicht, Dorian.«

»Penelope, Sie haben diese Aufgabe übernommen, und wir wollen doch nicht, dass die Kräuterbüschelweihe gefährdet wird.«

»Nein, das wollen wir nicht«, stimmte Penelope zu und warf den Brief auf den Schreibtisch. »Ich gelobe Besserung.«

»Gut.« Dorian sah zufrieden aus. »Ich muss dann auch weiter. Briefe austragen.«

»Ja, das ist wohl Ihre Profession«, sagte Penelope nicht ohne einen gewissen Sarkasmus.

»Meine Profession ist die Geschichte«, korrigierte Dorian. »Abgebrochenes Geschichtsstudium.«

»Tatsächlich? Warum haben Sie keinen Abschluss gemacht?«

Dorian hob die Schultern. »Meine Mutter wurde krank, und ich bin zu ihr nach Shaftesbury gezogen. Na ja, und wie es dann immer so ist … Um mich über Wasser zu halten, habe ich den Job als Briefträger angenommen.«

»Und dabei ist es dann geblieben.« Penelope spielte mit dem Brieföffner herum. »Und wofür interessieren Sie sich am meisten?«

»Im Studium haben mich die Tudor-Epoche und das Elisabethanische Zeitalter interessiert, aber seit ich hier lebe, fasziniert mich Lokalgeschichte.«

Penelope hob eine Augenbraue. »Sie kennen sich damit aus, was in Shaftesbury los war?«

»So kann man es sagen.«

»Lesen Sie zufällig gern?«

»Wie?«

»Bücher. Krimis.«

»Bisher eigentlich eher Biographien und so, aber hin und wieder rutscht auch mal ein Krimi in meinen Bücherstapel.«

»Wie lange haben Sie jeden Tag damit zu tun, Briefe auszutragen?«

»Bis zum Mittagessen bin ich üblicherweise fertig.« Dorian legte den Kopf schief. »Warum wollen Sie das alles so genau wissen?«

»Haben Sie heute Mittag Zeit? Wir könnten uns im Golden Horse treffen, und ich erzähle Ihnen von meinem Plan.«

»Klingt interessant. Okay. Zwei Uhr?«

»Zwei Uhr.« Penelope stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. »Bis später.«

***

Es war kurz nach halb zwei, als Penelope den Lebensmittelladen betrat.

»Oh hallo, unsere Ackerwindenermittlerin«, begrüßte Laura sie mit einem Grinsen.

»Hören Sie bloß auf. Inzwischen ist so viel geschehen, dass mir der Kopf schwirrt.« Penelope sah sich suchend um. »Ich brauche Brot.«

Laura wandte sich zu dem Regal hinter dem Verkaufstresen um. »Weißbrot oder lieber etwas Dunkles?«

Penelopes Blick fiel auf den Zeitungsständer. Die Presse würde doch wohl über den Verkehrsunfall berichten. Oder? Sie nahm die Tageszeitung aus dem Ständer und studierte die Titelseite, doch sie fand keine Meldung über den Unfall. Penelope schlug den Regionalteil auf. In einer schmalen Randnotiz wurde darüber berichtet, dass es auf der Straße nach Middlesbrough zu einem tödlichen Verkehrsunfall gekommen sei. Das Opfer, die siebenundfünfzigjährige Maureen O. aus Middlesbrough, sei in der Nacht von Sonntag auf Montag ihren schweren Verletzungen erlegen. Ihre Kollegin Rita M. sagte, dass sie mit Maureen eine liebenswerte Arbeitskollegin und Freundin verloren habe.

»Penelope?«

»Wie?« Penelope sah auf. »Oh, natürlich bezahle ich die Zeitung.«

Laura trat neben sie. »Geschenkt. Was fesselt denn Ihre Aufmerksamkeit?« Sie reckte den Hals. »Verkehrsunfall. Oh, der war ja ganz in der Nähe.«

»Ja, gestern Nachmittag. Ich habe die Frau gefunden, als ich die Straße entlangjoggte.«

»Wirklich? Das ist ja schrecklich! Und da hat sie noch gelebt?«

»Sie war nicht bei Bewusstsein. Eigentlich habe ich zuerst ihren Hund gefunden. Er wurde offenbar auch angefahren.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Sam kümmert sich um das Tier.«

Laura schüttelte den Kopf. »Wer so etwas macht und dann einfach weiterfährt, ist wirklich ein Schwein.«

Offenbar ging sie von Fahrerflucht aus, ebenso wie Penelope es zunächst getan hatte. Aber sie würde ihr nicht sagen, was sie von Inspector Farnsworth erfahren hatte. Zum einen wollte sie keine Panik schüren, zum anderen sollte sie wohl besser keine ihr anvertrauten Interna ausplaudern. Penelope schlug die Zeitung zu. »Ich nehme ein Roggenbrot und die Zeitung. Und dann muss ich weiter.«

Laura schob die Unterlippe vor und kehrte hinter den Tresen zurück. Sie packte einen Laib Brot ein und reichte ihn Penelope.

»Wie viel macht das?«

»Drei fünfzig.«

»Haben Sie sich gestern noch mit Luke unterhalten?«, fragte Penelope, als sie ihr die Münzen gab.

»Habe ich. Wir sind heute verabredet.« Laura ließ das Geld in die Kassenschublade fallen und schob sie mit der Hüfte zu. »Im Restaurant in Little Magnolia.«

»Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Bestellen Sie dort auf keinen Fall einen Swimmingpool.«

»Sie waren auch schon im Hort der einsamen Herzen?«

Penelope klemmte sich die Zeitung unter den Arm. »Wo?«

»Mich würde viel mehr interessieren, mit wem Sie da waren. Möglicherweise mit unserem Freund, dem Tierarzt?«

»Ach, so meinen Sie das. Na ja, ich wollte mit ihm nicht unbedingt auf dem Präsentierteller im Golden Horse sitzen.«

»Sehen Sie, da haben wir etwas gemeinsam. Ich möchte auch nicht so gern, dass John mit uns am Tisch Platz nimmt.«

»Dann komme ich am besten morgen wieder und kaufe noch etwas ein, dann können Sie mich auf den neuesten Stand bringen.« Penelope ging zur Ladentür. »Aber jetzt muss ich dringend los.«

»Alles klar. Dann bis morgen«, verabschiedete Laura sie.

In der Ladentür stieß Penelope mit Mr. Hammond zusammen. »Oh, Entschuldigung. Ich habe nicht aufgepasst.«

»Das war meine Schuld«, entschuldigte sich der gut aussehende Mann.

Penelope schenkte dem Schauspieler ein Lächeln. »Ich würde mich gern noch länger mit Ihnen über die Schuldfrage unterhalten, aber ich muss dringend weg.«

Hammond trat zur Seite. »Ich kann es kaum erwarten, wieder mit Ihnen zusammenzutreffen.« Seine blauen Augen blitzten.

Penelope drängte sich an ihm vorbei und trat auf die Straße.

***

Sam schloss die Tür der Praxis hinter dem letzten Patienten an diesem Vormittag.

»Wir machen jetzt erst mal Mittag, Heather. Ich sehe eben nach unserem Unfallopfer, und dann gehe ich nach oben.«

»Ist in Ordnung.« Heather fuhr den PC herunter und nahm ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade. »Bis nachher.«

Sam ging den Flur entlang und sah nach dem Terrier, den er in der Sauerstoffbox untergebracht hatte. Die Röntgenaufnahme hatte ergeben, dass der Hund keine inneren Verletzungen und nur zwei gebrochene Rippen hatte. Das war wirklich erstaunlich. Allerdings war sein rechter Hinterlauf gebrochen, und Sam hatte ihn in einer aufwendigen Operation gerichtet und mit Schrauben stabilisiert. Der kleine Hund erholte sich jetzt von den Folgen des Eingriffs. Als Sam die Tür der Box öffnete, hob das Tier etwas den Kopf. Er war noch schwach, sein Schwanz klopfte leicht auf die Decke, mit der die Box ausgelegt war. Sam kraulte ihn hinter den Ohren.

