Am Mittwochmorgen geschah ein Wunder. Auf Penelopes Schreibtisch in der Agentur stand ein Telefonapparat – und er funktionierte. Wenn sie den Hörer aufnahm, hörte sie den vertrauenerweckenden Dauerton, der anzeigte, dass dieser Telefonapparat im Zentrum des Nirgendwo von Cornwall mit der übrigen Welt verbunden war. Sie konnte mit ganz England telefonieren, mit Europa, mit der ganzen Welt! Ein paarmal gönnte sie sich das Vergnügen, den Hörer aufzulegen, nur um ihn wieder aufzunehmen und einigen Sekunden dem Ton zu lauschen. Als sie mit einem Kaffee aus der kleinen Teeküche in den Geschäftsraum zurückkehrte, läutete dieses Telefon, und Penelope machte vor Schreck einen kleinen Satz. Hektisch stellte sie die Kaffeetasse ab und riss den Apparat von der Aufladestation.
»Ja?«, brüllte sie in die Sprechmuschel, um im nächsten Augenblick mit den Augen zu rollen.
»Spreche ich mit Mrs St. James?«, fragte eine professionell klingende Stimme.
»Penelope St. James«, bestätigte sie. »Golden Sunshine and Luxury Club.«
»Wunderbar, dass ich Sie gleich am Apparat habe, Mrs St. James. Es gibt da etwas, das ich kurz mit Ihnen erörtern würde.«
»Mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist Pettyfer. Ich kümmere mich um die Interessen von Mrs Middlecroft.«
»Ah, ja.« Penelope runzelte die Stirn. Die Interessen von Mrs Middlecroft, ihrer Vermieterin? »Ja, und worum geht es da?«
»Es ist mir ein wenig unangenehm, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, Mrs St. James, aber wissen Sie, meine Klientin ist auf die regelmäßigen Zahlungen des Mietzinses angewiesen.«
»Das verstehe ich, Mr Pettyfer, aber was ist denn das Problem?«
»Das Problem ist, dass die erste Zahlung des Mietzinses – nun ja, wie soll ich es ausdrücken? – ausgeblieben ist.«
»Ausgeblieben?«, wiederholte Penelope. »Sie meinen, die Miete wurde nicht überwiesen?«
»Ich fürchte ja.«
»Das ist merkwürdig. Ich werde sofort in der Hauptniederlassung anrufen und nachfragen, was da los ist. Bitte sagen Sie Mrs Middlecroft, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Vermutlich ist in der Buchhaltung irgendetwas schiefgegangen. Ich werde das sofort aufklären.«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden, meine Liebe. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören«, sagte Penelope, allerdings hatte ihr Gesprächspartner bereits aufgelegt.
Penelope drückte kurz auf die Gabel, ohne den Hörer aufzulegen, und wählte Jeremys Nummer. Nach dem fünften Läuten wurde das Gespräch entgegengenommen, allerdings nicht von Jeremy, sondern von Sue, der Bürokraft.
»Hallo Sue, ich wollte eigentlich Jeremy sprechen.«
»Hi Penny, wie geht es dir?«
»Danke, ganz gut.«
»Wie kommst du zurecht mit den Adligen auf dem Lande? Haben die wirklich alle einen Spleen?«
Penelope lachte. »Einige ja«, bestätigte sie. »Also, ist Jeremy da? Er hat sein Telefon umgestellt.«
»Er ist zu einem Meeting und kommt heute auch nicht mehr rein. Sein Telefon stellt er seit einer Weile auf den Hauptapparat um.«
»Ich muss ihn sehr dringend sprechen. Meldet er sich zwischendurch mal?«
»Hin und wieder. Ich darf ihn nur im Notfall anrufen. Also, wenn’s brennt oder das Finanzamt vor der Tür steht.«
»Gut, dann richte ihm bitte aus, dass das hier ein Anruf der Notfallstufe zwei ist. Ich muss ihn wirklich dringend sprechen.«
»Alles klar, ich geb’s weiter. Ciao, Penny.«
»Ciao.« Nachdenklich legte Penelope den Hörer auf. Was war das für eine neue Masche von Jeremy, der ihr immer predigte, dass Erreichbarkeit das höchste Gut sei? Penelope wollte eben den Hörer wieder aufnehmen und die Telefongesellschaft anrufen, um sich nach ihrem Internetanschluss zu erkundigen, als die Türglocke bimmelte.
