Kapitel 3
Montag, 20.04.2009
Zehn Tage später, wieder in Berlin
Das einzig Gute am frühen Aufstehen im April war der Duft des Frühlings, wenn ich bei Sonnenaufgang das Haus verließ. Entlang der Straße, die ich tagtäglich passierte, konnte man in wilden Beeten bereits Tulpen sehen. Wie jeden Morgen eilte ich zum Bus, der mich zum S-Bahnhof Krumme Lanke bringen würde, um dann etwa eine weitere Dreiviertelstunde mit dem S- und U-Bahnnetz mitten durch das Herz der pulsierenden Stadt bis nach Lichtenberg zu pendeln.
Wie die meisten Berliner nutzte ich den wirklich vorzüglich ausgebauten Nahverkehr für die Fahrten zum Institut aus vier Gründen: Erstens bekam ich jeden Tag die Möglichkeit, eine Zeitung, ein Buch oder Fachliteratur zu lesen, für die ich mir sonst kaum Zeit genommen hätte. Zweitens war es nicht einfach, einen Parkplatz im Zentrum zu finden. Drittens besaß ich kein Auto mehr. Und viertens hasste ich den zähfließenden Verkehr zur Rushhour auf Straßen mit unvorstellbar vielen Ampeln. Die Bahn ersparte mir dagegen mindestens die halbe Fahrzeit in jede Richtung, ohne dass ich genervt am Ziel ankam.
Das Pathologische Institut, das ich leitete, war ein privates Unternehmen, das alle klinischen Untersuchungen annahm, die nicht bei hausinternen Laboren der Krankenhäuser wie der Charité durchgeführt werden konnten. Seit ich an der Spitze des Instituts stand, hatten wir uns auf besonders sensible Untersuchungen spezialisiert, die ein enormes Fachwissen erforderten. Meistens deshalb, weil sie sehr fehleranfällig waren. Wir boten seltene Dienstleistung an, sodass uns selbst große Krankenhäuser beauftragten. Über einen Mangel an Aufträgen konnten wir uns also nicht beklagen. Doch meine besondere Vorliebe waren Untersuchungen für die Gerichtsmedizin. In diesem Thema fühlte ich mich wie Zuhause. Und mein Interesse war gleich, egal ob es sich dabei um die Beweissicherung bei einem Mordfall oder bei einem anderen Gewaltverbrechen handelte. Denn Vergewaltigungen oder Missbrauch kamen in der Gerichtsmedizin deutlich öfter vor als Morde. Zu dem Gebäudekomplex, in dem sich mein Institut befand, gehörten noch andere Bereiche der Medizin, die ebenfalls in privater Hand waren. Aus einem simplen Grund: Wir teilten uns oft die teuren Apparaturen und verkürzten die Informationswege, falls eine genauere Diagnose mehrere Fachgebiete betraf. Das machte uns zu einem der fähigsten Institute deutschlandweit.
Die oberste Etage des modern wirkenden Blocks mit einem Blick auf die Dächer Berlins war meiner Pathologie vorbehalten. Mein Büro war dennoch sehr minimalistisch ausgestattet: ein massiver weißer Schreibtisch, passende und mit Büchern überfüllte Regale an der Wand hinter meinem schwarzen Chefsessel, silberne Stühle mit weißem Bezug. Damit das Ganze nicht zu steril wirkte, gab es zwei große, bunte Bilder in Pastelltönen mit undefinierbarem Inhalt und eine mintgrüne Couch, auf der ich bereits oft übernachtet hatte, wenn die Arbeit mal wieder überhandnahm. Es passierte sehr selten, aber es kam zwischendurch vor.
Mein Schreibtisch sah nach dem einwöchigen Urlaub genauso aus, wie ich es bereits erwartet hatte: Berge von Akten tummelten sich darauf, als hätte ich mindestens ein halbes Jahr in Wiesbaden verbracht. Und das, obwohl ich ihn pingelig aufgeräumt hinterlassen hatte. Dennoch ließ ich mich nicht entmutigen. Meine medizinisch-technischen Assistenten arbeiteten unter Hannas Leitung wie ein gut geöltes Präzisionswerk. Was die Routinearbeiten des Labors betraf, wurde ich nur benötigt, um Unterschriften zu leisten, die den Befunden einen förmlichen Charakter verliehen. Ich war quasi für den letzten Schliff verantwortlich. Einen großen Teil des Papierberges würde ich daher nur überfliegen und unterschreiben müssen. Nachdem ich mein Jackett über die Lehne des Chefsessels gehängt und meine Aktentasche auf dem Boden abgestellt hatte, ging ich in unsere kleine Küche, um mir den ersten ernstzunehmenden Kaffee des heutigen Tages zu gönnen. Es war in der Regel nicht mein allererster Becher - sondern der erste, den ich mir im Sitzen, in der beruhigenden Stille meines Büros genehmigte, bevor ich meinen Arbeitstag startete.
