PROLOG
Sonntag, 24.06.2018
Am Anfang war das Ende
Im Leben jedes Menschen gibt es diesen einen Augenblick, an den man immer wieder denkt und überlegt: Was wäre, wenn? Man bereut zutiefst etwas, das das Leben in eine völlig neue Bahn geworfen hat, ohne es ändern zu können.
Diese Frage vergiftete meine Seele immer wieder aufs Neue und ließ mich innerlich Stück für Stück und ohne Hoffnung auf ein Fünkchen Gnade sterben. Gefangen in einem großzügig geschnittenen Sarg, den ich nun bewohnte, fragte ich mich, was wohl geschehen wäre, wenn ich an jenem Freitag nicht das Labor der Chirurgie betreten hätte? Hätte mich das miese Schicksal dennoch irgendwann eingeholt?
Die Sonne schien direkt in die gelblich-braunen Wände meiner neuen Bleibe in Berlin, die aufgrund der geringen Quadratmeterzahl von den Insassen als 'Wohnklo' bezeichnet wurde. Nicht einmal die sommerlich-wärmenden Strahlen erhellten meine derzeitige Gemütsverfassung. Im Gegenteil. Durch sie erschien mir der Raum noch stickiger und kleiner als sonst. Es bedrückte mich, eingeschlossen zu sein. In meiner Vorstellung wuchs das Gefühl von Panik, eines Tages in dieser Zelle zu sterben. Das Gefühl der Enge in der Brust schnürte mir die Luft ab und schien sich allmählich zu verstärken. Um mich von meinem reizlosen Dahinvegetieren abzulenken, tauchte ich oft in meine Vergangenheit ab. Als mir die Welt noch offenstand.
Als ich frei war.
Vor etwa sieben Jahren im Sommer saß ich mit Philippe auf einem frisch gemähten Rasen am Berliner Lietzensee. Damals war ich wahnsinnig verliebt in den heutigen Vater meiner Tochter. Während ich meinen dicken Bauch streichelte, in dem das kleine Wesen heranwuchs, bereitete Philippe alles für eine kleine Stärkung vor. Noch nie zuvor waren wir so glücklich wie in diesem Moment am Ufer des Sees. Später nur noch ein einziges Mal - bei der Geburt unserer zauberhaften Tochter Tamara. Zumindest erschien es uns damals so. Wenn ich mich dem Gedanken richtig hingab, konnte ich mich sogar an die kuschelig-weiche Picknickdecke erinnern - eines meiner Lieblingsstücke. Das Bild üppiger Trauerweiden, die ihre Zweige tief in einen der schönsten Seen im Herzen Berlins eintauchten, und die Silhouetten der in der Sonne dösenden, majestätischen Reiher ließ uns glauben, eins mit der Natur zu sein. Unvorstellbar lange her schien es. In dieser Intensität waren meine Tagträume kaum noch erträglich.
Gibt es im Leben so etwas wie Vorsehung? Wäre ich Astrid Schneider je begegnet, wenn nicht dieser winzige Vorfall im Krankenhaus gewesen wäre? Einer Sache war ich mir ganz sicher: An jenem Tag, als diese Frau in mein Leben trat, brachte sie das Unheil mit sich. Bärbel Hartmann, meine Studienfreundin, nannte das, was Astrid stets begleitete, ganz schlicht: schlechtes Karma. Doch in meinem Fall war es etwas wesentlich Düsteres, Grausameres. Nichts war wie vorher, wenn man dieser Frau begegnet war. Sie hinterließ Verwüstung. Innere Leere. Den Tod.
Wie lange ist es schon her, dass mir der Gedanke an meine einstige Freundin Tränen in die Augen trieb? Irgendwann versiegte auch dieser letzte Beweis meiner Verletzlichkeit, die im Gefängnis sowieso deplatziert war. Meine Vergangenheit konnte ich nicht ungeschehen machen. Und ich konnte keine Leben mehr retten.
Was mir am meisten wehtat? Dass Tammy, mein kleines Töchterchen, die prägendste Zeit ihres Lebens ohne mich verbringen muss? Aus den Gefängnismauern heraus kann ich sie niemals vor den Schattenseiten der Welt beschützen. Vor allem nicht vor der Wahrheit, dass ihre Mutter eine grausame Mörderin ist. Zumindest, wenn man den zahlreichen Boulevardblättern und den Indizien Glauben schenken wollte. Und ich kann meine Tochter nicht vor meiner ärgsten Feindin beschützen.