Eine ältere Dame stieg die letzte Stufe der Eingangstreppe herauf und sah sich interessiert um. Es dauerte einen Augenblick, bis Penelope das Mitglied des Buchclubs wiedererkannte.
»Hallo! Edith, richtig?«
»Hallo.« Edith betrat die Agentur und kam mit zügigen Schritten auf sie zu. »Tut mir leid, Sie zu stören, meine Liebe, aber ich habe da eine Neuigkeit, über die ich unbedingt mit Ihnen sprechen muss.«
Penelope fasste den Ellenbogen der alten Dame, die aufgeregt wirkte. »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Sie schob Edith den Stuhl zurecht und nahm ihr die Handtasche ab, um sie auf den Boden zu stellen. »Eine Tasse Tee?«
»Ja, also ich weiß gar nicht, das ist wirklich verrückt, wissen Sie? Darauf wäre ich im Traum nicht gekommen.«
»Worauf?«, fragte Penelope irritiert.
»Was sagten Sie?«, fragte Edith.
»Ob Sie eine Tasse Tee möchten. Ist Ihnen Darjeeling recht?«
Edith atmete aus und legte sich die Hand auf die magere Brust. »Das wäre vielleicht ganz gut.« Sie beugte sich zu ihrer Tasche hinunter. »Und ich sollte eine von meinen Tabletten nehmen. Das Herz, wissen Sie?«
Penelope ging in ihre kleine Küche, um Wasser aufzusetzen. Sie hatte keine Ahnung, was die alte Dame so in Aufregung versetzt hatte, aber es wäre ihr lieb, wenn Edith nicht hier in der Agentur ihr Leben aushauchte. Sie kehrte gerade zurück in den Ladenraum, als Edith einen silbernen Flachmann in ihrer Handtasche verstaute. Offenbar hatte sie ihre Herztabletten mit einem guten Schluck Whiskey hinuntergespült. Wenn sie die Tablette nicht gleich ganz weggelassen hatte. Penelope stellte zwei Tassen Tee auf den Tisch.
»Geht es wieder?«
Edith nickte heftig. »Aber es ist wirklich eine ganz, ganz aufregende Sache.« Sie griff mit ihrer knochigen Hand nach der Teetasse und führte sie zum Mund. »Sie hätten wohl nicht zufällig ein kleines Schlückchen, um den Geschmack aufzubessern?«
»Das tut mir leid, nein.« Penelope war inzwischen so einiges gewohnt, was den Zweck ihres Sunshine Clubs anbetraf, aber die Vorstellung, dass es sich um einen Schnapsladen handeln könnte, hörte sie zum ersten Mal.
»Na ja, dann muss es eben so gehen.« Edith setzte die Tasse erneut an die Lippen. Als sie die Tasse abstellte, atmete die alte Dame heftig.
Penelope faltete die Hände auf dem Tisch und sah ihre Besucherin abwartend an.
»Ich dachte, ich komme lieber zu Ihnen, weil Sie ja doch hier so etwas wie …«, begann Edith und sah sich um. »Wie …« Sie brach ab.
»Edith, ich habe hier eine Partnervermittlungsagentur. Suchen Sie einen Mann fürs Leben?«
»Ich?«, rief Edith entrüstet. »Ich bin mit meinem Jocelyn seit mehr als fünfzig Jahren verheiratet! Ich brauche keinen weiteren Mann fürs Leben.«
»Was kann ich denn dann für Sie tun?«
Die alte Dame beugte sich vor und senkte die Stimme. »Wir sprachen doch im Buchclub über Tom Stanneck.«
»Den Krimiautor. Ich weiß«, bestätigte Penelope.
»Ich habe versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. So wie wir es besprochen haben. Und das war keine leichte Sache.«
»Wenn es ein Problem ist, Edith, können wir uns ja auch einen anderen Autor suchen.«
Edith lehnte sich zurück. »Wenn Sie den Namen Tom Stanneck hören, was für ein Bild haben Sie dann vor Augen?«
»Einen etwa dreißigjährigen, sympathisch lächelnden braunhaarigen Typen«, antwortete Penelope nach kurzem Überlegen. Und wenn ich Internetanschluss hätte, könnte ich mir ein Foto von ihm ansehen, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Tja«, triumphierte Edith. »Und damit liegen Sie falsch.«
»Er ist blond?«, fragte Penelope.
