Am nächsten Tag hatte Sam die Geschichte bis zur Mittagspause etwa einhundertmal erzählt, davon fünfmal allein Lilly, die alles ganz genau wissen wollte. Er wollte eben nach oben in die Wohnung gehen und das Mittagessen vorbereiten, als es an die Tür des Sprechzimmers klopfte.
Heather steckte den Kopf herein.
»Besuch, Dr. B.«
Sie schob die Tür weiter auf, und da stand sie. Penelope St. James. Sie wirkte ein wenig durcheinander.
Heather zog sich zurück, und Penelope machte einige Schritte in das Sprechzimmer hinein.
»Kommen Sie«, lud er sie ein. »Ich verspreche auch, dass hier keine Ratten mit aufgeschnittenen Bäuchen herumliegen.«
»Ach so. Ja.« Ihre am Morgen hochgesteckte Frisur wirkte ein wenig zerzaust, und ihre Wangen waren gerötet.
Sam fand sie wunderschön, aber als er sie das letzte Mal derart aufgelöst angetroffen hatte, hatte sie gerade erfahren, dass sie seit ein paar Tagen im Bett einer Verstorbenen schlief.
»Tut mir leid, dass ich hier so einfalle.« Sie warf einen ängstlichen Blick auf die Fläche mit dem Behandlungsbesteck. Neben einigen Scheren lag dort auch die Zange zum Krallenschneiden.
»Ist etwas passiert?« Sam hoffte wirklich sehr, dass sie ihren gemeinsamen Fernsehabend nicht absagen würde.
»Ja, aber das wissen Sie doch. Deshalb bin ich da.«
»Sie meinen den Unfall, verstehe.«
»Eben war Edith bei mir. Wir wollten alles für die Generalprobe heute Nachmittag besprechen, und da sagt sie: ›Wissen Sie schon, wen sie da über den Haufen gefahren haben?‹ Und ich hab sie gefragt, ob schon wieder ein Unfall passiert sei, und da sagt Edith: ›Na, jemand hat Priscilla Emerson überfahren.‹«
Penelope schwankte leicht, und er griff nach ihrem Ellenbogen.
»Ich glaube, wir gehen lieber nach oben. Diese Umgebung ist nicht gut für Sie.«
Gefolgt von Boss und Foxy stiegen sie die Treppe zur Wohnung hinauf. Sam setzte sie an den Esstisch und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.
»Ich glaube, Sie müssen sich nicht allzu viele Sorgen machen. Ihre Verletzungen sind schwer, aber Priscilla wird überleben.« Sam schenkte zwei Gläser ein und schob ihr eines hinüber. »Ich war gestern Abend im Pub.« Dass er ihretwegen aufgrund einer Liebeskummerattacke das Pub aufgesucht hatte, spielte in diesem Zusammenhang wohl eine eher untergeordnete Rolle. »Gerade als ich gehen wollte, kam ein junger Autofahrer aus Middlesbrough herein. Er war auf dem Heimweg und hatte die arme Priscilla an der Abzweigung zur Brücke gefunden. Jemand hatte sie angefahren und liegen gelassen.« Sam war mit dem jungen Mann zur Brücke gelaufen. Die Nachricht und die kühle Abendluft hatten ihn schlagartig wach werden lassen. Dass es sich bei dem Unfallopfer um Priscilla Emerson handelte, hatte er sofort erkannt. Sie hatte eine Verletzung an der Schläfe und einen offenen Unterschenkelbruch, aber sie atmete. Luke war so geistesgegenwärtig gewesen, Dr. Fennary anzurufen, und kurz darauf traf der Krankenwagen ein. Er versuchte, Penelope den Vorfall so sachlich wie möglich zu schildern.