»Na, Kleiner, geht’s dir besser?«

Der Hund stupste mit seiner Schnauze sein Handgelenk an.

»Offenbar«, beantwortete er seine Frage selbst. Wenn er Lilly fragen würde, würde sie ihn sofort behalten wollen. Boss tapste in den Raum, stellte sich neben Sam und rieb sich an seinem Bein. Mit der freien Hand strich Sam seinem Hund über den Kopf. »Na, mein Alter. Du musst nicht eifersüchtig sein.«

Der Golden Retriever wurde unruhig, und kurz darauf öffnete jemand leise die Tür des Behandlungsraums. Vorsichtig und ohne ihren Ranzen in die Ecke zu pfeffern, wie sie es sonst tat, schlüpfte Lilly herein. Sofort hob der Terrier den Kopf ein wenig höher, und auch die Schläge seiner Rute waren jetzt kraftvoller. Es war kein Wunder, dass das kleine Wesen Lilly mehr Sympathie entgegenbrachte als Sam. Er hatte dem Tier bei der Untersuchung und der Gabe von Injektionen Schmerzen verursacht. Lilly hingegen hatte nicht nur während der äußerst schwierigen Operation am Sonntagnachmittag assistiert, sondern war dem Tier auch während der Aufwachphase bis zum Sonntagabend nicht von der Seite gewichen. Sam hatte sie praktisch mit Gewalt ins Bett und am Morgen in die Schule zwingen müssen. Und wieder war er hin- und hergerissen zwischen dem Stolz auf seine Tochter und der Sorge, dass er ihr zu viel aufbürdete. Selbstverständlich war Lillys Erwartung, dass das Tier künftig bei ihnen bleiben würde, damit ins Unermessliche gestiegen.

»Hallo Kleiner«, begrüßte Lilly den Hund, der leise winselte, während sie ihn kraulte.

»He, ich bin auch noch da«, beschwerte sich Sam scherzhaft.

»Hallo Dad. Wie geht es ihm?«

»Schon ziemlich gut. Da er keine inneren Verletzungen hat, besteht keine Lebensgefahr. Es muss nur alles wieder zusammenwachsen.«

Und damit ging es dem Tier erheblich besser als seinem Frauchen. Am Vormittag war ein Chief Inspector dagewesen und hatte sich nach dem Unfall erkundigt, aber Sam hatte ihm nicht viel berichten können. Er hatte sich einfach bemüht, die Auffindesituation so detailliert wie möglich zu beschreiben, obwohl er genau genommen durch die Sorge um den Hund, den Zustand der Frau und nicht zuletzt durch die aufgewühlte Penelope etwas abgelenkt gewesen war.

»Das war eiskalter Mord«, erklärte seine Tochter, während sie das Ohr des Hundes kraulte.

»Wie bitte?«

»Sagt Gemma. Sie kommt immer über die Straße von Middlesbrough zur Schule, und sie sagt, dort war alles mit diesem Plastikband von der Polizei abgesperrt, und das machen die nur, wenn einer umgebracht wurde.«

Sam kratzte sich am Kopf. Jetzt wollte er nichts Falsches sagen, aber ehe er sich überhaupt etwas zurechtlegen konnte, fuhr Lilly bereits fort.

»Sie sagt, dass jemand mit einem dicken SUV zu schnell auf der schmalen Straße unterwegs war und erst den Hund und dann die Frau überfahren hat. Die ist tot, weißt du. Die Wucht des Aufpralls war offenbar zu stark.«

»Sagt wer?«

»Gemmas Vater. Und er sagt auch, dass es keine Anzeichen von Bremsspuren gibt, also hat jemand voll auf die Frau zugehalten.«

»Und Gemmas Vater ist bei der Polizei?«

»Nein, er ist Landvermesser, und er ist selbst schon ein paarmal beinahe über den Haufen gefahren worden.«

Oh Mann. Sam konnte sich vorstellen, wie Gemma ihren Mitschülern naseweis einen Vortrag über die Erkenntnisse ihres Vaters gehalten hatte. Das Schlimme war nur, dass dieser Landvermesser vermutlich recht hatte.

»Und diese Frau stammt aus Middlesbrough, sagt Gemma. Ihr Vater kennt sie aus dem Rathaus.«

»Tatsächlich?« Jetzt wurde Sam doch neugierig. Es war natürlich nicht in Ordnung, seine Tochter weiter auszufragen, obwohl er sie doch eigentlich von diesem Vorfall fernhalten wollte, aber andererseits war das Kind ohnehin in den Brunnen gefallen.

»Und was hat sie dort gearbeitet?«

Lilly hob die Schultern. »Das wusste Gemmas Vater nicht.«

Sam nickte. Das passte zu so einem wie Gemmas Vater. Gerüchte verbreiten, aber keine Fakten kennen.

»Daddy?«

»Hm?«

»Ich hab bei Laura zwei Tiefkühlpizzen gekauft. Kannst du sie schnell warm machen, und wir essen dann hier bei Foxy?«

»Bei wem?«

Lilly sah ihn an und rollte mit den Augen.

»Ich wusste nicht, dass der Hund Foxy heißt«, sagte Sam entschuldigend.

»Das weiß ich auch nicht, aber ich nenne ihn jetzt so, damit wir nicht immer ›der Hund‹ sagen müssen.«

»Ach so.«

»Also könntest du die Pizza kurz in den Ofen schieben? Ich habe Hunger.«

Sam atmete aus. Möglicherweise war seine Tochter dabei, sich zu einer starken Persönlichkeit zu entwickeln. Gnade dem Mann, der sie einmal zur Frau bekam.

»Natürlich.« Er nahm den Ranzen auf, den Lilly in den Türrahmen gestellt hatte. »Bin gleich zurück.«

Einen Moment betrachtete er die Szene. Neben Lilly, die sich intensiv mit dem Hund – Foxy – befasste, saß an ihr Bein geschmiegt Boss, und alle drei machten einen zufriedenen Eindruck. Offenbar störte er hier nur, und er hatte ja ohnehin etwas zu tun. Pizza auftauen.

***

Penelope schob die Tür zum Golden Horse mit der rechten Hand auf. Unter dem linken Arm klemmte die Zeitung, in der Hand hielt sie das Brot.

»Mrs Sunshine. Welche Ehre«, begrüßte Luke sie.

»Guten Tag, Luke.« Penelope sah sich um. Dorian saß an einem Fenstertisch in der Ecke und hob verunsichert die Hand, um sie gleich wieder zurückzuziehen. Hoffentlich hielt er das Ganze hier nicht für ein Date. »Was gibt es heute Mittag zu essen?«, fragte sie Luke.

»Shepherd’s Pie.« Luke warf sich ein Geschirrhandtuch über die Schulter. »Musste schnell gehen«, entschuldigte er sich.

»Einen Salat haben Sie wohl nicht?«

Luke grinste von einem Ohr zum anderen. »Meinen Sie das ernst?«

Penelope winkte ab. »Vergessen Sie’s. Ich nehme eine Kinderportion vom Pie.« Sie ging zu Dorian hinüber und legte Zeitung und Buch auf dem Tisch ab. »Hallo.«

»Hallo.« Dorian fuhr sich mit der Hand in den Nacken.

»Ist alles in Ordnung?« Penelope setzte sich.

»Äh, Mrs St. James …«

Penelope hob die Hand. »Dorian, machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe Ihnen einen Vorschlag für eine Geschäftsidee zu machen.« Es irritierte sie, dass er einen beinahe erleichterten Eindruck machte. Sie hob fragend die Augenbraue.