Ich wusste nicht, was mich rasender machte: die Tatsache, dass jemand meine Rolle als Mutter einnahm? Oder die traurige Wahrheit, dass man es zuließ? Mein Lebensgefährte, dem ich alles anvertraute, hielt mich für paranoid.
Astrid half meiner kleinen Familie aufopferungsvoll und scheinbar selbstlos. Warum? Weil sie durch meine schreckliche Tat das erreicht hatte, was sie sich seit meiner Schwangerschaft wünschte: Sie hatte nun wieder eine kleine Tochter. MEINE kleine Tochter.
Mit der sie hin und wieder sogar in unserem gemeinsamen Bett in MEINEM Haus schlief. Für ihre Mühe verlangte sie tatsächlich nichts. Zumindest finanziell. Jedoch tief verborgen, viel zu subtil für Philippes Vorstellung, verfolgte sie ein einziges Ziel: Sie wollte nicht nur mir ähnlich sein. Das war nicht genug. Sie wollte ICH sein.
Aus meiner Trauer wurde Wut. Aus der Wut, die ich tief im Herzen verstecken musste, um nicht wahnsinnig zu werden, irgendwann Gleichgültigkeit. Denn im Grunde genommen war nur ich für meine Misere verantwortlich. Nicht sie. Sie war diejenige, die mein Elend eigentlich nur ausgenutzt hatte. Wenn nicht sie, dann wäre es eine andere Frau gewesen.
Es wäre so einfach gewesen, meiner Familie das Leid zu ersparen, indem ich mir irgendwann das Leben nahm. Im Gefängnis genoss ich als ehemalige Ärztin genug Vertrauen, es auf vielerlei Wegen zu tun. Doch der einzige Grund, warum ich mich noch nicht erhängt oder vergiftet hatte, waren meine Kinder. Ich hatte nicht das Recht, ihnen das Leben noch mehr als bisher zu versauen. Eines Tages würde ich die Chance ergreifen, ihnen eine gute Mutter zu sein. Unwillkürlich musste ich mich in diesem Moment an meine Mutter erinnern. An die Zeit, bevor ich mit dem Medizinstudium anfing. Damals hatte mir meine Mutter in einem melancholischen Seelenzustand gesagt, dass Kinder der einzige Grund für Eltern seien, sich nicht das Leben zu nehmen, wenn's hart wird. Meine Mutter litt an Depressionen.
Als ihre Tochter fand ich diese Aussage natürlich verstörend. Weil sie mir Angst machte. Und weil ich es nicht verstand. Meine Mutter verließ mich, noch ehe ich ihr beweisen konnte, wie stolz sie auf mich hätte sein können. Sie starb an Krebs. Vermutlich war in ihrem Fall die Krankheit nur ein Ausdruck dessen, wie wenig Lebensmut noch in ihr steckte.
Heute verstehe ich, was sie für mich empfand. Vermutlich das Gleiche, was ich für meine Kinder empfinde. Denn auch ich war laut Diagnose leicht depressiv. Doch im Gegensatz zu meiner Mutter hatte ich wenigstens einen triftigen Grund. Den Knast.
Und ich hatte wenigstens zwei gute Gründe, es bis zur Freilassung durchzustehen. Unbeirrt behielt ich den Glauben, dass ich für meine Kinder immer noch unentbehrlich war. Was Philippe betraf, war ich unserer Gefühle füreinander nicht mehr sicher.
Das Geräusch der aneinander reibenden Metallplatten im Inneren des Scharniers an der Tür unterbrach meine Gedanken abrupt. Und das war gut so. Meine Gedanken waren wieder schwer zu ertragen.
»Professor Hoffmann?« Die Beamtin entblößte ihre Zähne zu einem müden Lächeln, als sie die Tür aufschlug. Scheinbar war sie heute gut gelaunt. Im Laufe der Jahre im Gefängnis konnte ich nicht vollständig ergründen, ob sie nicht tatsächlich ein wenig Respekt vor meinem akademischen Titel hatte. Vielleicht nahm sie mich nur aufs Korn. Denn an diesem Ort verband mich gar nichts mit dieser glänzenden Persönlichkeit, die ich vor dem Mord gewesen bin. Hinter den Gefängnismauern fühlte ich mich nicht einmal als halber Mensch.