»Ich glaube, Sie müssen sich nicht so große Sorgen machen. Priscilla wird den Unfall überleben. Sie ist zwar schwer verletzt, aber ihre Verletzungen sind nicht tödlich. Es ist also nicht so wie bei der armen Maureen Oliver.«
Penelope drehte das Wasserglas in den Händen. »Nein, das verstehe ich, aber ich …« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Priscilla war kurz vorher bei mir. Ich nehme an, dass sie auf dem Weg von Ivy Cottage nach Hause war. Wissen Sie, wo sie wohnt?«
Sam schüttelte den Kopf. »Nein, soweit ich weiß, wohnt sie nicht in Shaftesbury. Was wollte sie bei Ihnen?«
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.« Penelope setzte sich zurück und ließ die Hände in den Schoß fallen. »Ich mache mir solche Vorwürfe. Vermutlich war ich sehr ungerecht zu ihr. Weil sie mir das Cottage in einem solch desolaten Zustand überlassen und verschwiegen hat, dass ihre Tante in meinem Bett verstorben ist, war ich nicht gut auf sie zu sprechen. Außerdem hatte ich gerade Wasser für die Spagetti aufgesetzt und wollte essen.«
»Und da waren Sie kurz angebunden?«
»Ich hab sie nur in den Flur gelassen und nicht ins Wohnzimmer gebeten. Da hat sie dann gestanden und herumgestammelt. Das hat ewig gedauert, weshalb ich in die Küche gegangen bin und die Spagetti ins Wasser tat. Als ich in den Flur zurückkehrte, wirkte sie hektisch und hat sich dann ziemlich bald verabschiedet.«
»Penelope, auch wenn Sie vielleicht nicht besonders höflich zu ihr waren, was ich ehrlich gesagt, verständlich finde, hat das natürlich nichts mit ihrem Unfall zu tun.«
»Glauben Sie, es war derselbe Fahrer wie bei Maureen Oliver?«
Sam hob die Schultern. »Das kann die Polizei sicher herausfinden.«
»Vielleicht fährt jemand durch die Orte der Grafschaft auf der Suche nach jungen Frauen.«
»Möglich.«
»Dieser Ben, also Priscillas Bruder, was ist das für ein Mensch?«
Sam sah sie an. »Glauben Sie, Ben Emerson ist der Täter? Und er fährt seine eigene Schwester über den Haufen? Ich weiß nicht. Ben kenne ich noch weniger als Priscilla.«
Ihr Schweigen wurde vom Zufallen der Haustür im Erdgeschoss unterbrochen. Mit für ihr zartes Gewicht lauten Schritten kam Lilly die Treppe herauf. Sie schleuderte ihren Ranzen unter die Garderobe und warf sich erst auf Boss, dann auf Foxy, die sich ausgiebig von ihr herzen ließen.
»Lilly, wir haben Besuch.«
»Hi Penelope«, sagte sie, während sie Foxys Ohren langzog und rubbelte. »Das mag er gern.«
Penelope lächelte. »Hallo Lilly. Ja, der Hund sieht ganz zufrieden aus.«
Foxy schien allerdings von der Ohrmassage genug zu haben und ging zu seinem Napf hinüber. Lilly setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Gibt’s nichts zu essen?«
»Oje«, sagte Penelope. »Das tut mir leid. Ich habe deinen Vater vermutlich vom Kochen abgehalten.«
»Macht nichts«, erklärte Lilly großzügig. »Dann müssen wir ins Pub gehen. Wenn ihr wollt, gehe ich schon mal rüber und bestell drei Portionen Lunch.«
»Wir könnten auch Brot essen«, schlug Sam vor.
»Daddy.« Seine Tochter sah ihn streng an. »Ich bin ein Kind in der Wachstumsphase. Da kannst du mich nicht mit Brot abspeisen. Mittags brauche ich eine warme Mahlzeit.«
»Verstehe. Pommes im Pub.«
»Wenn du es sagst.« Sie hopste vom Stuhl. »Dann gehe ich mal schnell Hände waschen. Solltet ihr auch tun.« Sie verschwand im Bad. »Ach, übrigens, jemand hat Priscilla Emerson gestern Abend angefahren. Sie liegt im Krankenhaus. Sie hat sich beide Beine und beide Arme gebrochen«, ließ Lilly sie mit lauter Stimme wissen.