»Es ist nur so …« Dorian griff nach dem Salzstreuer, der umkippte und einen Teil seines Inhalts über das karierte Tischtuch verstreute. »Scheiße!«

Penelope legte ihre Hand auf seine. »Dorian, bitte beruhigen Sie sich. Das hier ist ein Geschäftsessen. An Ihnen habe ich kein Interesse.« Sie zog ihre Hand zurück. »Also, nicht in so einem Sinne, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich wollte Sie nicht verletzen.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich wollte vermeiden, dass es zwischen uns ein Missverständnis gibt.«

»Sehr gute Idee. Also, dann können wir zum Punkt kommen.«

Dorian grinste. »Gute Idee.«

»Ich nehme an, Sie kennen Earl Blackmore?«

»Klar. Wer kennt ihn und seinen eitlen Pfau Erwin nicht.«

»Der Earl möchte gern Führungen im Schloss veranstalten. Also, es werden schon welche gemacht, aber er hat offenbar den Eindruck, dass sie etwas anregender gestaltet werden könnten. Ich glaube, derjenige, der die Führungen im Augenblick macht, heißt Leonard.«

Auf Dorians Gesicht zeigte sich ein erleichtertes Lächeln. Offenbar entspannte er sich jetzt, wo er wusste, worum es ging. »Leonard weiß eine Menge, aber er kann sein Wissen nicht vermitteln. Es war spannender, das Telefonbuch zu lesen als eine Stunde Geschichtsunterricht bei ihm zu haben.«

»Er hat hier unterrichtet?«

»Ja, an der Mittelschule. Er wusste einfach alles.«

Luke stellte zwei Keramikschalen mit dem Shepherd’s Pie vor sie auf den Tisch. Penelope war sich sicher, dass üblicherweise kein Petersilienstängel auf dem Gericht prangte. Vielleicht hatte Luke das Bedürfnis, ein bisschen Glanz in seinen Laden zu bringen.

»Danke, das riecht lecker«, lobte Penelope das Gericht.

Dorian schnupperte. »Das ist ordinärer Shepherd’s Pie. Kein Gourmetgericht.«

Luke gab dem Briefträger einen spielerischen Schlag in den Nacken.

Nachdem er wieder hinter seinen Tresen zurückgekehrt war, stachen Penelope und Dorian ihre Gabeln in ihre Pastete. Tatsächlich schmeckte sie gar nicht mal schlecht.

»Also, dieser Leonard hat ein umfassendes Wissen, und Sie sind ein guter Redner.«

Dorian winkte ab, aber Penelope schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Sie sind gut! Sie haben die Gemeindeversammlung hier sehr souverän geleitet und es sogar geschafft, mich dazu zu verdonnern, den Ackerwindentäter zu suchen.« Sie nickte ihm zu. »Sie haben mich ziemlich gut reingelegt.«

»Reingelegt, ich weiß nicht.« Dorian wiegte den Kopf. »Ich habe Sie von der Notwendigkeit überzeugt, diesen Fall aufzuklären.«

»Einverstanden. Also, es würde Ihnen doch gewiss gelingen, diese trockene Materie in eine spannende Führung zu verwandeln, oder?«

Dorian zuckte mit den Schultern. »Ja, vermutlich.« Er kniff die Augen zusammen. »Meinen Sie?«

»Ja, das meine ich. Hätten Sie Lust dazu? Auf keinen Fall möchte ich mich in diese Führungen hineindrängen, aber offenbar fehlt Leonard das gewisse Etwas, um die Teilnehmer zu fesseln. Vielleicht könnte er das Hintergrundwissen bieten und Sie seinen Vortrag etwas entstauben.«

»Klingt nicht schlecht. Aber warum interessieren Sie sich dafür?«

Penelope hob die Schultern. »Dem Earl wäre damit gedient, und vielleicht liegt es einfach in meiner Natur, Menschen zusammenzuführen und Dinge zu optimieren. Für die Menschen sind persönliche Geschichten, insbesondere von Menschen aus der Umgebung, interessant. Vielleicht gelingt es Ihnen beiden, geschichtliche Fakten mit Persönlichem aufzupeppen.«

Dorian aß eine Weile mit Genuss weiter. »Nur mal so für mich zum besseren Verständnis: Wohin führt das Ganze?«

Penelope legte ihre Gabel ab. »Das Ganze führt zum Erhalt von Blackmore Manor und möglicherweise auch dazu, dass bei Ihnen brachliegende Talente gefördert werden.«

»Aha? Und welche wären das?«

Penelope steckte ein weiteres Stück Pastete ab. »Meiner Meinung nach verfügen Sie über eine unterhaltsame Ader. Und Sie haben etwas an sich, das die Menschen fesselt.«

Es war Dorian anzusehen, dass er allmählich Gefallen an dem Plan fand.

»Wir müssen nur unbedingt dafür sorgen, dass Leonard sich nicht überfahren und hinausgedrängt fühlt. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns einen guten Plan überlegen.«

Nachdenklich kaute Penelope eine Weile und sah aus dem Fenster.

»Hm. Ich werde drüber nachdenken.« Dorian nahm die Serviette zur Hand und wischte sich den Mund ab.

Penelope tippte sich mit der Gabel gegen die Lippen. »Erst gibt es eine Führung, vielleicht etwa eine Stunde, anschließend eine kleine Pause mit Snacks und Getränken, und dann folgt zum Abschluss eine Lesung. Wir könnten verschiedene Themenabende anbieten.«

»Puh.« Dorian lehnte sich zurück. »Das klingt nach einer Menge Arbeit.«

»Da Sie mir gesagt haben, dass Sie immer mittags mit Ihrer Arbeit fertig sind, dürfte es kein Problem für Sie sein, sich ein Konzept auszudenken.«

Dorian grinste. »Jetzt haben Sie aber mich reingelegt.«

Penelope sah ihn ganz ruhig an.

»Nicht schlecht«, fuhr Dorian fort. »Ich persönlich glaube ja nicht, dass Sie eine Detektei aufgemacht haben. Sie machen eher so etwas, wo Sie die Leute verkuppeln.«

»Der Golden Sunshine and Luxury Club ist eine gehobene Partnervermittlungsagentur«, entgegnete Penelope würdevoll. »Es geht um das Zusammenbringen von Menschen mit denselben Ansichten und Interessen. Verkuppeln klingt, als würde man zwei Bahnwaggons aneinanderhängen.«

»Alles klar«, sagte Dorian. »Wie auch immer. Die Sache interessiert mich.« Er gab Luke ein Zeichen, aber Penelope winkte ab.

»Sie sind eingeladen.«

Dorian stand auf und nahm seine Uniformjacke von der Rückenlehne seines Stuhls. »Sie entschuldigen mich? Ich habe eine Menge zu tun.«

»Sehr gern.« Penelope wollte sich dem Rest ihrer Pastete widmen, als Luke an ihren Tisch trat.

»Was haben Sie mit dem armen Dorian gemacht? Ihn in die Flucht geschlagen?«

»Er hat nur etwas Dringendes zu erledigen. Kann ich dann zahlen?«

»Selbstverständlich.« Luke stellte die benutzten Keramikschalen zusammen und schlug die von Dorian verstreuten Salzkörner mit dem Geschirrhandtuch vom Tisch.

»Und sagen Sie, Luke. Gibt es hier in Shaftesbury jemanden, der sich besonders gut mit historischen Romanen und Krimis auskennt?«, fragte Penelope, während sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche nahm.