»Ihr Besuch ist schon da. Bereit, Ihr Töchterchen zu sehen?«, fragte Frau Bachmeier mitfühlend, nachdem sie den angespannten Ausdruck in meinen Augen gesehen hatte.
Ja. Nein.
Natürlich war ich immer bereit, meine Tochter zur Kinderspielstunde in der JVA zu sehen.
Und nein: Wie konnte ich bloß meinem kleinen Mädchen diesen zermürbenden Anblick der zu Recht verurteilten Mörderinnen und Betrügerinnen zumuten? Wie konnte ich nur ihre Hand in meine nehmen, um sie dann drei Stunden später loszulassen und nicht zum wiederholten Male innerlich zu sterben, wenn die Zeit vorüber war? Wenn sie mich besuchte, raste mein Herz vor unbändiger Freude, und gleichzeitig fühlte ich den Trennungsschmerz. Das gleiche Gefühl beherrschte mich immer, wenn mein Sohn Ben zu Besuch kam. Und das, obwohl er schon einundzwanzig und ein stattlicher Mann war. Mit jeder Faser meines Körpers vermisste ich beide.
Der kinderfreundlich ausgestattete Besucherraum der JVA war kein geeigneter Raum dafür, die verlorene Mutter-Kind-Zeit aufzuholen. Aber es war ein Ort der Hoffnung. Und des Vergessens. Es war eine Art Fantasie-Oase für die Seele der Mütter.
Mein Kopfnicken bestätigte der Wärterin meine Bereitschaft, mich einer Welt zu stellen, in der ich so tun konnte, als wäre ich Tammys sorgende Mutter. Mein größter Traum war, eine Zeit zu erleben, in der ich als Mutter mit Tammy Plätzchen zu Weihnachten in unserer Küche backen würde. Dass ich die Chance bekäme, wie jede 'normale Mutter' gespielt meckern zu dürfen, dass mein Kind heimlich vom Teig naschte. Nichts in der Welt brauchte ich mehr als Normalität. Doch um diese unbeschwerte Zeit habe ich mich nun selbst betrogen.
Frau Bachmeier, die mich zu meinem Kind begleitete und die ich sonst des Öfteren sah, war eine recht beleibte Frau mittleren Alters. Sie versteckte ihren übergroßen Busen in einem taubenblauen Hemd mit dunklen Streifen im Schulterbereich. Wie alle anderen Wärterinnen der JVA kannte auch sie bereits meine traurige Lebensgeschichte. Oder deren offiziellen Teil.
Bei einem verhörähnlichen Aufnahmegespräch während der Einlieferung konnten sich die Aufsichtspersonen ein Bild von jedem Neuzugang machen, um die potentielle Gefahr, die von den Gefangenen ausging, einschätzen zu können. Die Vorstellung, eine junge, aufstrebende Professorin, die Leiterin des pathologischen Instituts am benachbarten Klinikum war, wegen eines Mordes zu verhaften, schien nicht nur für die Medien die Sensation
zu sein.
Es war wie ein mieser, selbst erdachter Witz! Mit dieser Vorgeschichte wurde ich ungewollt zum Aushängeschild unseres geschlossenen Vollzugs. Als eine Intellektuelle, die durch eine Laune des Schicksals auf Abwege kam. Wie selbstverständlich war ich in jeder Hinsicht eine Vorzeigegefangene. Und auch wenn mein schulischer Werdegang im Gefängnis unter den Insassen auf eine mit viel Neid behaftete Weise auffiel, galt ich unter den Gefangenen eher als Exotin, die man lieber mit Samthandschuhen anfasste. Oder am besten ganz mied.
Schweigend folgte ich Frau Bachmeier durch die trostlosen, labyrinthähnlichen Gänge. Ich registrierte, wie sich die metallenen Türen automatisch öffneten und gleich hinter uns wieder zufielen. Wie von Geisterhand.
Meine Gedanken waren wie weggefegt. Mein Kopf ganz leer. Tabula rasa.
Alles, was ich wollte, war nur, schneller zu sein. Meine Sehnsucht nach Tammy wuchs mit jedem Schritt, den ich ihr näherkam. Und ich hatte panische Angst davor, nur den Anflug einer Andeutung von Distanz oder gar Ablehnung von ihr zu erfahren.
Als wollte mich jemand bestrafen, verging die Zeit im Schneckentempo, bis wir endlich das Spielzimmer erreicht hatten. Auch wenn in diesem Raum Millionen von Kindern gesessen hätten, hätte ich sofort das lockige, pechschwarze Haar meines Kindes erkannt. Tammy saß in der hintersten Ecke, in ein Malbuch vertieft. Und sie wirkte entsetzlich verloren.