»Er«, sagte Edith, »ist eine Frau.«
»Tatsächlich?«
Die alte Dame nickte heftig. »Und sie ist nicht dreißig, sondern achtundsechzig und grauhaarig.«
»Nein, Sie scherzen.«
Edith schüttelte den Kopf. »Das ist mein voller Ernst. Ich habe im Verlag angerufen und wollte mit jemandem wegen der Lesung sprechen. Und sie haben mir gesagt, dass Tom Stanneck keine Lesungen macht.«
»Und woher wissen Sie dann, dass der Autor eine alte Lady ist?«
Edith rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Weil ich mit dem jungen Mann am Empfang geplaudert habe. Ein Student, der jeden Cent brauchen kann. Ich weiß jetzt, dass sie in einer kleinen Villa in Notting Hill lebt, dass sie mit Vornamen Samantha heißt und einen Corgie hat.«
»Tja, und jetzt?« Penelope verschränkte die Arme vor der Brust. »Jetzt suchen wir uns am besten einen anderen Autor aus.«
Edith kniff die Augen zusammen. »Ich hatte erwartet, dass Sie ein bisschen kämpferischer sind und nicht gleich aufgeben, wenn sich ein winziges Problem auftut.«
Sie beugte sich über die Armlehne hinunter und hob ihre Tasche auf den Schoß. »Sie sollen sie finden, und dann machen wir eine bombastische Lesung im Blackmore Manor.« Sie erhob sich und ging zur Tür. »Ich verspreche Ihnen, das wird eine richtig fette Sache.«
Im nächsten Augenblick klingelte die Türglocke erneut, und Edith war verschwunden. Sprachlos sah Penelope ihr hinterher. Irgendwie hatte sich ihr Plan verselbständigt und war zu einem Bumerang geworden. Aber sie wollte dem Earl gern helfen.
Mittags setzte sich Penelope auf die Bank auf dem Friedhof und biss in ein Sandwich. Sie musste nachdenken. Irgendwie liefen die Dinge in eine komplett andere Richtung als geplant. Den eigentlichen Zweck ihrer Partnervermittlungsagentur nahm praktisch keiner der Einwohner von Shaftesbury ernst, stattdessen halsten die Leute ihr ein Projekt nach dem anderen auf. Sie sollte jemanden finden, der die Samen einer merkwürdigen Pflanze verbreitete, die Identität einer Autorin aufdecken, eine Schlossführung nebst Lesung organisieren, und dann gab es da noch eine Sache, die ihr persönlich am Herzen lag: Maureen Oliver. Diese arme Frau, die jemand einfach so überfahren hatte. Immer wieder schob sich ihr der Anblick der schwer verletzten Frau vor Augen. Selbst wenn es kein Mord gewesen war, hätte der Fahrer den Unfall auf alle Fälle bemerken müssen. Und trotzdem hatte er die arme Frau dort liegen lassen. Es machte Penelope zu schaffen, dass sie ihr letztlich nicht mehr hatte helfen können. Aber den Hund hatte sie retten können, immerhin. Die Polizei würde vermutlich nur über Spuren des Fahrzeugs an den Unfallfahrer herankommen. In Thrillern konnten sie anhand der Höhe der Beinverletzungen feststellen, welches Fahrzeug mit welcher Stoßstange in Betracht kam, und winzige Lackspuren reichten offenbar aus, um das dazugehörige Fabrikat zu ermitteln. Zu gern hätte Penelope den Inspector angerufen und ihn nach dem Stand der Ermittlungen gefragt, aber das ging wohl zu weit. Auf der Straße spazierte die ehemalige Dorfschullehrerin vorüber, in der Kirche spielte wieder jemand Orgel. Das alles war ihr in der kurzen Zeit schon richtig vertraut geworden. Penelope war niemand, der schnell aufgab, und es kam ihr auch nicht in den Sinn, ihre Zelte in Shaftesbury abzubrechen, ehe sie hier richtig Fuß gefasst hatte. Sie musste einfach nur ein Projekt nach dem anderen in Ruhe angehen und sich in Geduld fassen. Wenn sie logisch an die Sache heranging, konnte sie jedes Rätsel lösen. Sie hob die Hand und wollte von ihrem Sandwich abbeißen, als der Organist abrupt abbrach und andere Töne anschlug. Penelope brauchte einen Augenblick, bis sie die Melodie erkannte. Dann erschien vor ihrem inneren Auge James Bond, und ihr fiel der Titel ein: »Skyfall«.