»Ein Wunder, dass ihr Kopf noch dran ist«, murmelte Sam, und Penelope lächelte.
»Die Polizei sucht Zeugen und befragt die Anwohner,« rief Lilly. »Ob sie etwas gesehen oder gehört haben.« Mit dem Handtuch in den Händen kehrte sie zu ihnen zurück. »Nicht, dass man sich künftig nicht mehr auf die Straße trauen kann, als Frau«, fuhr sie fort und trocknete sich die Hände ab.
»Was sagt denn Gemmas Vater dazu?«, fragte Sam.
»Gemmas Daddy ist in London. Er weiß noch gar nichts von dem Unfall.«
»Das ist ja mal ganz was Neues. Dabei hätte seine Meinung mich brennend interessiert.« Sam erhob sich. »Dürfen wir Sie einladen, Penelope? Zu einer Portion Pommes oder gar Fish and Chips?«
Penelope hatte sich nach einer Portion Pommes noch ein Gläschen Sloe Gin gegönnt. Der Schlehenlikör half nicht nur gegen die Pommes, die ihr schwer im Magen lagen, sondern auch gegen das Unwohlsein, das sie seit Priscillas Unfall plagte. Sams Worte waren nett gemeint gewesen, aber trotzdem wälzte Penelope in ihrem Kopf unentwegt Gedanken darüber, ob das alles auch passiert wäre, wenn sie netter zu Priscilla gewesen wäre und ihr zugehört hätte. Irgendeinen Grund musste sie gehabt haben, Penelope aufzusuchen. Aber so oft sie sich das verunglückte Gespräch durch den Kopf gehen ließ, wurde ihr nicht klar, was die Frau bei ihr gewollt hatte.
Jetzt musste sie sich erst mal auf die Generalprobe konzentrieren. Am liebsten hätte sie die Veranstaltung abgesagt, weil sie sich der Auswahl von Shaftesburys Bewohnern eigentlich nicht gewachsen fühlte, aber am Samstag sollte die Lesung stattfinden, und heute war eine der letzten Gelegenheiten herauszufinden, was alles schiefgehen konnte.
Sie machte sich auf den Weg zum Herrenhaus. Vor dem geschlossenen Tor stellte sie den Motor ab und drückte auf die Klingel.
»Kommen Sie rein«, sagte die Haushälterin Sarah. Die Flügel des Tors schwangen auf, und Penelope stieg schnell wieder in ihren Wagen.
Sie sah sich nach allen Seiten nach dem Pfau um, aber erst als sie Blackmore Manor schon beinahe erreicht hatte, kam er aus den Rosenbeeten zu ihrer Rechten. Sein sonst so wunderschönes Schwanzgefieder hing schlapp herunter und schleifte durch den staubigen Kies. Heute war wohl nicht Erwins Tag. Dabei hätte er jede Menge Publikum.
»Hallo Erwin«, grüßte sie das Tier und schlug die Wagentür zu.
Sie lief die Stufen zum Eingang hinauf, wo Sarah bereits auf sie wartete. »Ich hoffe, Sie haben entweder eine Flasche Whiskey oder eine Waffe dabei.«
»So schlimm?«
Sarah schloss die Tür hinter Penelope. »Diese Autorin muss jetzt wirklich bald hier auftauchen. Sie ist die Einzige, die den Earl beruhigen kann.« Ihr Blick ruhte einen Moment auf ihr. »Aber vielleicht gelingt Ihnen das auch.«
»Oh, ich habe genug mit der Generalpro…«
»Sarah!«
Für sein Alter und sein nicht übermäßig großes Körpervolumen hatte der Earl eine ziemlich kräftige Stimme.
»In meiner Herzogin Christiana steht ein Mensch mit einem Maßband!«
Sarah verdrehte die Augen.