Meine Tochter hatte vieles von ihrem attraktiven Vater geerbt, in den ich mich einst Hals über Kopf verliebt hatte: die kräftigen Haare und den dunklen Teint. Sie wirkte stets, als wäre sie gerade aus dem Urlaub gekommen. Von mir bekam sie ihre schmächtige Figur und die großen, rehbraunen Augen. Eine meiner besten Attribute, im Leben alles zu erreichen, was ich wollte.
In der Ellenbogen-Gesellschaft unter Medizinern erschien ich stets als eher harmlos. Man übersah mich schnell, während ich bereits heimlich die Karriereleiter hinaufkletterte. Wenn man mich schließlich als starke Konkurrenz erkannte, war es zu spät.
Meine Bekannten sagten, Tammy sei mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch ihre sanftmütigen Gesichtszüge konnten unmöglich von mir stammen. Mir war klar, dass Mütter tendenziell ihre Kinder vergöttern. Aber Tammy war auch objektiv bildhübsch. Und durch ihr ausgeglichenes Wesen war sie der Liebling jeder Erzieherin. In Tammys Erziehung legte ich großen Wert darauf, dass sie wie mein Sohn Ben sehr bescheiden aufwuchs. Von gesunder, kohlenhydratarmer Ernährung angefangen bis zu nur einer Handvoll Spielzeug. Tammy sollte lernen, mit wenig auszukommen, um später mit ihrem Sanftmut sprichwörtliche Berggipfel zu erklimmen.
Nach und nach trat aber jemand in das Leben meines Kindes, der sich seine Liebe mit einem Meer aus Kuscheltieren erkaufte, Spielzeuge, deren Herkunft so verschleiert wie ihre Zusammensetzung war. Geschweige denn die Berge von Süßigkeiten. Tammys Kinderzimmer glich nun einer Mischung aus bunten Jahrmarkts-Buden. Meine Proteste nützten mittlerweile so viel wie meine nachts vergossenen Tränen. Nichts. Gar nichts. Irgendwann war auch Ben, mein eigener Sohn, in meinem Haus nicht mehr willkommen. Denn Astrid nutzte jede Gelegenheit, meine eigenen Kinder gegeneinander aufzuhetzen.
Schweigend stand ich nun an der Tür zu einem in den Besucherraum integrierten Spielzimmer und war unendlich dankbar, dass Frau Bachmeier genug Geduld aufbrachte, mich den ergreifenden Augenblick aus der Entfernung auskosten zu lassen. Während ich Tammy beim Malen zusah, stieg automatisch die Erinnerung ihres Babyduftes in meine Nase.
Ich bildete mir ein, die Berührung ihrer Babyhändchen an meinem Gesicht zu spüren. Diese Vorstellung erschien mir so real, dass es mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Tief ergriffen kniff ich die Augen zusammen, um zu verhindern, dass mir die Tränen kamen. Wie konnte ich durch eine unerklärlich schlimme Tat darauf verzichtet haben? Mit einer Handbewegung wischte ich mir übers Gesicht. Dabei zwang ich mich, an etwas Belangloses zu denken. Mütter und Kinder hatten wöchentlich etwa drei Stunden im Spielzimmer der JVA füreinander. Um nichts in der Welt wollte ich diese Zeit mit unangebrachten Sentimentalitäten vergeuden.
Ich war Tammys Mutter. Und Mütter waren stark!
Für Trauer würde ich genug Zeit haben, wenn heute das Zufallen der metallenen Tür meiner Zelle einen weiteren Tag meines Martyriums beenden würde. Selbst die stärksten unter uns Insassinnen, die brutalsten Mörderinnen, erschienen am nächsten Tag bei der Essensausgabe nicht selten mit angeschwollenen Augen, wenn am Vortag die Familie zu Besuch war. Nur die Mauern unserer Zellen waren Zeuge, wie viel Gefühl wirklich tief in uns verborgen steckte. Jeden Morgen gegen sechs Uhr, nach der Lebendkontrolle durch die Wärter, setzten wir aufs Neue eine Maske der Gleichgültigkeit auf. Sie sicherte das Überleben im Gefängnis. Jede noch so kleine Emotion verriet Schwäche. Und Schwäche machte angreifbar. Nur die angeschwollenen Augen konnte keine von uns verbergen.