»Man kann uns Bewohnern von Shaftesbury eine Menge nachsagen, Mrs St. James, aber Unbelesenheit gehört nicht dazu. Wir haben hier einen Buchclub, der – wie es der Zufall will – jeden Montagabend tagt, also auch heute.«

Penelope sah auf. »Tatsächlich. Und dieser Buchclub, wo trifft er sich?«

»Bei Mrs Winterbottom«, antwortete Luke und nahm ihr Geld entgegen. »Hinter der Kirche die Straße hoch. Also nicht weit von Ihnen.«

Penelope zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu und erhob sich. »Ist es nicht schön, wie sich die Dinge manchmal fügen?«

Luke grinste. »Viel Spaß heute Abend im Buchclub.«

Penelope blieb dicht vor ihm stehen. »Viel Spaß heute Abend im Restaurant in Little Magnolia.«

»Oh Mann, hier bleibt aber auch nichts geheim.«

Penelope grinste. »Man kann den Bewohnern von Shaftesbury eine Menge nachsagen, aber zu wenig Mitteilsamkeit gehört nicht dazu.« Sie ließ ihn stehen und ging nach draußen.

***

Die Pizza aßen Lilly und Sam im Personalraum der Praxis. Sam ignorierte, dass hin und wieder ein Stück mit Käse und Salami von Lillys Teller den Weg in Boss’ Maul fand. Den Nachmittag verbrachte Sam dann damit, einem Chinchilla die Zähne zu kürzen, zwei Kater zu kastrieren und die Bissverletzung am Hinterlauf eines Hundes zu versorgen – und darüber hinwegzusehen, dass Lilly ihre Hausaufgaben im Behandlungsraum in Sichtweite der Sauerstoffbox machte. Er hätte es ohnehin nicht verhindern können, und so ersparte er sich endlose Diskussionen. Und versagte wieder einmal auf ganzer Linie bei der Erziehung seiner Tochter.

Er desinfizierte eben die Bisswunde von Mrs Childs Beagle Troy, als Heather ins Behandlungszimmer hereinsah.

»Dr. Bower?«

»Hm.« Der Beagle lag flach auf dem Behandlungstisch, die schlabbrigen Ohren neben sich auf der metallenen Tischoberfläche ausgebreitet. Sam hatte Mrs Child vorgeschlagen, Troy eine kleine Betäubungsspritze zu verabreichen, aber die resolute Frau hatte abgewunken. Troy sei nicht sehr empfindlich, hatte sie festgestellt. Tatsächlich hatte sie die Wunde nur durch Zufall entdeckt, nicht weil der Hund irgendwelche Beeinträchtigungen gezeigt hätte. »Was gibt’s?«

»Ich habe in Middlesbrough angerufen. Wegen des Hundes.«

»Foxy«, sagte Sam automatisch.

Heather runzelte die Stirn. »Man sagte mir dort, dass der Hund Holmes heißt.«

Sam seufzte. Er hatte vielleicht eine Diskussion mit Lilly über die Umstände ihrer Hausaufgaben vermieden, jetzt stand ihm eine andere über das Schicksal des Hundes ins Haus. Natürlich würde jemand Anspruch auf das verletzte Tier erheben. »Und?« Er sah auf.

»Ich habe mit einer Kollegin der Toten gesprochen. Sie sagt, die tote Frau hätte mit ihrem Vater zusammengelebt. Ich habe die Adresse aufgeschrieben.«

»Danke, Heather. Ich kümmere mich später darum.«

Sie schloss die Tür.

Sam erwartete, dass Mrs Child sich danach erkundigte, von wem die Rede war, aber sie schwieg. Der Beagle ließ die Behandlung gelassen über sich ergehen. Vermutlich konnte sich der ein oder andere Mensch von seiner Gelassenheit eine Scheibe abschneiden. Mrs Child bezahlte die Behandlung in bar bei Heather und trug dann Troy zur Tür hinaus.

Sam drückte sich noch eine Weile an der Rezeption herum und schob einige Patientenkarten hin und her, dann fasste er sich ein Herz.

Lilly lag der Länge nach auf einem Behandlungstisch, hatte die Ellenbogen aufgestützt und las Foxy aus einem ihrer Aufsätze vor.

Er strich ihr über den Kopf. »Hi Liebes.«

»Hi Dad.«

»Wie geht es Foxy?« Sam öffnete die Tür der Sauerstoffbox. Der Hund schaffte es inzwischen, sich mit einiger Mühe aufzusetzen. »Besser«, beantwortete er seine Frage selbst.

»Ja, ich habe eine Geschichte über einen verletzten Hund geschrieben, der von einem Tierarzt behandelt wird und dem es dann besser geht.«

Sam schloss für einen Augenblick die Augen und kraulte die Ohren des Hundes. »Das ist schön, Liebes.«

Er schloss die Tür der Box und wandte sich zu Lilly um. »Heather hat ein bisschen herumtelefoniert. Diese Frau, die auf der Straße gefunden wurde, hat einen Vater. Heather hat mir die Anschrift gegeben.«

Lilly klappte ihr Heft zu. »Du meinst, wir müssen ihn erst fragen, ob wir Foxy behalten dürfen?«

O Mann, das war alles viel schlimmer als befürchtet. »Nun, ich meine, wir müssen Foxy zurückbringen.«

Lilly verzog das Gesicht. Dann seufzte sie aus tiefster Seele.

»Okay.« Sie drehte sich auf die Seite und rutschte vom Behandlungstisch. »Dann müssen wir das wohl machen.«

Es brach ihm das Herz. »Wir fahren erst mal hin und sehen uns um.« Vielleicht war man dort auch froh, wenn man nach dem Tod der Frau nicht auch noch einen verletzten Hund an der Backe hatte.

»Vielleicht sind die da auch froh, wenn die nicht auch noch einen verletzten Hund an der Backe haben.« Lilly stopfte ihr Heft in den Ranzen. »Jetzt, wo sein Frauchen tot ist.«

Manchmal beunruhigte ihn dieses Kind.

Wenig später saßen sie in seinem Jeep. Lilly angeschnallt auf der Rückbank, so wie es sich gehörte. Als sie in die Straße nach Middlesbrough einbogen und kurz vor der Brücke waren, verringerte Sam das Tempo. Die Bilder der toten Frau und des verletzten Hundes tauchten vor seinem inneren Auge auf. Und das Bild der verunsicherten Penelope.

»Hast du Foxy hier gefunden?«

»Hm.«

»Wo lag er denn?« Lilly streckte sich und sah aus dem Seitenfenster.

»Gefunden hat ihn ja eigentlich Penelope. Und er lag dort unten am Ufer. Vermutlich hat er sich nach dem Unfall dorthin geschleppt.«

»Der Arme. Von wo kam denn eigentlich das Auto?«

Gute Frage. »Ich hab keine Ahnung.« Sam hielt den Wagen an. »Allerdings wurde der Hund wohl als Erstes von dem Auto erfasst. Und die Frau stammte aus Middlesbrough. Deshalb glaube ich, dass der Fahrer aus Shaftesbury kam.«

»Dann muss es jemand aus Shaftesbury gewesen sein«, stellte Lilly fest.

»Lilly?«

»Hm?«

»Du sollst dir doch keine Gedanken über diesen Unfall machen.«

»Mach ich ja auch gar nicht.«

Es gab Antworten, zu denen man besser schwieg.

»Es könnte natürlich auch so gewesen sein, dass nur jemand durch Shaftesbury gefahren ist. Auf dem Weg nach Middlesbrough«, stellte Lilly fest.

Sam legte den Gang ein und fuhr los. »Guck mal, da hinten grasen Pferde.«

»Seh ich. Dieser Unfall ist doch am Sonntagvormittag gewesen.«

Sam atmete sehr schwer aus.

»Als die Gemeindeversammlung im Golden Horse war.«

»Lilly …«

»Ja, die Schafe seh ich auch. Wir müssten eine Liste von allen machen, die auf der Gemeindeversammlung waren. Und dann gucken wir, wer fehlte. Und dann überlegen wir, wer von denen, die fehlten, der Täter sein könnte.«

Er stoppte den Wagen und drehte sich zu seiner Tochter um. »Ich meine es ernst, Lilly. Das hier ist eine Sache für die Polizei, und wir befassen uns nicht damit.«

»Okay.«

Seine Tochter hatte den Bogen wirklich raus. Sie wussten beide, dass diese Zustimmung lediglich ein Lippenbekenntnis war. Sie schwiegen, bis Sam den Wagen vor einem kleinen Cottage am Rande von Middlesbrough parkte. Das aus grobem Stein errichtete Haus wirkte ein wenig heruntergekommen, der Vorgarten hatte schon lange keinen Gärtner mehr gesehen und wies Ähnlichkeit mit dem von Penelope auf. Lilly öffnete die Wagentür und rutschte auf den Fußweg.