Noch ehe ich das erste Dokument in der Hand hatte, klingelte bereits das Telefon. Nichts, was ich nicht von einem regulären Montag her kannte. Doch nach einem Urlaub voller wunderschöner und manchmal kräfteraubender Momente mit meinem pubertierenden Sohn war mein Job nicht das, woran ich sofort mit Freude dachte. Markus und Ben waren ein so gut eingespieltes Team, dass es mich in manchen Augenblicken traurig machte, meinen Sohn nicht genauso nah bei mir zu wissen. Aber Ben brauchte seinen Vater und seine gewohnte Umgebung gerade jetzt. Als ich vor ein paar Monaten die Idee geäußert hatte, dass er auch zu mir nach Berlin umziehen könnte, lief er an dem Abend weg und kam über Nacht nicht mehr nach Hause. Es hatte uns viele Nerven gekostet, ihn bei seinem Schulfreund zu finden. Auch wenn es eine Gardinenpredigt gab, mussten wir eines einsehen: Einen Ortswechsel würde er nicht verkraften. Und mit seinen dreizehn Jahren war er alt genug, allein die Entscheidung treffen zu können, bei welchem Elternteil er wohnen wollte.
» ... die Ergebnisse nochmal geprüft?«, hörte ich den Arzt, Doktor Engelhardt, am Hörer sagen.
Welche Ergebnisse?
, überlegte ich krampfhaft und ärgerte mich, dass ich mein Büro gedanklich verlassen hatte, ohne es gemerkt zu haben. »Ich bin heute den ersten Tag nach meinem Urlaub im Institut und habe leider noch nicht alle Akten durch«, wand ich mich heraus. Wenigstens war ich im Bilde, mit wem ich gerade sprach. Das würde die Suche nach den benötigten Befunden etwas erleichtern.
»Oh, dann haben Sie sicherlich das volle Programm«, entgegnete er verständnisvoll. »Nicht eilig, unsere Patienten laufen ja nicht weg. Diese sitzt sogar lebenslänglich ein. In ihrem Fall ist es vielleicht auch etwas zu übervorsichtig von mir, doch ich wollte den Befund nochmal histologisch absichern«, erklärte der Gefängnisarzt.
Mein Gegenüber kannte ich nur vom Namen und der Stimme am Telefon. Und das, obwohl er in der nahegelegenen Frauen-JVA arbeitete, die oft unsere Dienste in Anspruch nahm. Er fuhr fort: »In der Chirurgie müsste auch noch etwas über die Patientin liegen. Die Insassinnen haben sie übel zugerichtet, muss ich schon sagen.«
»Ist das Röntgengerät in der JVA etwa immer noch defekt?«, fragte ich neugierig. Die Chirurgie zählte zu den vom Gefängnis am meisten in Anspruch genommenen Diensten unseres Gebäudekomplexes.
Der Arzt lachte hörbar auf. »Ich möchte behaupten, dass wir uns nie ein neues werden leisten können. Aber wer weiß, manchmal geschehen auch Wunder, und man findet plötzlich Gelder für die notwendigsten Finanzierungen. Für die wenigen Untersuchungen, die wir benötigen, ist die Begleitung des Sträflings durch Beamten in die Chirurgie insgesamt deutlich billiger, als dass sich eine Neuanschaffung in unserem Haus jemals lohnen würde. Vermutlich bleiben wir für die Ewigkeit miteinander verbunden.«
Der Arzt war wirklich sehr sympathisch. Nicht jeder der dortigen Ärzte nahm sich Zeit für eine freundliche Plauderei während der Arbeitszeit. Die meisten wollten schnelle Ergebnisse, die sie nicht selten mit der so typischen Berliner Schnauze einforderten, an die ich als Wiesbadenerin noch nicht zu hundert Prozent gewöhnt war.
»Ach, über gute Kundschaft auf Lebenszeit wollen wir uns nicht beschweren«, erwiderte ich erheitert. »Ihre Patientin sollte zu ihrem Recht kommen. Gegen Mittag wollte ich eh bei der Chirurgie vorbeischauen. Soll ich dort meine Befunde übergeben? Dann hätten Sie alles gleichzeitig vor Ort? Natürlich nur, falls die Chirurgie langsamer als die Pathologie ist.«
»Das wäre natürlich fantastisch«, freute sich der Gefängnisarzt. Dass dieser Gefallen der erste Stein einer Lawine war, die mein Leben in eine Katastrophe lenken würde, war mir damals nicht bewusst. Hätte ich es geahnt, so hätte ich bei diesem Telefonat niemals abgehoben. Niemals.