»Ich gehe schon.« Penelope machte einige Schritte und blieb dann stehen. »Herzogin Christiana? Das ist …« Sie wandte sich um. »Was?«
»Die Rosen neben der Terrasse«, erklärte die Haushälterin. »Ich bin in der Küche. Allerdings hoffe ich, dass mich niemand sucht.«
Es dauerte fünf Minuten, bis Penelope den Weg zur Terrasse gefunden hatte. Dieses Haus hatte viel zu viele Räume und Gänge. Der Übeltäter war Leander Crossing, und er stand tatsächlich mit beiden Füßen in einer Rosenrabatte mit zartrosa Rosen, deren Farbverlauf zum Innern der Blüte hin kräftiger wurde. In der Hand hielt er eine Rolle Klebeband, mit dem er zu kämpfen hatte. Das abgerollte Ende wehte im Wind und blieb dann an seinem blauen V‑Pullover kleben.
»Hi Penelope.«
»Was machen Sie da?« Penelope fühlte sich jetzt schon erschöpft.
»Ich wollte auf den Terrassenfliesen den Umriss einer Leiche aufkleben. Sie wissen schon, wie die Jungs im Fernsehen.« Er deutete nach oben. »Wenn dann einer nach der Szene im Turm aus dem Fenster sieht, guckt er genau darauf.«
»Eine hübsche Idee. Aber muss das ausgerechnet im Rosenbeet sein? Sie wissen doch, wie sehr der Earl an seinen Geschöpfen hängt.« Ihr Blick blieb an drei abgebrochenen Rosen hängen. »Oh nein.«
»Ach.« Crossing stieg aus dem Beet. »Tut mir leid.«
»Hoffentlich hat der Earl sein Gewehr noch nicht wiedergefunden.« Vorsichtig löste Penelope die drei Rosen an den Bruchstellen und reichte sie ihm. »Hier. Sie fahren nach Middlesbrough ins Krankenhaus und bringen diese Blumen einer gewissen Priscilla Emerson.«
Gemeinsam sahen sie auf den etwas mickrigen Strauß. Penelope sah sich nach allen Seiten um, dann brach sie zwei weitere Rosen ab und gab sie Leander. »Grüßen Sie sie bitte von mir und erkundigen Sie sich nach ihrem Befinden.«
»Äh, und …«
Penelope nahm ihm das Klebeband ab. »Und dann fragen Sie sie, ob sie sich daran erinnert, was genau passiert ist.«
»Und was ist passiert?«
»Das sollen Sie sie ja gerade fragen. Wo ist Mr Blumberg?«
»Der wollte sich nach einer Kiste guter Zigarren umsehen«, antwortete Crossing verdattert.
»Gut.« Penelope kehrte ins Haus zurück. Alle Wände waren mit aufwendigen Holzkassetten vertäfelt. Wenn sie sich bloß daran erinnern könnte, hinter welcher dieser vielen Türen sich der Salon verbarg, in dem sie mit dem Earl Tee getrunken hatte.
Sie fand den Verlagsleiter schließlich im Rauchsalon in einem gemütlichen Clubsessel, vor sich auf einem runden Tischchen eine aufgeklappte Zigarrenkiste. Penelope entdeckte eine Auswahl guter Whiskeys auf dem Bartisch neben dem Fenster.
»Ah, Mrs St. James. Setzen Sie sich.« Blumberg deutete auf den zweiten Clubsessel.
Penelope setzte sich und stellte fest, dass der Verlagsleiter den Verlockungen des Alkohols bisher widerstanden hatte.