»Na, hier sieht’s aber aus«, stellte sie fest.

Sam stieg ebenfalls aus und schloss die Fahrertür. »Ja, hier könnte wirklich mal etwas gemacht werden.«

Er fasste Lillys Hand und ging zur Eingangstür. In den Ritzen zwischen den Steinen, mit denen der Weg ausgelegt war, wuchs Gras, die Rosen auf dem Beet, das die Rasenfläche begrenzte, waren verblüht. Sam betätigte den Türklopfer, und dann warteten sie.

»Es ist keiner da«, stellte Lilly fest und wirkte ein wenig zu erleichtert über diesen Umstand.

Aber aus dem Innern des Hauses waren tatsächlich keine Geräusche zu hören. Keine Schritte, kein Knarren von Holz und auch kein Klirren von Geschirr.

»Wir könnten ums Haus herumgehen und in die Fenster sehen«, schlug Lilly vor.

»Wir könnten auch wieder nach Hause fahren.« Sam hatte eigentlich erwartet, dass ihr dieser Vorschlag gefallen würde, weil damit jetzt und hier keine Entscheidung hinsichtlich Foxy alias Holmes gefällt werden musste. »Man sieht nämlich nicht in fremder Leute Fenster.«

»Außer bei Penelope. Aber die ist ja auch nicht fremd.«

Sam schüttelte den Kopf. »Na, komm. Wir fahren nach Hause.«

Ein roter Kleinwagen bog um die Ecke und hielt genau vor der offen stehenden Pforte. Eine Frau in den Fünfzigern stieg aus und schlug die Tür mit Schwung zu.

»Hallo«, rief sie. »Wollen Sie zu Henk?«

Auf der Seite ihres Wagens war die Aufschrift eines Pflegedienstes angebracht. Sam ging der Frau ein paar Schritte entgegen, aber sie eilte bereits auf das Haus zu.

»Ich bin Sam Bower, und das ist meine Tochter Lilly. Ich habe den Hund von Mrs Oliver behandelt.«

Die Frau blieb auf Sams Höhe stehen. »Ah, das ist gut. Wissen Sie, Mr Oliver geht es nicht besonders gut, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie er sich jetzt auch noch um einen Hund kümmern soll.«

Sam ignorierte, dass Lilly bei diesen Worten den Druck ihrer kleinen Hand verstärkte.

»Ah, ich verstehe. Meinen Sie, wir könnten kurz mit ihm darüber sprechen?«

»Natürlich. Kommen Sie.« Die Frau öffnete die Haustür. »Hallo Henk, ich bringe Besuch mit.« Es roch nicht besonders gut in dem kleinen Häuschen, und Sam spürte, dass Lilly zögerte. Die Frage, ob sie lieber im Wagen warten wollte, verkniff er sich trotzdem. Er kannte die Antwort ohnehin.

»Pat«, vernahm Sam eine brüchige Stimme. Sie gehörte einem alten Mann in einem Rollstuhl. Er trug eine Jogginghose und ein fleckiges Poloshirt.

»Da bin ich.« Pat ging zu ihm. »Das ist Dr. Bower. Er kümmert sich um Holmes. Vielleicht wollen Sie kurz mit ihm sprechen, während ich das Abendessen zubereite.« Mit der Effizienz einer geübten Pflegekraft sammelte sie einige schmutzige Teller und Tassen ein. »Und dann müssen wir noch Ihren Blutdruck messen. Der hat mir gestern überhaupt nicht gefallen.«

Henk Oliver winkte ab. Er hatte dünne Arme, an denen der Stoff des Shirts herumschlabberte.

»Guten Tag, Mr Oliver.« Sam gab ihm die Hand. »Ich bin Sam Bower, und das ist meine Tochter Lilly. Unser herzliches Beileid zum Tod Ihrer Tochter.«

Der alte Mann begrüßte auch Lilly und tätschelte ihre kleine Kinderhand. »Ein liebes Mädchen. Bitte setzen Sie sich.«

Sam nahm auf einem Sofa Platz, Lilly schien in seiner Nähe bleiben zu wollen und drückte sich an die Seitenlehne des Sofas.

»Mr Oliver, was mit Ihrer Tochter passiert ist, tut uns sehr leid.«

Der alte Mann rieb sich über die Augen. »Ja, das ist schlimm. Jemanden zu überfahren und dann einfach weiterzufahren, ist ein schreckliches Verbrechen.« Er nahm die Hand herunter und warf Lilly einen Blick zu. »Aber das ist kein Thema, das vor einem kleinen Mädchen erörtert werden sollte.«

Sam nickte und nahm Lillys Hand. Er fragte sich, ob Henk Oliver wirklich nicht wusste, dass es sich nicht einfach nur um einen Verkehrsunfall mit Todesfolge gehandelt hatte oder ob die Polizei ihm die Ermittlungsergebnisse bisher verschwiegen hatte.

»Mr Oliver, bei dem Unfall wurde auch der Hund Ihrer Tochter schwer verletzt. Sein Hinterlauf ist gebrochen, aber ich konnte das operieren. Im Augenblick befindet er sich auf dem Weg der Besserung.«

»Er war Maureens Ein und Alles. Seit ihrer Scheidung hatte sie nur noch den Hund. Und mich.«

Pat rauschte herein. Sie klappte ein Tischchen an dem Rollstuhl aus und stellte einen Teller mit Schnittchen darauf. »Ich bin ein bisschen spät dran, deshalb müssen Sie heute gleichzeitig essen und sprechen.« Sie eilte noch einmal in die Küche und kehrte mit einem Becher Tee zurück. Vermutlich hatte Henk Oliver den ganzen Tag lang nichts zu tun, und die Mahlzeiten, die eine Unterbrechung eines eintönigen Tages bieten konnten, mussten dann in aller Eile eingenommen werden.

»Wenn wir stören, kommen wir gern ein andermal wieder«, sagte Sam.

»Nein, bitte bleiben Sie. Vielleicht können Sie mir mit dem Hund helfen. Ich kann ihn nicht hierbehalten.«

»Das ist kein Problem.« Lilly zog ihre Hand aus Sams und ging zu dem Rollstuhl hinüber. »Er kann bei uns bleiben.«

Mr Oliver lächelte sie an. »Tatsächlich. Bist du sicher, dass das auch die Meinung deines Vaters ist?«

Lilly nickte. Sie nahm die Serviette von dem Tisch und steckte sie in den Polokragen des alten Mannes. »Du musst die Serviette hier oben reinstecken, dann macht es nichts, wenn du kleckerst.«

»Danke.« Henk Oliver griff nach einem Stück Brot.

»Lilly hat recht, Mr Oliver. Foxy, äh … Ich meine Holmes kann bei uns bleiben.«

»Machen Sie das mit allen Tieren, die Sie behandeln?«, fragte der alte Mann kauend.

Sam grinste. »Nicht bei allen.«

»Verstehe. Diese kleine Dame hat vermutlich ein Wort mitzureden. So war meine Maureen auch einmal. Sie wusste sehr genau, wo es langgeht, und hat ihren Dickkopf durchgesetzt.«

Lilly ging zu einer Kommode hinüber, auf der ein Rahmen mit dem Foto einer jungen Frau stand. »Ist sie das?«

»Ja, da war sie gerade zwanzig geworden. Vier Jahre später hat sie geheiratet.«

»Und dann?«, fragte Lilly.