***
Sam brachte Mrs Carter und ihren Labrador zur Tür. Die elegante Dame bedankte sich dafür, dass er den Splitter so schnell aus der Pfote des Tieres gezogen hatte, und wollte die Behandlung noch bezahlen. Aber ein Blick an die Rezeption zeigte Sam, dass Heather schon gegangen war, und die Mühe, ihre Kassenführung zu durchschauen, wollte er sich jetzt nicht machen. Er hatte Dringenderes zu tun.
»Das ist nicht nötig.« Sam öffnete die Tür und schob die Dame sanft hinaus. »Wir schicken Ihnen eine Rechnung. Gute Besserung.«
Der Labrador warf Sam noch einen dramatischen Blick zu. Sam meinte, darin Dankbarkeit, aber auch einen gewissen Vorwurf zu erkennen. Nach dem Motto: Hätte man das nicht auch etwas sanfter erledigen können? Der Hund wandte sich ab und humpelte mit seiner bandagierten Pfote von dannen, sein Frauchen im Schlepptau. Hunde waren wirklich ausgezeichnete Schauspieler. Man sollte über ein Theaterstück für Hunde nachdenken.
Sam schloss die Tür ab. Mittwochmittag. Das Glück war ihm hold, denn mittwochs war die Praxis nachmittags geschlossen, und er brauchte die freie Zeit dringend. Er ging in den Behandlungsraum, in dem Foxy untergebracht war. Lilly saß dort auf einem Stuhl, Boss lag auf ihren Füßen und der Terrier auf ihrem Schoß, während seine Tochter ihnen etwas vorlas.
»Lilly, du kannst hier mit den beiden noch ein bisschen sitzen bleiben.«
Sie ließ das Buch sinken und sah ihn fragend an.
Okay, das war strategisch keine Meisterleistung gewesen. Wenn man wollte, dass Lilly etwas tat, verlangte man von ihr das Gegenteil. Jetzt konnte er sich schon mal eine Erklärung für seine ungewöhnliche Ansage ausdenken.
»Und was machst du?«
»Ich gehe nach oben.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Um was zu tun?«
»Och, nichts Besonderes. Vielleicht ein bisschen staubsaugen oder so.«
»Staubsaugen?«
Sam ging zu dem Schränkchen hinüber und tat so, als würde er die Fläschchen sortieren. »Das ist doch nichts Besonderes.«
»Also, wenn du an deinem freien Nachmittag staubsaugst, ist das schon etwas Besonderes. Willst du vielleicht auch Fenster putzen?«
»So weit würde ich nicht gehen.«
»Aber Staub wischen?«
»Also, das ist doch jetzt wirklich nicht wichtig, was ich genau mache. Wir wollen ja schließlich nicht im Dreck hausen.«
Als keine Erwiderung kam, wandte Sam sich um. Lilly hatte das Buch weggelegt und kraulte mit der einen Hand den Terrier und mit der anderen Boss, der sich aufgesetzt hatte, damit sie besser an seine Lieblingsstelle hinter dem Ohr ankam.
»Gut, ich gehe dann mal hoch.«
»Und zu essen gibt’s auch nichts?«
»Doch, natürlich. Wenn du willst, mache ich dir eine Scheibe Brot.«
»Eine Scheibe Brot?«
»Du meine Güte, Lilly, was ist denn bloß los? Ich will nur ein bisschen Ordnung machen. Das ist doch jetzt wirklich nichts, worum man so ein Theater machen muss.«
Sie grinste ihn an. »Theater?«
Sam legte die Hand auf die Türklinke. »Wie gesagt, ich bin oben.«
»Gemma sagt, wenn die Menschen plötzlich Dinge tun, die sie sonst nie getan haben, dann ist was im Busch«, fuhr Lilly fort. »Entweder haben sie etwas verbrochen, oder sie haben noch etwas vor. Auf jeden Fall gibt es für jede Veränderung einen Grund.«
Sam gingen Gemma und ihr Vater, der Landvermesser, inzwischen gehörig auf die Nerven mit ihrer Klugscheißerei.