»Warum trinken Sie nicht einen Schluck Whiskey zu Ihrer Zigarre? Wenn Sie möchten, schenke ich Ihnen ein Glas ein.«
»Für mich erheblich zu früh.«
Penelope zog eine Grimasse. »Meinen Sie, Sie könnten eine Ausnahme machen und schon mal ein Schlückchen nehmen?«
Blumberg hob die buschigen grauen Augenbrauen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, Sie wollen mich zum Trinken verführen.«
Sie wiegte den Kopf. »Ich würde eher sagen, ich bitte Sie, ein Opfer zu bringen. Sie müssten den Whiskey in Gesellschaft des Earl zu sich nehmen.«
»Solange der Mann nicht bewaffnet ist. Er erschien mir kürzlich ein wenig aufgebracht zu sein über Ihre Pläne.«
»Ihr Eindruck trügt nicht. Deshalb habe ich einen Vorschlag: Bitten Sie den Earl darum, eine Whiskeyverkostung mit Ihnen zu machen, und wenn Ihnen keine Fragen zum Whiskey einfallen, dann stellen Sie ihm Fragen über Rosen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Um ihn abzulenken von dem Tohuwabohu hier.«
»Verstehe.« Blumberg sah sie zufrieden an. »Guter Plan.«
»Prima.« Penelope erhob sich. »Damit tun Sie der Veranstaltung einen großen Gefallen.«
Penelope kehrte in die Eingangshalle zurück und fragte sich, wo in diesem riesigen Schuppen Sie den Earl finden sollte. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zur hohen Decke der Halle. Offenbar gab es zwei weitere Stockwerke mit umlaufenden Galerien. Penelope sah bereits Bewohner von Shaftesbury von der Galerie stürzen und auf dem Fliesenboden der Eingangshalle aufschlagen. Aber um Netze zu spannen, war es wohl zu spät.
Plötzlich wurde zu ihrer Rechten eine Tür aufgestoßen, und eine Gruppe Menschen purzelte heraus. Vorneweg lief Valentine, Mrs Colombines Mops. Er blieb abrupt stehen, als er Penelope entdeckte, so dass sein Frauchen über ihn stolperte, ins Straucheln geriet und auf das auf dem Boden ausgebreitete Fell stürzte. Edith, die über die Schulter zurückblickte, erkannte zu spät die Gefahr, verhedderte sich in Mrs Colombines Beinen und fiel ebenfalls hin. Die anderen Mitglieder der Schauspielgruppe konnten nicht mehr ausweichen, und im Nullkommanichts lag der gesamte Leseclub auf dem Fell.
Hinter ihnen trat Martin aus der Tür, eine Schusswaffe im Anschlag. »He!«, rief er. »Wieso liegt ihr schon am Boden? Ich habe doch noch gar nicht geschossen!«
Er wurde vom Metzger angerempelt, der als Letzter aus dem Raum kam. »Wohin soll das Schweineblut?«
Penelope öffnete den Mund, obwohl sie nicht wusste, was sie zu diesem Chaos sagen sollte, aber der Earl kam ihr zuvor.
»Sarah!«
Er trat aus seinem Arbeitszimmer in die Eingangshalle.
»Ah, Earl Blackmore«, sagte Penelope und eilte auf ihn zu. Sie hakte sich bei ihm unter und drehte ihn mit einigem Schwung um, damit er gar nicht erst einen Blick auf das am Boden liegende Menschenknäuel werfen konnte. »Ich habe Sie gesucht. Wissen Sie, Mr Blumberg ist ganz erpicht darauf, dass Sie ihm einen Einblick in Ihr Fachwissen über Whiskeys gewähren. Im Augenblick raucht er scheußliche Zigarren, dabei wäre ein Schluck vom Wasser des Lebens doch viel erbaulicher für seine Geschmacksknospen. Meinen Sie nicht?« Sie tätschelte seinen Unterarm und zog ihn in Richtung Rauchersalon.
Nachdem Penelope den Earl dem Verleger überlassen hatte, eilte sie aus dem Rauchsalon in die Eingangshalle. Die Dorfbewohner hatten sich zwischenzeitlich aufgerappelt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Der Beutel mit dem Schweineblut ist glücklicherweise heil geblieben«, sagte der Metzger.