Als hätte Tammy meinen Blick gespürt, hob sie ihren Kopf, ohne sich von ihrem Sitzplatz zu erheben. Es dauerte nicht lange, dass sich unsere Augen begegneten und mich die Emotionen doch noch übermannten. Ich konnte die Tränen kaum unterdrücken, die sich rücksichtslos einen Weg auf meine Wangen bahnten.
Meine Tochter streckte die Arme nach mir aus. Nun war sie plötzlich wieder mein kleines Baby, das ich damals verlassen hatte. So voller Vertrauen, das ich nicht verdiente! Flugs verschwand die Welt um uns herum, und ich rannte zu ihr. Wie viel Zeit ab diesem Moment verging, bis ich sie in meine Arme schloss, vermochte ich nicht zu sagen. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis mir der Duft ihres Apfelshampoos in die Nase stieg. Als ob ich es für immer in mir behalten könnte, hielt ich den Atem an, so lange ich es konnte.
»Mama, ich kriege keine Luft!«, flüsterte mir Tammy ins Ohr. »Das ist voll peinlich. Ich bin doch kein Baby mehr! Ich komme schon nach dem Sommer in die Schule!« Aus dem Mund meines Kindes konnte ich die nachgeplapperten Sätze der älteren Nachbarskinder heraushören, wie mir Philippe immer berichtete. Die Zwillinge waren drei Jahre älter als Tammy und daran interessiert, ihre eigene Mutter ständig auf Abstand zu halten. Tammy wiederholte jeden einzelnen Satz, den sie für cool befand.
Dass sie sich aus meiner Umarmung löste, nahm ich daher nicht persönlich. In gewisser Weise war es für mich ein Kompliment. Trotz der langjährigen Abwesenheit von Zuhause war ihr Bedürfnis nach Nähe zu mir relativ 'normal' geblieben, was größtenteils Philippe zu verdanken war. Schweren Herzens küsste ich Tammy auf die leicht verschwitzte Stirn und ließ sie los. Ihr zuliebe tat ich so, als würde es mir nichts ausmachen, auf ihre Umarmung zu verzichten. Ich war wieder die coole Mutter der noch cooleren Tochter. Mein verkrüppeltes Innerstes konnte ich vorzüglich hinter der Fassade aus Unbekümmertheit verstecken.
»Wie geht es dir, Schatz?«, fragte ich scheinbar leichtfertig. »Freust du dich schon auf die Schule?« Jede Woche der gleiche Satz,
dachte ich zugleich. Und dennoch wollte ich es wissen.
Tammy nickte sofort. Sie wirkte seltsam, als würde sie etwas bedrücken.
Das Verhältnis zu meiner Tochter war nicht wie das einer 'normalen Mutter'. Wie denn auch? In den wöchentlichen drei Stunden konnte ich keine Mutter-Kind-Bindung aufbauen. Was sie zunehmend brauchte und was ihr Philippe oder mein Vater nicht geben konnten, war das weibliche Verständnis der Welt. Ein weibliches Vorbild.
In solchen Momenten wünschte ich mir, dass meine Mutter unter uns wäre. Oder zumindest, dass Philippes Familie in unserer Nähe und nicht in Australien wohnen würde. Doch seit ich im Gefängnis war, schien die Welt uns vergessen zu haben. Wie auch der gesamte frühere Bekanntenkreis, der einst so umfangreich war. Von meiner engsten Freundin Bärbel, ihrem Ehemann Thomas und Markus, meinem Ex-Ehemann, einmal abgesehen.
Ein seltsamer Schatten huschte über Tammys Gesicht.
»Dich bedrückt doch etwas ... Was ist es?«, versuchte ich es erneut und setzte mich auf den gegenüberstehenden Stuhl. Meine Tochter senkte zur Antwort den Blick, der nun an ihren gezeichneten Bildern hängenblieb. Das entging mir nicht. Sie wollte oder konnte ganz offensichtlich nicht darüber sprechen, was ihr Kummer bereitete.
