Kapitel 6        
Dienstag, 21.04.2009
Am nächsten Tag
Der schrille Ton des Weckers weckte das Biest in mir. Erst recht, wenn ich nach dem einen oder anderen Gläschen Wein leicht verkatert aufwachte. Nach dem gestrigen Telefonat mit meinem Sohn hatte mir die Einsamkeit stark zugesetzt. Mir fehlten Stimmen um mich, die nun der Fernseher anzubieten hatte. Der Wein ließ mich vergessen, dass sie nicht real waren. Erstaunlich war, dass ich nicht auf der Couch im Wohnzimmer erwachte.
Nun, als der Wecker mir den gestrigen Tag nochmal ins Gedächtnis rief, fand ich mich selbst jämmerlich. Und noch während ich meine Schritte gen Badezimmer richtete, um die Beweise in Form zerlaufener Wimpertusche von meinem Gesicht zu beseitigen, fragte ich mich, wie es mit mir weitergehen sollte. Warum konnte ich nicht von der Karriere lassen und mich Ben und dem Haushalt widmen? Warum konnte ich für ihn nicht einfach nur eine gute Mutter sein? Vermutlich deshalb, weil ich mehr von mir in meinem Leben erwartete. Wahrscheinlich war ich sowieso eine grottenschlechte Mutter, also tat ich immer das, worin ich wirklich gut war. Leistung war nie eine unüberwindbare Herausforderung für mich. Geliebt zu werden, ohne eine außergewöhnliche Leistung zu erbringen, das war etwas, das mich mit Angst erfüllte.
Eine Mutter zu sein. Davor lief ich weg, weil mir diese Rolle fremd war. Zumal mir meine Mutter kein geeignetes Beispiel gegeben hatte. Also versteckte ich mich hinter meiner Professur-Maske, weil es mir leichter fiel. Und weil ich der Welt nichts erklären musste. Leistung war in unserer Gesellschaft immer schon ein lohnenswertes Gut. Damit konnte man über andere Fehler hinwegsehen. Ich malte mir aus, dass es für Ben einfacher war, sich meine Flucht vor Bindungen damit zu erklären, dass seine Mutter eine gefragte Fachkraft war. Anstatt die simple Wahrheit anzuerkennen. Ich war einfach kein Familienmensch.
»Einsamkeit ist eine mehr als verdiente Strafe für mich!«, sagte ich zu meinem Spiegelbild im Bad. Dabei versuchte ich mich selbst streng anzuschauen, als könnte ich damit etwas an mir ändern. Das war natürlich Blödsinn. Stattdessen veränderte sich meine Mimik so ungünstig, dass meine Falten sichtbar wurden.
Ich werde alt , dachte ich mit Entsetzen. Altern war ein Prozess, den ich bei anderen gern akzeptierte. Nur niemals bei mir selbst. Es hörte sich trivial an, doch für mich war es das nicht. Mit meinen einundvierzig Jahren war ich noch nicht bereit, das Handtuch zu werfen. Zumal Ben mittlerweile in der Pubertät war. Die Zeit war schon abgezählt, bis ich Mutter eines erwachsenen Sohnes sein würde. Bloß dazu war ich noch nicht bereit. Noch lange nicht.
Energisch, als würde ich gegen die Zeit ankämpfen, verteilte ich einen großen Klecks Kosmetikmilch auf einem Watte-Pad und rubbelte meine Haut, um die Schminke vom Vortag restlos zu entfernen. Es gelang nur mäßig, weil die Mascara bereits eingetrocknet war. Verdammt. Schminkreste, unregelmäßige Schlafenszeiten, Stress und ungesunde Ernährung waren bestimmt die Ursachen für eine dicke Falte, die nun mitten auf meiner Stirn prangte. Das werde ich heute durch besonders viel Make-Up überdecken, schwor ich mir. Dann duschte ich mich rasch ab. Als ich mich anschließend in einen schwarzen Rock zwängte, der deutlich zu feierlich für einen Büroalltag aussah, wurde mir klar, dass dies eindeutig ein jämmerlicher Versuch war, von der Falte auf der Stirn abzulenken. Enttäuscht über die harte Realität brach ich auf ins Büro auf.