Edith öffnete hektisch ihre Handtasche und holte ihren Flachmann heraus. Um ganz sicher zu gehen, dass der Flasche nichts passiert war, setzte sie sie an die Lippen.
Mrs Winterbottom kontrollierte in einem Spiegel mit üppigem Barockrahmen den Sitz ihrer Frisur. »Also, damit dürfte feststehen, dass Valentine während der Veranstaltung zu Hause bleiben muss. Ich würde sagen, wir proben die Szene noch einmal.« Sie wedelte mit den Armen, und die Gruppe verschwand wieder in der Abseite.
»Ah, Penelope.«
Als sie sich umwandte, durchquerte Samantha Smith die Eingangshalle. »Wo sind denn alle?«
Im selben Augenblick flog die Tür der Abseite auf, und die Dorfbewohner stürzten heraus. Einigermaßen professionell bedrohte Martin die Gruppe mit der Pistole. Edith, die die Prozession anführte, wandte sich um, öffnete ihre Handtasche, nahm einen Gegenstand heraus und richtete ihn auf Martin.
»Das war’s für dich, Schurke!«, rief sie. Dann öffnete sich der Verschluss ihres Flachmanns, und der Inhalt ergoss sich auf das am Boden liegende Fell.
Martin sank auf die Knie, und der Metzger ließ das Schweineblut herabtropfen.
Penelope schloss die Augen.
Es dämmerte bereits, als Penelope das Herrenhaus verließ. Sie waren den ganzen Ablauf mehrmals durchgegangen und hatten alle Sicherheitsmaßnahmen besprochen. Eigentlich konnte nichts mehr schiefgehen, und trotzdem war sie sich sicher, dass diese Veranstaltung ein riesengroßer Reinfall würde. Vermutlich wäre es besser gewesen, eine Komödie zu proben. Sie lehnte sich gegen ihren Wagen und atmete die frische Luft ein. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Erwin kam aus den Rosenrabatten geschlichen. Als er Penelope entdeckte, blieb er stehen und schlug ein Rad.
»Wirklich schön«, sagte sie. »Vielleicht könntest du das am Samstag auch machen. Damit wenigstens etwas klappt.«
Sie sah auf, als ein dunkelgrünes Cabrio mit hoher Geschwindigkeit die Auffahrt hochgefahren kam und neben ihr stehen blieb.
»Hi«, sagte Leander Crossing. »Da bin ich wieder.«
»Hi.«
Crossing sprang aus dem Wagen, ohne die Fahrertür zu öffnen.
»Und?«
»Und was?«
»Wie geht es Mrs Emerson?«, fragte Penelope ungeduldig.
»Tja, wie es einem geht mit einem gebrochenen Arm und einem gebrochenen Bein, einer leichten Gehirnerschütterung und einem Milzriss.«
»Oh Gott, das ist ja schrecklich. Ist sie denn bei Bewusstsein?«
»Ist sie. Wir haben uns ziemlich nett unterhalten.« Crossing schob mit der Schuhspitze einige Kieselsteine zusammen. »Am Anfang war sie ein wenig kratzbürstig, was vielleicht in Anbetracht ihres Gesundheitszustandes nachvollziehbar ist. Aber als ich ihr die Rosen übergeben habe, ist sie aufgetaut. Wir haben dann etwas geplaudert, über die Krankenhauskost und die Schmerzmittel, die sie bekommt.«
»Und haben Sie auch über den Unfall gesprochen?«, fragte Penelope ungeduldig.
»Tja, Priscilla wurde angefahren.«
Penelope seufzte. Männer. »Hat sie Ihnen den genauen Unfallhergang schildern können?«
Crossing blies die Backen auf. »Also, nicht im Detail. Sie war auf dem Heimweg und wurde an der Kreuzung von einem Wagen angefahren.«
Penelope musste sehr an sich halten. »Weiß sie, wer der Fahrer war? Von wo kam das Auto? Wie schnell war es unterwegs? Gibt es Zeugen? Wurde Priscilla schon von der Polizei befragt?«
»Was?«
»Was hat Priscilla noch über den Unfall erzählt?«, machte Penelope einen weiteren Versuch.