»Dann ist sie ausgezogen und hat mit ihrem Mann zusammengelebt. Ich glaube, sie waren nicht besonders glücklich. Maureen wollte immer gern Kinder haben, aber sie hat keine bekommen. Na ja, und dann hat ihr Mann eine andere Frau kennengelernt und sie verlassen.« Er nahm noch ein Stück Brot. »Der Begriff ›verlassen‹ ist in diesem Zusammenhang etwas irreführend. Er hat das Haus bekommen. Maureen ist dann wieder hier eingezogen.«

»Hast du dich nicht gefreut?«, fragte Lilly und drehte den Teebecher so, dass der Mann den Griff leichter ergreifen konnte.

»Ich glaube, du bist ein ziemlich kluges Mädchen für dein Alter. Aber vielleicht weißt du auch, dass sich Menschen verändern, wenn sie älter werden.«

»Das weiß ich«, stellte Lilly mit beängstigender Vehemenz fest. »Dad war früher viel fröhlicher, aber da hat meine Mum auch noch gelebt.«

Henk Oliver warf Sam einen verständnisvollen Blick zu. »Sie haben auch einen Menschen verloren, den Sie liebten«, stellte er fest. »Maureen war nicht mehr das fröhliche junge Mädchen von früher. Diese Ehe hat sie etwas bitter werden lassen. Aber natürlich war es eine schöne Sache, sie hier zu haben. Ich war sehr einsam, bis sie hier einzog. Jetzt ist das hier nichts mehr für mich allein. Ich werde in ein Pflegeheim umziehen müssen.«

»Und da kannst du deinen Hund ohnehin nicht mitnehmen.«

»Nein, Lilly, das kann ich nicht. Würdest du dich um ihn kümmern?«

»Klaro. Nicht wahr, Dad?«

»Natürlich.« Sam verspürte den dringenden Wunsch nach einem Drink. Dieses Haus atmete so viel Einsamkeit, das ihm schwer ums Herz wurde. Vielleicht musste er sein Leben einfach mehr wertschätzen. Er hatte Lilly, einen Beruf, den er liebte, und dann hatte er seit kurzem das Gefühl, sich zu verlieben. »Wir werden uns um Holmes kümmern. Können wir sonst noch etwas für Sie tun, Mr Oliver?«

»Vielleicht haben Sie mal Lust, mich in meiner neuen Umgebung zu besuchen, sobald ich einen Heimplatz gefunden habe.«

»Das machen wir. Wir schicken dir auch ein Foto von Holmes.«

Mr Oliver strich Lilly über die Wange. »Das wäre schön. Dein Vater ist sicher glücklich darüber, dass er dich hat.«

»Bin ich«, bestätigte Sam und stand auf.

Pat stand in der Wohnzimmertür, und es war offensichtlich, dass sie hier den üblichen Ablauf störten. »Wir müssen jetzt gehen. Machen Sie es gut, Mr Oliver.« Sam legte seine Visitenkarte auf das Tischchen des Rollstuhls. »Das ist meine Adresse.«

»Auf Wiedersehen. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich um Holmes kümmern.«

Sam nickte ihm zu, verabschiedete sich von Pat und schob Lilly zur Tür hinaus.

»Oh Mann, der ist aber ziemlich traurig«, stellte Lilly fest, bevor sie in den Wagen kletterte.

»Ja«, stellte Sam mit Blick auf das Cottage fest. »Das ist er.«

***

Es war ein milder Abend, aber ein Blick an den Himmel zeigte Penelope, dass Wolken aufzogen. Nach einer guten Woche mit schönstem Sommerwetter würde sie Shaftesbury morgen vielleicht einmal bei Regen erleben. Sie überquerte die Main Road und ging zur Kirche hoch. Sie hatte sich nicht angekündigt und hoffte, dass die Mitglieder des Buchclubs ihr das überraschende Auftauchen nicht übelnehmen würden. Penelope hatte keine Lust gehabt, ihren Besuch anzumelden. Es war ihr zu kompliziert erschienen, ihr Ansinnen am Telefon zu erläutern. Mrs Winterbottom lebte in einem herzigen kleinen Cottage, an dem Efeu emporrankte. Im Vorgarten blühten alle Arten von Blumen hinter einem Lattenzaun, und an der grün gestrichenen Haustür prangte ein Messingschild mit der Aufschrift Lydia Winterbottom. Penelope betätigte den Türklopfer.

Eine nicht besonders große rundliche Frau in einem geblümten Kleid öffnete ihr. Das graue Haar war im Nacken eingeschlagen, und an ihren Ohrläppchen baumelten wunderschöne Granatanhänger.

»Ja, bitte?«

»Mrs Winterbottom?« Penelope streckte der alten Dame die Hand entgegen. »Ich bin Penelope St. James.«

»Mrs St. James.« Das klang zumindest erfreut. Und als die alte Dame ihre Hand ergriff und die andere obenauf legte, wusste Penelope, dass es auch nicht nötig gewesen war, vorher anzurufen. »Kommen Sie doch bitte herein.«

»Es tut mir wirklich leid, dass ich unangemeldet bei Ihnen auftauche«, entschuldigte sie sich, als sie in einem winzigen Flur standen. Aus dem Wohnzimmer war das Schnattern mehrerer Frauen zu hören, und in der Tür erschien eine schwarze Perserkatze, die ihre Wange am Türrahmen rieb.

»Geronimo, husch«, machte Mrs Winterbottom, und der Kater verschwand in der Küche.

»Also, meine Liebe, machen Sie uns die Ehre und nehmen an unserem Clubabend teil?« Mrs Winterbottom rieb sich die Hände.

»Wenn ich darf, sehr gern. Es ist mir ein bisschen unangenehm, dass ich hier einfach so auftauche, aber ich habe heute Mittag erst davon erfahren, dass Sie immer montags Ihre Treffen haben. Und ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.«

Die alte Dame klatschte in die Hände. »Das klingt wundervoll, meine Liebe. Ich bin schon ganz gespannt. Wollen Sie uns einen Roman vorstellen?« Sie kam näher. »Vielleicht sogar etwas selbst Geschriebenes?«

Penelope winkte ab. »Um Gottes willen, Sie würden nicht lesen wollen, was ich geschrieben habe. Nein, es geht um etwas anderes.«

»Entzückend. Ich platze vor Neugier.« Sie deutete auf die Wohnzimmertür. »Bitte kommen Sie herein.«

Auf zwei cremefarbenen Sofas, die einander gegenübergestellt waren und deren Blumenmuster dem von Mrs Winterbottoms Kleid ähnelte, saßen insgesamt acht Damen, die bei Penelopes Eintreten zu sprechen aufhörten und aufsahen.

»Guten Abend«, grüßte Penelope in die Runde.

»Meine Lieben«, sagte Mrs Winterbottom. »Wir haben einen Überraschungsgast.«

Penelope machte eine beschwichtigende Geste. Auf keinen Fall wollte sie hier im Mittelpunkt stehen. »Bitte, lassen Sie sich von mir nicht stören.«

»Oh, meine Liebe. Sie bringen solchen Glanz in unsere Runde.« Mrs Winterbottom brachte ihr einen Stuhl. »Bitte setzen Sie sich.« Sie holte eine weitere Teetasse aus dem Schränkchen neben dem Fenster und schenkte Penelope Tee ein, während sie die Damen vorstellte. Penelope konnte sich die vielen Namen und Gesichter so schnell nicht merken. An einer Frau allerdings blieb ihr Blick hängen. Sie war einigermaßen überrascht, Sarah, die Haushälterin von Blackmore Manor, hier zu entdecken, aber möglicherweise bot sich damit auch die Chance für einen besseren Einstieg. Sarah nickte ihr freundlich zu. Ihre Anwesenheit machte Penelopes Vorhaben nicht leichter. Schließlich befand sie sich noch in der Planungsphase oder genau genommen beim Brainstorming. Earl Blackmore wollte sie mit ihren Plänen in dieser Phase noch gar nicht behelligen, allerdings war jetzt die Frage, ob seine Haushälterin ihr einen Strich durch die Rechnung machen würde. Wenn sie eine loyale Angestellte war, war das durchaus möglich. Wie auch immer, sie sollte erst einmal abwarten, wie sich die Sache entwickelte.