»Chef, ein Geschenk ist für dich angekommen«, hörte ich Hanna sagen, als ich am Labor vorbeiging. Mir fiel ein, dass ich die Mädels nicht begrüßt hatte. Also kehrte ich wieder um und trat ins Labor. Hannas gesamte Aufmerksamkeit galt den Gewebeschnitten, die sie unterm Mikroskop betrachtete. Eine der MTLAs, die ihr assistierte, wusch kleine Wannen ab, die wir zum Färben von Geweben benutzten. Eine weitere beschäftigte sich mit der Dokumentation der Befunde, während die ältere meiner Damen an der Zentrifuge beschäftigt war. Wir waren voll besetzt und jederzeit bereit, auch schwierige Aufgaben zu meistern. Das gefiel mir gut.
»Mädels«, sagte ich etwas lauter. Auch wenn die Maschinen sehr leise arbeiteten, war die Summe der Geräusche nicht nur störend, sondern auch auf Dauer belastend. Ganz anders, als wenn ich nach Feierabend allein im Labor war, um nachzuuntersuchen. Dann schaltete ich nur die Geräte ein, die ich wirklich benötigte. Und das auch noch möglichst nacheinander. »Heute gebe ich das Mittagsessen aus. Klingt das gut?«
»Sehr sogar.« Die MTLA, die an der Zentrifuge stand, unterbrach kurz ihre Arbeit. »Haben wir etwas zu feiern, Chef?«, fragte sie neugierig. Im Labor durfte mich nur Hanna, meine rechte Hand, duzen. Sonst niemand. Auch ich habe keine von ihnen geduzt, um die Grenzen zwischen uns bereits im Vorfeld abzustecken. Chef war die von meiner Seite aus einzig zugelassene lockere Anrede, um die Distanz zu wahren.
»Nein«, erwiderte ich belustigt. »Oder besser: doch! Wir feiern mein Spitzenteam, ohne das ich nicht überleben könnte ...«
»Wow. Wohin?«, fragte Hanna und wandte mir ihren Blick zu. Sie war nach Markus die mit Abstand zuverlässigste Person, mit der ich je gearbeitet hatte. Ich mochte sie wirklich sehr.
»Wie wäre es mit dem Italiener? Gestern wollte ich zwar hin, wurde aber in der Chirurgie aufgehalten. Da es dann nur ein Brötchen vom Bäcker gab, habe ich heute noch mehr Heißhunger darauf. Oder wollt ihr woanders hin?«
»Italiener klingt doch super!«, sagte eine der MTLAs von hinten. Da es keine Gegenstimme gab, betrachtete ich es als beschlossene Sache.
»Prima, ich hole euch gegen Mittag ab«, sagte ich und ging in mein Büro, nicht ohne vorher an der Küche anzuhalten und mir einen Becher frisch gebrühten Kaffee mitzunehmen.
Das liebevoll verpackte Geschenk sah ich erst, als ich an meinem Schreibtisch Platz nahm. Es war ein rechteckiges Paket, in rotes Papier eingewickelt. Am goldenen Band neben der Schleife hing ein Schildchen, auf das geschrieben war:
»Liebe Julia, meine Retterin in der Not. Danke für Deine Zeit, und wage es ja nicht, ein gemeinsames Essen auszuschlagen. Oder diese wirklich winzige Aufmerksamkeit. Hättest Du vielleicht Zeit, am Freitag in der Mittagspause? Deine Astrid Schneider aus der Chirurgie«
Den Zettel las ich anschließend mehrfach. So etwas kannte ich nicht. Sich für ein offenes Ohr gleich mit einem Geschenk zu bedanken? Das fühlte sich irgendwie blöd an, obwohl ich wusste, dass ich das Geschenk annehmen musste, wenn ich Astrids Gefühle nicht verletzen wollte.
Neugier packte mich dennoch, was sich in diesem Päckchen befand. Also beschloss ich, sofort hineinzusehen. Vorsichtig wickelte ich das Papier auseinander und sah ein schwarzes Lederetui, in dem sich ein hochwertiger Kugelschreiber und ein Füller von Diplomat befanden. Auf der Kappe des Füllers war mein Name eingraviert - samt all meiner Titel ... Zugegeben, das verblüffte mich. Diese Frau hatte ich doch nur ein einziges Mal gesehen. Ich fragte mich zugleich, wie Astrid das Geschenk schon am nächsten Tag hatte besorgen können.
Ein einfaches Essen in der Mittagszeit?, überlegte ich mit einem gewissen Widerstand. Na gut, das wird mich schon nicht umbringen . Höchstens muss ich mir etwas über enttäuschte Gefühle und Frauenfreundschaften anhören, was soll's. Fest stand, dass mich Astrid vor eine blöde Situation gestellt hatte, ob ich ihre Zuwendung annahm oder sie ablehnte. Beides fühlte sich unangenehm an.