»Nicht viel. Sie lag auf der Straße, es war dunkel, und sie verspürte keinen Schmerz. Liegt vermutlich am Schock. Glücklicherweise kam kurz nach dem Unfall ein anderes Auto aus Middlesbrough. Der Fahrer hat sie auf der Straße liegen sehen und im Pub Hilfe geholt. Dort war zufällig der Tierarzt anwesend, der erste Hilfe leisten konnte.«
Das wusste sie alles schon. Penelope ließ den Blick durch den Park schweifen. Sie würde Priscilla morgen selbst besuchen. Vielleicht konnte sie etwas mehr in Erfahrung bringen.
»Eine wirklich nette Person, diese Priscilla«, fuhr Crossing fort. »Als sie gemerkt hat, dass ich ihr nichts Böses will, wirkte sie ganz froh über Besuch. Wir haben ein wenig über Shaftesbury geplaudert. Allerdings war sie von den Schmerzmitteln doch sehr müde, und ihr sind immer wieder die Augen zugefallen.« Crossing sah verträumt drein. »Sie hat sehr schöne Augen. Ein dunkles Grün mit einem bernsteinfarbenen Ring.«
Verwundert sah Penelope den jungen Mann an. Hatte er sich in Priscilla verliebt? Ausgerechnet in Priscilla? Na ja, genau genommen konnte sie nichts über die Frau sagen, außer dass sie einen merkwürdigen Auftritt in ihrem Cottage hingelegt hatte und unter keinem übertriebenen Sauberkeitswahn litt.
Leander deutete auf das Herrenhaus. »Und wie läuft’s da drin?«
»Ich weiß nicht.« Penelope stützte sich auf ihrem Wagen ab. »Als ich ging, hat Mrs Winterbottom versehentlich Leonard mit der Hutnadel erstochen, weil das Licht im Turmzimmer ausgefallen ist.«
Sie stieg ohne ein weiteres Wort ein und fuhr davon.
***
Sam sah zum wiederholten Mal auf die Uhr. In fünf Minuten begann »Dr. Clifford, der Arzt, dem die Frauen vertrauen«.
»Jetzt könnte sie aber allmählich mal kommen.« Lilly biss von ihrem Käsetoast ab. »Sonst verpasst ihr den Anfang.«
Sam schwieg.
»Du kannst ja schon mal anfangen zu gucken. Dann erzählst du Penelope, was in der Zwischenzeit passiert ist.«
»Gut. Ich glaube, du gehst jetzt mal zu Bett.«
»Ist aber noch nicht acht.«
»Bis du im Bett bist, ist es acht.«
Lilly trank einen Schluck Brombeertee und schob sich den letzten Bissen Toast in den Mund. »Heute unterläuft Dr. Clifford ein folgenschwerer Fehler im OP. Steht in der Fernsehzeitung.« Lilly hopste vom Stuhl. »Aber ich denke, bis zum Ende der Folge wird er die Sache in den Griff kriegen.« Sie kraulte Foxy, der neben ihrem Stuhl auf dem Boden lag, hinter den Ohren. »Das ist das Prinzip der Serie, sagt Gemmas Daddy. Am Ende jeder Folge löst sich alles in Wohlgefallen auf, damit die Leute beruhigt schlafen gehen können.« Lilly ging ins Bad. »Ist ja auch keine schlechte Idee«, rief sie. »Es passiert ja im wirklichen Leben schon genug.« Sie klappte die Badezimmertür hinter sich zu.
Die Türklingel läutete, und Sams Herz schlug höher. Schnell lief er die Treppe hinunter und öffnete.
»Hallo.«
Penelope sah erschöpft aus. Und müde. »Funktioniert Ihr Fernseher?«