»Es ist wohl kaum so, dass ich noch nie staubgesaugt und gewischt hätte«, stellte er fest.
»Nö, aber du machst das sonst immer so nebenbei. Der Mittwochnachmittag ist dir normalerweise heilig.« Lilly hob den Terrier hoch und stand vom Stuhl auf. »Wenn du willst, helfen wir dir, dann sind wir fertig, wenn Penelope kommt.«
Sam schüttelte den Kopf. Dieses Kind war ihm mittlerweile wirklich haushoch überlegen. Lilly drängte sich an ihm vorbei durch die Tür. »Könntest du das Buch nehmen? Ich will es den beiden oben noch zu Ende vorlesen.«
Sie schleppte den verletzten Hund die Treppe hinauf, gefolgt von Boss. Seufzend nahm Sam das Buch und folgte ihr nach oben.
In der Wohnung machte er schnell ein paar Käsebrote zurecht, die als Mittagessen reichen mussten. Anschließend wirbelte er mit dem Staubsauger durch die Wohnung. Er saugte auch den Teppich vor dem Sofa gründlich, wo Lilly nur die Füße hochnahm, ohne die Lesung für die Hunde zu unterbrechen. Anschließend wischte er über die Möbel im Wohnzimmer und putzte das Bad. Dann brach er zum Gemischtwarenladen auf.
Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, las Lilly immer noch. Inzwischen lag sie langgestreckt auf dem Sofa, Foxy zwischen ihren aufgestützten Ellenbogen und Boss auf dem frisch gesaugten Teppich. Sie hatte offenbar gar nicht bemerkt, dass er weg gewesen war. Sam verstaute die Einkäufe in den Schränken und stellte dann Töpfe und Pfannen auf den Herd. Heute wollte er sich mal etwas mehr Mühe geben und etwas Aufwendigeres kochen als Spagetti mit Tomatensoße. Es war ja nicht so, dass er nicht kochen konnte. Er nahm sich nur einfach nie die Zeit dafür. Meistens sollte es schnell gehen, und dann kam eben nur etwas Einfaches dabei heraus. Heute hatte er sich für ein Steak mit Nusskruste, Rotweinschalotten und Kartoffelplätzchen entschieden. Die Schalotten ließ er in Rotwein vor sich hin köcheln, während er sich dem Kartoffelmus für die Plätzchen widmete. Sein Tun ließ Boss nicht unbeeindruckt. Er verließ seinen gemütlichen Platz vor dem Sofa und kam interessiert schnuppernd hinter die Küchenzeile.
»Heute gibt’s ein ganzes Steak für Penelope«, erklärte Sam ihm. »Immerhin habe ich ihres gestern weggefuttert.« Er ging zum Kühlschrank hinüber. »Ah, und wie ich sehe, war ich so vorausschauend, drei Stück zu kaufen, so dass noch eines für dich abfällt.«
»Und was ist mit Foxy?«, rief Lilly.
Dieses Kind hatte Ohren wie ein Luchs. »Boss gibt ihm bestimmt etwas ab. Übrigens geht’s nach dem Essen für Mädchen unter neun Jahren direkt ab ins Bett.«
»Weiß ich doch.« Lilly stand in der Küchentür. »Kleine Mädchen stören abends sonst.« Sie kam näher und lugte in den Topf mit den Schalotten und betrachtete die Schüssel mit dem Kartoffelmus. »Was wird das denn?«
Für seine Begriffe klang diese Frage ein wenig zu skeptisch. »Von den Schalotten kriegst du ohnehin nichts. Die sind mit Wein. Du kannst ein bisschen Fleisch und Kartoffelplätzchen kriegen.«
»Aha.« Sie verzog das Gesicht. »Kann ich auch Spagetti haben?«
Er schob sie aus der Küche. »Nein, kannst du nicht. Aber du kannst Hausaufgaben machen.«
Sam war ziemlich zufrieden mit seinem Abendessen. Leider fiel ihm erst ein, dass er sich noch hatte umziehen wollen, als es an der Tür läutete.
»Ich gehe schon«, rief Lilly aus ihrem Zimmer.
Sam huschte schnell ins Schlafzimmer, zog sein Shirt aus, warf es aufs Bett und holte ein blaues Poloshirt aus dem Schrank. Während er hineinschlüpfte, hastete er ins Bad, bediente sich am After Shave und ging in den Flur, um Penelope zu begrüßen.