Penelope bemerkte, dass die Damenrunde sie abwartend ansah. Sie räusperte sich. »Vielen Dank, dass Sie mich hier anhören.«

Eine der Damen reichte ihr einen Teller mit Schnittchen. Schinken mit Gürkchen. Penelope lehnte ab. »Im Augenblick nicht. Vielen Dank.« Sie ließ den Blick über die Gesichter der wartenden Frauen schweifen. »Was ich sagen wollte: Ich habe gehört, dass Sie sich montags zu einem Literaturclub treffen.«

Die Damen nickten, eine hob die Teekanne an. »Noch ein Schluck Tee?«

»Jetzt nicht. Danke. Haben Sie vielleicht auch Kontakt zu den Autoren? Und zwar solchen, die auch Lesungen durchführen?«

»Selbstverständlich«, meldete sich Mrs Winterbottom zu Wort. »Zuletzt war die wunderbare Deliah Davis bei uns. Sie schreibt ganz entzückende Liebesromane.«

Kollektives Nicken.

»Und dann die herrliche Julie Miller. Ihre Mystery-Romane sind eine gelungene Mischung aus Spannung und Romantik.«

»Schön«, erwiderte Penelope. »Und wie sieht es denn mit Kriminalschriftstellern aus?«

Mrs Winterbottom beugte sich zu ihr vor. »Aber natürlich.« Sie deutete auf eine Frau mit perfekter Dauerwelle in den grauen Haaren. »Unsere Edith hier ist Spezialistin auf diesem Gebiet. Sie liest praktisch rund um die Uhr Krimis, und ihr Blog ist legendär.«

Diese Mitteilung irritierte Penelope. Ein Blog war doch nur mit einer Internetverbindung möglich. Es sei denn, Penelope hatte sich verhört, und diese Edith schrieb etwas in der Dorfzeitung.

Mrs Winterbottom wandte sich an die grauhaarige Lady. »Du hattest doch zuletzt diesen blutrünstigen Thriller auf dem Nachttisch. Wie hieß noch der Autor? Tim oder Jim Stanley?«

Ediths Augen leuchteten. »Tom Stanneck. Und er hat zuletzt einen Roman veröffentlicht, in dem in einem Schloss grauenvolle Morde an den Teilnehmern einer Führung verübt werden. ›Nachts im Schloss‹ heißt er. Ein Teilnehmer der Führung nach dem anderen wird verdächtigt, fällt dann aber als Tatverdächtiger aus, weil er auch ermordet wird. Als schließlich kaum noch jemand übrig ist, kann der letzte Teilnehmer das Rätsel lösen.«

Alle Augen waren gebannt auf Edith gerichtet. Die sah entspannt in die Runde.

»Edith!« Rief Mrs Winterbottom schließlich. »Nun spann uns doch nicht länger auf die Folter. Wer war es?«

»Na, die Haushälterin.«

»Uh«, machte Sarah.

»Das ist ja wunderbar!«, rief Penelope aus, und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. »Ich meine, das klingt wirklich interessant«, fügte sie etwas leiser hinzu.

»Allerdings«, meldete sich eine der Damen zu Wort. »Welche Tötungsarten kommen denn in dem Roman vor?«

»Na ja, einer wird mit dem Kerzenleuchter erschlagen, einer stürzt von der Galerie, und einer wird unter einer schweren Rüstung begraben«, erklärte Edith.

»Herrlich!« Penelope war begeistert. »Das ist genau das, was ich suche.«

»Tatsächlich?« Mrs Winterbottom rieb sich die Hände. »Wollen Sie einen Film drehen?«

»Ach!«, rief eine der Damen. »Dann haben Sie eine Filmproduktion aufgemacht? Ich hab mich schon gefragt, wer so eine bunte Leuchtreklame anbringt. So was kennen wir in Shaftesbury sonst gar nicht.«

Penelope atmete aus. »Nein, das ist keine Filmproduktion«, stellte sie klar. »Es handelt sich um eine Partnervermittlung der gehobenen Art. Aber um noch mal auf diesen Roman zurückzukommen.« Sie wandte sich an Edith. »Haben Sie Kontakt zu dem Schriftsteller?«

Edith bekam rote Wangen. »Nun, ich habe den Roman in meinem Blog besprochen und ihn auf mehreren Portalen rezensiert. Daraufhin hat sich Tom Stanneck persönlich bei mir bedankt.« Sie plierte mit den Augen wie ein verliebter Backfisch. »Ich würde zu gern mal an einer Lesung von ihm teilnehmen, aber damit hält er sich ausgesprochen bedeckt.«

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Edith.« Penelope hielt einen Augenblick inne. »Ich darf Sie doch Edith nennen?«

»Gern, meine Liebe.«

»Edith, könnten Sie sich vorstellen, noch einmal Kontakt zu Tom Stanneck aufzunehmen und zu versuchen, ihn zu einer Lesung in Shaftesbury zu überreden?«

Penelopes Worten folgte eine gespannte Pause.

»Eine Lesung?«, flüsterte Edith schließlich ehrfürchtig.

»In Shaftesbury?«, fügte Mrs Winterbottom an.

»Genau genommen in Blackmore Manor«, ergänzte Penelope. »In Verbindung mit einer Führung, bei der hoffentlich niemand ums Leben kommt.«

Wie auf Kommando wich die Spannung aus dem Raum.

Eine Dame, die bisher kein Wort gesprochen hatte, winkte enttäuscht ab. »Das können wir diesem Schriftsteller nicht zumuten. Wenn Leonard eine Führung macht, schlafen die Leute ein. Da wäre es wirklich spannender, sie würden zu Tode kommen«, stellte sie mit einem unerwarteten Anflug von Humor fest.

»Tja, wissen Sie, dazu habe ich ebenfalls einen Plan.«

»So?« Mrs Winterbottom nahm sich ein Gurkenschnittchen. Es klang so, als könnte sie sich kein Gegenmittel für Leonards schläfrige Art vorstellen.

»Ich habe mit dem Briefträger gesprochen. Mit Dorian Grey.«

Penelope sah in lauter fragende Gesichter.

»Er sagt, dass er sich in der lokalen Geschichte gut auskennt, und ich finde ehrlich gesagt, dass er ein ziemlich interessanter Typ ist. Jemand, der andere für sich begeistern kann.«

Mrs Winterbottom machte ein merkwürdiges Geräusch, einige der Damen kicherten.

»Sie sehen das anders?«, fragte Penelope.

»Nun, wenn ich ehrlich sein darf, meine Liebe, liegen Dorians Talente nach unserer Kenntnis in erster Linie nicht direkt im historischen Bereich.«

»Tatsächlich? Sondern eher in welchem Bereich?«, erkundigte sich Penelope.

»Nun, wie soll ich es sagen?«, überlegte Mrs Winterbottom.

»Eher im femininen Bereich«, warf eine der Damen ein.

»Er forscht in der Damenwelt«, sagte eine andere.

»Er legt die jungen Dinger reihenweise flach«, schloss eine der Frauen kurz und knapp.

»Mildred!«, empörte sich Mrs Winterbottom, während die anderen kicherten.

»Verstehe«, sagte Penelope. »Aber vielleicht lässt ihm diese Beschäftigung trotzdem Zeit für die ein oder andere Führung. Er hat sich jedenfalls sehr interessiert gezeigt.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Mildred.

»Was Mildred meint, ist, dass Dorian möglicherweise auch von Ihnen angetan ist. Sie haben ja ein sehr ansprechendes Äußeres, wenn ich das sagen darf.« Mrs Winterbottom legte eine Hand auf Penelopes Knie.