»Darf ich?«, fragte ich schüchtern, wartete aber die Antwort nicht ab. Was auch immer sie beschäftigte - die Antwort würde ich gleich auf der Skizze finden. Es war ihre Art, kompliziertere Sachverhalte mitzuteilen. »Wow. So lange hat man dich auf mich warten lassen? Das sind ganz schön viele Bilder!«
Während ich die Zeichnungen meiner Tochter durchsah, fiel mir ein, dass ihre Männchen erstaunlich detailliert geworden waren. Vielleicht zu genau? Zu sehen, dass sich das gezeichnete Paar auf der Skizze an den Händen hielt, war schmerzhaft. Es fiel mir nicht schwer, in dem dünnen Strichmännchen mit dem gelben Haar mich selbst zu erkennen.
»Papa?«, lächelte ich sie an und tippte auf das andere Männchen.
Tammy nickte. Das breite Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. Philippes Bauch war recht umfangreich und hinter einem roten Hemd oder ähnlichem versteckt. Hatte er im Laufe der Zeit tatsächlich so zugenommen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Oder war es nur die bunte Fantasie einer Sechsjährigen? Mir fiel auf, dass ich ihn schon lange nicht mehr stehend gesehen hatte. Und sitzend entgingen mir offenbar manche Informationen. Ich grinste.
Beide Figuren standen auf etwas Grünem. Offensichtlich auf Gras.
Freiheit.
So gern hätte ich ihr jetzt den Wunsch erfüllt, mit ihr bei diesem schönen Wetter im Park zu sein. Doch das war selbst in der Zukunft ein unerreichbarer Traum. Das Strichmännchen rechts von dem Paar war winzig klein. Nur an der Lockenpracht, für die sich Tammy vermutlich unverhältnismäßig viel Zeit genommen hatte, erkannte ich, dass sie sich selbst gezeichnet hatte.
Aber wir waren nicht nur zu dritt. Da war noch eine weitere Figur. Ganz abseits. Zwei Klumpfüße, recht unschön ... Ich ahnte bereits, wer das sein sollte. In der rechten, oberen Ecke, mit wenig Farbe bedacht ... Unscheinbar ...
»Ist das Astrid?«, fragte ich behutsam. Tammy schaute mich an und nickte.
»Ich mag sie nicht, Mami«, sagte sie flüsternd.
Woher der plötzliche Sinneswandel? Tammy ließ sich sonst - wie man von jedem Kind in diesem Alter auch nicht anders erwartet hätte - von Astrids unbändiger Großzügigkeit manipulieren. Slush, Popcorn, Spielzeug waren die Währung der Kinder, die sie zu schätzen wussten.
»Ach, Schatz«, erwiderte ich darauf. »Wir müssen froh sein, dass Astrid für dich da ist. Oma und Opa sind in Australien und können uns nicht helfen. Und Opa Peter kann sich nicht um dich kümmern, wenn Papa über Nacht nicht Zuhause ist. So übel ist Astrid doch gar nicht...«, versuchte ich meine Tochter zu überzeugen. Meine erlogenen Worte klangen nicht mal für mich glaubhaft.
Sie schwieg.
»Hey. Ich habe mit einem neuen Rechtsanwalt gesprochen. Vielleicht können sie doch noch etwas tun, mal sehen.«
Fataler Fehler. Dabei wollte ich sie aufmuntern. Im gleichen Augenblick hätte ich mir fast auf die Zunge gebissen. Verdammt! Glaubte ich überhaupt selbst daran, dass sich etwas besserte? Der Anwalt, Doktor Henrik von Bayer, den Markus für ein Wiederaufnahmeverfahren vorgeschlagen und bezahlt hatte, brachte etwas Hoffnung mit. Doch die Nachforschungen samt der Auswertung der gesammelten Beweise und die unzähligen Anträge kosteten sicherlich Zeit. Und sie brachten erneut Angst vor einem unsicheren Ausgang der Verhandlung mit. Wollte ich diese Unsicherheit? War es nicht einfacher, die Hoffnung zu begraben? Es fehlte uns immer noch das kleine Wunder
, das die Notwendigkeit der Wiederaufnahme ernsthaft rechtfertigen würde.
Aber Wunder geschehen nie.
Was hat mich bloß geritten, dies vor Tammy zu erwähnen?
, rügte ich mich in Gedanken. Bin ich bescheuert?
»Dann kommst du endlich nach Hause, Mami?« Das Gesicht meiner Tochter strahlte vor kindlicher Freude. Wer weiß, wie oft sie sich das schon vorgestellt hatte. Zwar kannte sie uns zu dritt - als eine richtige Familie - noch nicht. Doch sie sah die Familien ihrer Freunde. Vater, Mutter, Kind und Hund ... Nur ihr Vater und unser Golden Retriver erfüllten diese Vorstellung.
