Am nächsten Morgen geschah ein Wunder. Penelope klappte ihren Laptop auf und schaltete ihn ein. Aus reiner Gewohnheit klickte sie das Icon für den Internetbrowser an und wartete darauf, dass ihr angezeigt wurde, dass keine Verbindung aufgebaut werden konnte. Aber diesmal war es anders. Aus Spaß gab sie ihren Namen ein und bekam einhunderteinundachtzig Einträge angezeigt. Dummerweise enthielt schon der dritte Link einen Hinweis auf Jeremy. Penelope kniff die Augen zusammen und ging dichter an den Bildschirm heran. Jeremy Highland war immer noch auf der Flucht. Er hatte die letzten Firmengelder abgeräumt und sich mit unbekanntem Ziel davongemacht. Irgendwo im Text wurde noch eine Lady erwähnt, aber als Penelope die Beträge las, die zusammen mit Jeremy verschwunden waren, wurde ihr schlecht, und sie kehrte lieber zu ihren Einträgen zurück. Nach so langer Abstinenz machte es schrecklich viel Spaß, alles anzuklicken und im Netz zu surfen.
Sie sah auf, als die Tür zur Agentur geöffnet wurde. Penelope erkannte die Frau erst auf den zweiten Blick. Ihr Haar war frisch frisiert, und sie hatte sich ein dunkelblaues Tuch um den Kopf geschlungen, das zu ihrem blauen Sommerkleid passte. Ihr Gesicht, das bei ihrer ersten Begegnung so blass gewesen war, war dezent geschminkt.
»Mrs Murphy.« Penelope stand auf und ging ein paar Schritte auf ihre Besucherin zu.
Die Angestellte aus der Town Hall in Middlesbrough blieb etwas unsicher an der Tür stehen, beide Hände hielten den Riemen ihrer Handtasche, die sie über die Schulter trug. »Entschuldigen Sie, dass ich hier so hereinplatze. Ich habe meinen freien Tag, und dann war ich heute beim Friseur, und da dachte ich …«
»Kommen Sie, Mrs Murphy. Setzen Sie sich. Was dachten Sie?« Penelope setzte sich hinter ihren Schreibtisch. »Sie sehen sehr gut aus.«
»Finden Sie?« Rita Murphy fasste sich an die Frisur. »Danke. Das Tuch war die Idee der Frisörin. Und ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, um vielleicht einige Fotos zu machen.«
»Das ist eine sehr gute Idee, Mrs Murphy.«
Ihre Besucherin sah so aus, als bereute sie ihr Vorhaben bereits wieder. Penelope rief den Fragebogen auf, den sie entwickelt hatte. »Wo gibt es einen Frisör? Ich könnte auch eine neue Frisur gebrauchen.«
Mrs Murphy rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. »Ich gehe immer zu Fine Style in Middlesbrough.«
»Verstehe.« Penelope nahm ihr Smartphone von der Tischplatte. »Erzählen Sie mir ein wenig von sich, Mrs Murphy. Was tun Sie in Ihrer Freizeit? Haben Sie Familie?«
»Tja, also, ich habe zwei jüngere Schwestern, aber die beiden haben Ehemänner und Kinder, da ist nicht viel Platz für eine alleinstehende Schwester.«
»Hm.« Penelope stellte das Smartphone aufrecht auf den Tisch und hielt es fest. »Vielleicht beneiden Ihre Schwestern Sie auch hin und wieder um Ihre Unabhängigkeit und Freiheit.«
Rita Murphy lachte. »So etwas Ähnliches hat Celia, meine jüngste Schwester, kürzlich tatsächlich gesagt.«
»Haben Sie Hobbys? Lesen Sie?«
»Ein wenig. Am liebsten stricke ich. Falls Sie mal einen Schal brauchen. Oder vielleicht einen Pullover.«
»Ja, das wäre wirklich schön«, antwortete Penelope, die noch nie etwas selbst Gestricktes getragen hatte. »Vielleicht eine Strickjacke oder eine Decke, wenn ich abends auf dem Sofa sitze. Wissen Sie, ich habe mir hier in Shaftesbury das Fernsehen angewöhnt. ›Dr. Clifford, der Arzt, dem die Frauen vertrauen.‹ Schreckliche Serie.«
»Kenne ich nicht. Sollte ich mir vielleicht mal ansehen.«
Zufrieden lehnte Penelope sich zurück und legte das Smartphone auf den Tisch.
»Müssen Sie von mir noch etwas wissen oder wollen wir vielleicht Bilder machen?«
»Wir machen Bilder.« Penelope setzte Mrs Murphy auf den Stuhl in der Ecke, richtete die Studioleuchte aus und machte einige Fotos mit dem Fotoapparat. Rita Murphy blickte verkniffen in die Kamera und bemühte sich um ein Lächeln, das furchtbar künstlich geriet. Aber das war egal.
»So, das hätten wir«, sagte Penelope nach fünf Minuten.