»Wie? Nein, ich weiß, dass Dorian Grey nicht an mir interessiert ist. Ich glaube, wir können ihm, was diese Führungen angeht, etwas mehr zutrauen.«

»Wenn Sie meinen, vielleicht sollten wir es mit ihm versuchen.« Mrs Winterbottom zog ihre Hand zurück und lehnte sich an die Rückenlehne. »Das klingt alles wirklich außerordentlich aufregend. Wie genau können wir Ihnen helfen? Abgesehen davon, dass Edith den Kontakt zu diesem Tim Stanley aufnimmt?«

»Tom Stanneck«, korrigierte Edith.

»Nun, die Lesung müsste organisiert werden. Im Blackmore Manor müssten wir, natürlich in Absprache mit dem Earl, einen geeigneten Raum finden, der müsste geschmückt werden, dann brauchen wir Werbung in den Zeitungen, Flyer müssen gedruckt werden.«

Mrs Winterbottom legte die Hände an die Wangen. »Ach, du meine Güte, das klingt nach einer Menge Arbeit.«

»Das wird es vermutlich werden«, bestätigte Penelope. »Und ich möchte Sie auf keinen Fall damit überfallen. Sie können das erst einmal in Ruhe miteinander besprechen.«

Mrs Winterbottom sah in die Runde. »Also, ich denke, ich kann da für alle sprechen. Sie haben uns sehr neugierig gemacht mit dieser Geschichte, und ich kann es kaum erwarten, mit den Vorbereitungen zu beginnen.«

Die Damen in der Runde nickten bestätigend.

»Schön, das freut mich.« Penelope erhob sich. »Dann lasse ich Sie jetzt erst einmal allein. Ich finde es toll, dass Sie das Projekt unterstützen wollen. Und ich danke Ihnen, Edith, dass Sie Kontakt zu Mr Stanneck aufnehmen wollen.«

»Oh, ich bin ganz aufgeregt«, rief Edith. »Ich werde gleich heute Abend eine E‑Mail an ihn schicken.«

Penelope fasste den Arm der alten Dame. »Und sagen Sie, Sie haben wirklich Internetzugang?«

»Aber sicher. Überhaupt keine Probleme.«

»Tatsächlich«, stellte Penelope neidisch fest. »Wo wohnen Sie?«

»Drüben auf dem Hügel.«

»Und dann sollten wir eine Sondersitzung einberufen.« Mrs Winterbottom erhob sich und ging zu einem Schreibtisch hinüber. »Ich schlage vor, dass wir uns am Donnerstag erneut treffen. Was halten Sie davon, meine Damen?«

Diese Frage löste ein großes Geschnatter aus. Alle Frauen redeten durcheinander, und nach einigen Minuten hatten alle beschlossen, ihre üblichen Donnerstagstermine wie den Handarbeitsclub und den Blumenkurs sausen zu lassen. Das Projekt Lesung hatte Vorrang.

»Selbstverständlich würden wir uns freuen, Sie am Donnerstag ebenfalls hier zu sehen«, sagte Mrs Winterbottom. »Vielleicht können wir Ihnen dann schon erste Ergebnisse präsentieren.«

»Ich komme gern.« Penelope sah noch einmal in die Runde. »Vielen Dank für Ihre Unterstützung.« Ihr Blick blieb an Sarahs Gesicht hängen. »Ich möchte es Ihnen überlassen, Sarah, ob Sie dem Earl jetzt schon etwas erzählen wollen.«

Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Diese Aufgabe überlasse ich gerne Ihnen.«

Penelope grinste. »Verstehe. Das ist kein Problem. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend. Gute Nacht.«

Die Frauen verabschiedeten sich von ihr.

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie keine Filme produzieren werden?«, erkundigte sich die Dame, die diese Frage bereits zu Beginn des Gesprächs gestellt hatte.

Penelope lächelte. »Ganz sicher.«

***

Sam schaltete das Licht aus und zog die Tür zu Lillys Zimmer bis auf einen kleinen Spalt zu. Das war schon immer so gewesen, und Lilly beharrte darauf, diese Tradition beizubehalten, auch wenn sie ansonsten nicht oft genug betonen konnte, dass sie doch kein Kleinkind mehr sei. Boss, der auf dem Bettvorleger gelegen und der Geschichte »Sally im Regen« gelauscht hatte, bis Lilly eingeschlafen war, wedelte mit der Rute und drückte sich an Sams Bein. Er tätschelte dem Retriever den Kopf.

»Mein Alter, uns stehen Veränderungen ins Haus.« Sie gingen in die Küche. »Aber das hast du dir vermutlich schon gedacht.«

Sam räumte den Küchentisch ab, während Boss sich seinem Napf widmete.

»Ich weiß, dass du im Augenblick ein bisschen zu kurz kommst«, erklärte Sam. »Aber der Hund wächst mit seinen Aufgaben.« Er stellte das Geschirr in die Spülmaschine und schenkte sich noch ein Glas Rotwein ein.

»Wie sieht’s aus mit ›Notting Hill‹?« Sam suchte die DVD heraus und stellte den Fernseher an. »Wenn Hugh Grant auftaucht, müssen wir ja nicht so genau hinsehen. Wir gucken einfach mehr auf Mrs Roberts.«

Boss legte sich auf Sams Füße. Sam nahm einen Schluck Wein. Julia Roberts hatte gerade den kleinen Buchladen betreten, in dem Hugh Grant Reiseführer verkaufte. So oft hatte Sam diesen Film bereits gesehen, und jedes Mal war er ergriffen von der Szene, in der sich die beiden zum ersten Mal begegneten. Gerade weil er den Film bereits kannte und wusste, was die beiden noch erwartete. Aber an diesem Abend war etwas anders. Julia Roberts erschien ihm heute einfach nicht so schön wie sonst, Hugh Grant mit seiner schnöseligen Art ging ihm auf die Nerven, und überhaupt war der Gedanke, sich den Film bis zum Schluss anzusehen, heute keine schöne Vorstellung. Als er den Fernseher ausstellte, hob Boss verwundert den Kopf.

»Komm, mein Alter. Wir gucken nach Holmes, und dann gehen wir noch mal raus.«

Boss war im Nullkommanichts auf den Beinen und lief zur Wohnungstür. Das Wetter sollte umschlagen, weshalb Sam seine Jacke vom Haken nahm.

Der Terrier schlief in der Sauerstoffbox. Sam stellte ihm frisches Wasser hinein und füllte Futter in den Napf. Der Hund erholte sich prächtig, und er würde ihn morgen mit in die Wohnung nehmen. Vermutlich konnte er sich dabei schon auf das nächste Diskussionsthema mit Lilly einstellen, nämlich, dass der Hund nicht in ihrem Bett schlafen sollte. Sam rechnete mit ihrer Argumentation, dass der Hund krank war und deshalb ins Bett gehörte.

Es war ein wenig kühl und der Himmel bedeckt. Die Leuchtreklame vom Sunshine Club war abgeschaltet, was Sam ein wenig bedauerte. Er hatte sich an diese unpassende, aufdringliche Beleuchtung inzwischen gewöhnt. Sie gingen die Main Road hinunter, und Boss blieb an seiner Seite, auch als Sam von der gewöhnlichen Route abwich und nach links zum Dorfanger abbog. Aber nicht nur der Sunshine Club war an diesem Abend unbeleuchtet. Auch in dem kleinen Cottage, das Penelope bewohnte, brannte kein Licht, und Sam spürte Enttäuschung. Er hatte gehofft, Penelope über die neuesten Ereignisse unterrichten zu können. Vielleicht hätte sie ihn auf ein Glas Wein hereingebeten. Er seufzte.

»Okay Boss, einmal um den Anger, und dann gehen wir früh zu Bett. Wie sagte schon Scarlett O’Hara: Morgen ist auch noch ein Tag.«