»Hi.« Etwas verlegen fuhr er sich durch die Haare. Penelope sah wunderschön aus. Sie trug eine Jeans und dazu ein Twinset in Altrosa. Die Haare hatte sie hochgesteckt und einen betörenden Duft aufgelegt.
»Hallo.« Unbefangen reichte sie ihm eine Flasche Rotwein. »Es duftet köstlich. Eigentlich bin ich ja zum Fernsehen gekommen, aber es riecht hier, als sei eine Menge Rotwein beim Kochen draufgegangen.«
»Dad hat die Schalotten darin ertränkt«, erklärte Lilly und fasste Penelopes Hand. »Komm, du kannst mal gucken, wie es Foxy geht.«
Während er das Essen auftat, plapperte Lilly in einem fort. Sam stellte die Teller auf den Tisch und schenkte zwei Gläser Rotwein ein.
»Das ist echt toll«, lobte Penelope. »Ich war gar nicht darauf eingerichtet, dass wir auch etwas essen. Ich muss gestehen, dass ich vorsorglich eine Tüte Chips mitgebracht habe.«
»Die kannst du gern dalassen«, sagte Lilly. »Die esse ich morgen.«
Sam warf seiner Tochter einen Blick zu. »Im Ernst, Lilly.«
»Wieso? Muss sie doch nicht wieder mit nach Hause schleppen.«
Penelope lachte. »Genau. Es war schon ein ganzes Stück Arbeit, diese schwere Tüte voller Luft herzuschaffen.«
»Siehste.« Lilly spießte ein Kartoffelplätzchen auf. »Genau genommen ist das ja gebratenes Kartoffelmus.«
»Lilly geht gleich ins Bett«, verkündete Sam. »Sie hat morgen Schule.«
»Genau. Allerdings muss ich Foxy mitnehmen. Ich habe das Gefühl, dass es ihm nicht so gut geht.«
»Tatsächlich?«, fragte Sam schmunzelnd. »Und woran stellst du das fest?«
»Ich wette, er hat erhöhten Blutdruck und Schmerzen.«
Sam sah zum Sofa hinüber. Der Terrier hatte sich gemütlich in einer Wolldecke eingerollt und schnarchte laut. »Und ich würde sagen, du hast die Wette verloren.«
»Aber es ist gut für seinen Genesungsprozess, wenn er sich in der Nähe von Menschen aufhält.« Lilly rutschte vom Stuhl. »Wir lassen euch jetzt besser allein. Haben aber echt lecker geschmeckt, deine Kartoffelmuskekse. Ich putze mir jetzt die Zähne und gehe dann ins Bett.«
Lilly schnappte sich den verschlafenen Hund und zog dann mit Boss im Gefolge von dannen.
Schweigend aßen Penelope und Sam weiter. Ihm gefiel die Ruhe, die sich über sie beide senkte, und es war auch nicht unangenehm, dass keiner von ihnen sprach. Gedämpft war Lillys Stimme zu hören, die den Hunden einen Vortrag über die Wichtigkeit des Zähneputzens hielt, mit den Türen klapperte und dann in ihrem Zimmer verschwand.
»Darf ich Sie etwas fragen, Sam?«
»Natürlich.« Er nahm die Rotweinflasche und schenkte ihr nach.
»Was ist mit Lillys Mutter?«
Sam legte sein Besteck auf den Teller. »Jessica ist gestorben. Sie hatte ein unentdecktes Aneurysma.« Er empfand es nicht als unpassend, dass Penelope ihn nach ihr fragte, aber die Ereignisse wühlten ihn immer noch sehr auf, wenn er darüber sprach. »Heather kam eines Vormittags vor vier Jahren in die Praxis und sagte, dass Mr Barksdale angerufen habe. Das war Jessicas Arbeitgeber, und deshalb war ich sofort hellhörig. Warum sollte er mich anrufen, wenn Jessica doch gerade bei ihm war? Er sagte, dass sie einfach von ihrem Bürostuhl gefallen und bewusstlos geworden sei.« Sam hob den Blick und sah Penelope an. »Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, aber als sie dort ankam, war sie schon tot.«
Er spürte, wie Penelope ihre Hand über seine schob.
»Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, wie es gewesen wäre, wenn ich sie noch einmal hätte sehen können. Noch einmal ihre warme Hand halten …« Sam legte seine andere auf Penelopes, so dass ihre zwischen seinen Händen lag. Es tat ihm gut, sie beschützen zu können, auch wenn das natürlich ein lächerlicher Gedanke war.
»Ich habe eine Stunde lang neben ihr gesessen, ihre Wange gestreichelt und ihr für die schönen gemeinsamen Jahre gedankt.«
Penelopes Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, eine rann über ihre Wange. Mit dem Daumen wischte er sie zärtlich weg.
»Das ist jetzt vier Jahre her, und der Schmerz vergeht nicht. Er verändert sich. Sie ist mir nach wie vor präsent, und ich denke häufig an die schönen Momente mit ihr. Und daran, dass wir eigentlich noch weitere Kinder haben wollten. Lilly ist ihr sehr ähnlich, und ich bin Jessica dankbar dafür, dass sie mir Lilly geschenkt hat. Deshalb verwöhne ich dieses kleine Mädchen auch viel zu sehr, aber sie hat mit vier Jahren ihre Mutter verloren, und da finde ich, dass sie sich eine Sonderbehandlung verdient hat.«
Eine Weile saßen sie so da, ihre Hand immer noch auf seiner, und schwiegen.
»Also, um eines klarzustellen«, fuhr Sam nach einer Weile fort. »Es waren vier sehr harte Jahre, und ich habe sie auch gebraucht, um wieder im Leben zurechtzukommen. Aber ich denke, jetzt ist es Zeit für eine Veränderung.«
Penelope schniefte, dann lächelte sie ihn an. Sam fand sie wunderschön.
»Tut mir leid«, sagte er. »Uns gibt’s nur mit Tieren und Altlasten.«
»Könnte ich vielleicht einen Brandy haben?« Penelope erhob sich. »Ich bin sofort wieder da.« Sie verschwand im Flur und war keine halbe Minute später wieder da. »Wo ist denn das Bad?«
»Erste Tür rechts.«
Während Penelope im Bad war, schenkte er zwei Brandy ein und stellte sie auf den Couchtisch. Sein Blick fiel aufs Sofa. Es war voller kurzer weißer Terrierhaare. Er sah es direkt vor sich, wie Penelope nach einem langen Fernsehabend vom Sofa aufstand, den Hintern voller Hundehaare. Er nahm die Decke, holte den Staubsauger und saugte das Sofa ab. Als er fertig war, bemerkte er, dass Penelope in der Tür stand und ihn grinsend beobachtete. Sie hatte ihr Make‑up erneuert und war wieder ätherisch schön. Als sie geweint hatte, war ihre Schönheit anders gewesen, leicht brüchig.
»So etwas Nettes hat noch niemand für mich getan«, stellte sie fest und setzte sich.
Sam fuhr sich verlegen durchs Haar. »Tja, ich bringe mal den Staubsauger weg.«
Als er zurückkehrte, hielt sie die Fernbedienung in der Hand und studierte die Programmübersicht.
Sam setzte sich zu ihr aufs Sofa. Er hielt ein wenig Abstand, aber auch nicht zu viel. Sie ließen die Werbung über sich ergehen, und nach ein paar Minuten begann der Vorspann für ›Dr. Clifford, der Arzt, dem die Frauen vertrauen‹.
»Du meine Güte«, sagte Penelope.
Damit kommentierte sie diesen Angeber Hammond, der als Arzt verkleidet ein Lächeln in die Kamera schickte. Sam kannte keine einzige Frau, die diesem Blödmann im wirklichen Leben vertraut hätte. Auf ihn wirkte er wie eine Mischung aus Heiratsschwindler und Hochstapler.
»Tja, das ist der Ehrenbürger von Shaftesbury. Hat sich aus armen Verhältnissen bis in die Spitze der Fernsehprominenz emporgearbeitet«, kommentierte er.
Sam hob sein Brandyglas, und sie stießen an.
Es war wunderschön, mit Penelope fernzusehen. Sie quasselte nicht so viel wie Lilly, und sie brach auch nicht in Begeisterungsstürme aus, als dieser Hammond seinen ersten Patienten behandelte. Aber das Schönste war, dass sie im Laufe des Abends ihren Kopf an seine Schulter lehnte und er den Duft ihrer Haare einatmen konnte.