»Ach, das ging schnell.« Mrs Murphy erhob sich. »Was bekommen Sie?«
»Heute nichts. Ich unterrichte Sie, wenn ich passende Kandidaten für Sie gefunden habe.«
»Ich bin furchtbar aufgeregt. Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich hatten.«
»Hab ich gern getan. Machen Sie es gut.« Penelope hielt ihr die Tür auf. Nachdem ihre Kundin gegangen war, eilte sie zu ihrem Schreibtisch zurück und überspielte die heimlich geschossenen Bilder von ihrem Smartphone auf ihren Laptop. Rita Murphy lachte und gestikulierte auf den Bildern und wirkte ausgesprochen sympathisch. Es fiel Penelope schwer, sich für ein Bild zu entscheiden.
Um zwölf Uhr schloss sie die Agentur ab und fuhr ins Middlesbrough Hospital. Sie stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz ab und fragte sich zu dem Krankenzimmer von Priscilla Emerson durch.
Auf ihr Klopfen erklang ein leise gesprochenes »Herein«.
Penelope steckte den Kopf durch die Tür. »Mrs Emerson?«
»Oh, hallo.«
Sehr erfreut schien sie nicht über ihren Besuch zu sein.
»Komme ich ungelegen?«
Priscilla Emerson versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Ihr rechter Arm lag eingegipst auf der Bettdecke, das linke Bein war ebenfalls bis zur Hüfte eingegipst und lag auf einem Polster.
»Eher nicht. Ich liege auf dem Rücken und kann nicht einmal ein Buch lesen. Mir schläft sofort der linke Arm ein.«
»Tut mir leid.« Penelope deutete auf einen Stuhl. »Darf ich?«
»Bitte.«
»Ich habe Ihnen nichts mitgebracht«, sagte Penelope, als sie sich setzte. »Ich wollte mich aber selbst davon überzeugen, wie es Ihnen geht.«
»Tja.« Priscilla schlug die Augen nieder. »Das ist sehr nett von Ihnen.«
»Wie ist das passiert, Priscilla? Konnten Sie den Wagen erkennen?«
»Ich weiß nicht, was geschehen ist. Das Auto kam von hinten, und ich kann mich nur daran erinnern, dass ich hier im Krankenhaus wieder aufwachte.«
»Sie haben alles vergessen?«
»Genau genommen habe ich von dem Unfall nichts mitbekommen.«
Penelope nickte. »Ich mache mir Gedanken über diesen schrecklichen Unfall, weil Sie doch gerade von mir kamen, nicht?«
Priscilla riss die Augen auf. »Ja, aber das hat doch mit Ihnen überhaupt nichts zu tun. Erzählen Sie mir lieber, wie es Ihnen im Cottage gefällt.«
Penelope hatte angenommen, dass Priscilla sie an dem Abend aufgesucht hatte, um diese Frage zu klären.
»Tja, also es ist ganz nett«, antwortete sie vage. »Haben Sie Ihre Tante dort früher häufig besucht?«
»Schon hin und wieder mal. Man könnte seine Verwandten ja immer viel häufiger besuchen.«
Penelope sah Priscilla etwas verwundert an. Machte sie sich Vorwürfe, weil sie ihre Tante vernachlässigt hatte? Andererseits hatte Mathilda Emerson ihre Nichte und ihren Neffen als Erben eingesetzt. Eine gewisse Verbindung musste zwischen ihnen bestanden haben.
»War sie Ihre einzige Verwandte? Ach nein, Sie haben noch einen Bruder, Ben, nicht wahr?«
Mit der nicht eingegipsten linken Hand machte Priscilla eine wegwerfende Handbewegung. »Kann man total vergessen. Der kümmert sich um nichts und niemanden.«
»Ihre Tante war Hebamme, richtig?«
Priscilla legte den Kopf aufs Kissen. »Sie hat etwas Nützliches getan. Unzähligen Menschen hat sie auf die Welt geholfen. Ganz anders als ich. Ich führe ein gänzlich nutzloses Leben.«
»Also, das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Penelope.
»Sie war eine mutige Frau, ich hätte viel zu viel Angst davor, bei einer Geburt dabei zu sein. Mir hat es schon gereicht, wenn sie davon erzählt hat, wie die Babys manchmal quer im Mutterleib liegen. Ich wüsste überhaupt nicht, was man in so einem Fall tut.«
Das wusste Penelope auch nicht, und sie wollte darüber auch nicht so genau nachdenken. Sie erhob sich wieder.
»Ich lasse Sie jetzt mal allein. Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich bitte.«
»Vielleicht mache ich das.« Priscilla sah Penelope an. »Danke für Ihren Besuch.«
»Gern geschehen.« Penelope verließ das Krankenzimmer und ging auf den Flur. Entweder hatte Priscilla Emerson ihr Gedächtnis bei dem Unfall tatsächlich verloren, oder sie hatte Penelope angelogen. Der Wagen, der sie erfasst hatte, war aus Shaftesbury gekommen, was bedeutete, dass Priscilla ihm entgegengekommen war. Sie hätte den Wagen und vielleicht sogar den Fahrer sehen müssen. Oder vielleicht sogar erkennen. Das würde auch ihre Nervosität erklären, mit der sie auf Penelopes Fragen reagiert hatte.