Verdammt.
»Nein, Schatz. Noch nicht. Ich komme noch nicht nach Hause«, sagte ich gepresst durch die Zähne und nahm mir vor, sie vom Thema abzulenken, indem ich zum nächsten Bild blätterte.
In diesem Augenblick stockte mir der Atem. Zwei Strichmännchen ... Ein Bett ...
ZWEI STRICHMÄNNCHEN?
ZWEI STRICHMÄNNCHEN!
Um meine aufsteigende Wut zu beherrschen, atmete ich mehrfach ein und aus. Doch die Enttäuschung ließ sich nicht verleugnen. Ich erkannte Philippes Bauch ... Und die Klumpfüße ... Hatte Astrid es tatsächlich geschafft, neben meiner Mutterrolle auch noch meine Betthälfte zu erobern?
»Tammy«, frage ich kontrolliert leise. »Willst du mir etwas über die Zeichnung erzählen?«
Kann man Kinder überhaupt sensibel danach fragen, was sie so traumatisiert hat, dass sie darüber nicht sprechen wollen? Ich meine, nicht als Mutter, sondern als Psychologin? Mir fiel es unwahrscheinlich schwer.
Hatte mein Verlobter es etwa gewagt, mit diesem Weib in unserem Bett Sex zu haben? Vor den Augen unseres gemeinsamen Kindes?
Ich konnte es nicht begreifen. Nun verstand ich aber Tammy. Vielleicht war es ihr nicht klar, was sie gesehen hatte. Doch ganz sicher spürte sie unterbewusst, dass das Gesehene falsch war. Daher beschloss sie, es mir auf ihre Art zu erzählen.
»Ja«, sagte Tammy plötzlich fröhlich, als wäre nichts geschehen. »Ich habe eine schöne Kette bekommen. Als Glücksbringer! Das habe ich dir noch gar nicht gezeigt, oder?«
Okay. Ganz offensichtlich wollte sie doch nicht darüber sprechen. Umso besser! Das werde ich mit Philippe klären
! Gnade ihm Gott, wenn es stimmt!
, schwor ich mir und wandte mich wieder meinem Kind zu. Ich tat, als wäre soeben nichts passiert.
»Eine Kette als Glücksbringer? Wie schön!« Zumindest versuchte ich es unbeschwert zu bemerken, während Tammy in ihrem T-Shirt nach der offensichtlich recht langen Kette suchte. Warum ist mir an meinem Kind bloß nicht sofort aufgefallen, dass sie von Astrid 'behängt' wurde? Wollte sich diese Frau die Liebe meines Kindes oder ihr Schweigen erkaufen?
, waren Fragen, die ich beim nächsten Besuch von Philippe wohl würde klären müssen.
Mein Verlobter wusste genau, wie ich zu Schmuck im Kindergartenalter stand. Tammy war dafür viel zu klein! Was, wenn sie damit auf dem Spielplatz hängenblieb?
»Schau mal, Mami.« Tammy strahlte, während in mir die Wut auf ihren untreuen Vater stieg. Sie streckte mir ihre kleine Hand mit einem Herzmedaillon an einer silbernen Kette entgegen. Dabei wirkten ihre Augen so lieblich, dass ich schweren Herzens den Blick von meinem kleinen Mädchen lösen und auf so etwas Unbedeutendes wie ein billiges Schmuckstück weichen musste.
Zumindest, bis ich sah, was sie tatsächlich in ihrer Hand hielt. Dieses Bild kam wie ein Schlag in die Magengrube. Und ich vergaß alles um mich.
Es war meine Kette, das gestohlene Herz. Ein Erbstück meiner Mutter. Kein Zweifel. Selbst die kleine Schramme erkannte ich darauf.
Plötzlich fügte sich ein Puzzle in meinem Kopf zu einem einzigen, stimmigen Bild zusammen. War so viel Grausamkeit möglich? Zum ersten Mal verstand ich das perfide Spiel, in dem ich zu einer Schachfigur und meine Tochter zum Einsatz geworden war.
Ein Spiel, das ich schon vor seinem Beginn an nicht gewinnen konnte. Weil ich ein zu weiches Herz hatte. Weil ich zu blind war. Und nun öffnete man mir die Augen.
Saß ich etwa hinter Gittern für ein Verbrechen, das ich nie begangen hatte?
Für das, was gekommen war, gab es Anzeichen ...