Kapitel 7
Freitag, 24.04.2009
Die letzten Tage verliefen rasend schnell. Von einem Termin zum anderen gehetzt, nahm ich kaum noch die Umgebung wahr. Als ich heute Morgen auch noch feststellen musste, dass mein Lieblingsrock, den ich schon lange nicht mehr getragen hatte, viel zu weit geworden war, beschloss ich, mehr Entspannung in mein Leben einzubauen. Zumal in etwa zwei Wochen ein wichtiges Symposium in Chicago anstand.
Ärgerlicherweise war ich bei der Nahrungsaufnahme eher ein langsamer Genießer, wie es meine Eltern nannten, während ich mich selbst als Hungerhaken bezeichnete. Im Normalfall konnte ich mein Gewicht konstant halten, doch bei vermehrtem Stress verlor ich automatisch meine Kilos. Was vielen Frauen in meinem Alter wie ein Segen erschien, war für mich dagegen ein großes Problem. Weniger Gewicht bedeutete für mich gleichzeitig mehr Falten und - als wäre das nicht katastrophal genug - weniger Oberweite. Meine weibliche Attraktivität schien stressbedingt zu schwinden. Was nicht gerade zu meiner guten Laune beitrug. Und obwohl ich gerade im Büro meine Gedanken bewusst auf die Arbeit lenkte, konnte ich mich von meiner verfluchten Eitelkeit nicht losreißen. Also ließ ich den Blick über meinen Schreibtisch voller Akten schweifen.
Eine davon beinhaltete einen DNA-Vergleich. Diese nahm ich in die Hand. Der Proband war 2004 geboren. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ein Todesdatum.
15.04.2009, ein Mord also. Das Kind war demnach als Dezemberkind nicht mal fünf geworden ... Sofort dachte ich an Ben ... Was hätte ich getan, wenn man meinem Kind ...?
Allein der Gedanke bewirkte, dass mir der Kaffee hochkam. Arme Eltern, die den Verlust eines Kindes auf diese Weise erleiden müssen ...
Der DNA-Vergleich erwies sich laut Hannas Untersuchung als positiv. Da eine weitere Probe Mischblut enthielt, wusste ich, dass ich vermutlich den genetischen Fingerabdruck seines Mörders in den Händen hielt. Sie waren zwar ähnlich, aber verschieden genug, um immerhin eines der Elternteile auszuschließen. Was für ein Glück!
, dachte ich, und der Gedanke traf mich wie der Schlag: Bei Verbrechen, besonders an Kindern, waren fast immer Familienangehörige involviert. Also Tante, Cousin, Onkel ...
Wir werden ihn schon finden
, versprach ich dem Kind in Gedanken. Die Welt war so grausam!
Vielleicht weil mich dieser Vorfall so aufgewühlt hatte, vielleicht aber auch ohne einen tiefergehenden Grund starrte ich meinen neuen Füller bedeutungsvoll an, als könnte meine Unterschrift zu einer Festnahme beitragen. Diese Akte werde ich noch vor der Mittagspause selbst vorbeibringen
, beschloss ich.
Prof. Dr. med. Julia Hoffmann
, las ich meinen eigenen Namen zum gefühlt hundertsten Mal vom Deckel des Füllers ab. Dann fiel mir ein, dass ich mich noch gar nicht für das tolle Geschenk bedankt hatte. Das habe ich vollkommen vergessen!
Wenn ich nachher mit der Akte zur Staatsanwaltschaft ginge, könnte ich nachfragen, ob die Einladung zum Mittagessen mit Astrid Schneider noch stünde. Auch sie hatte ich vollkommen vergessen. Außerdem wäre ich dann den lästigen Gedanken los, etwas unerledigt stehengelassen zu haben. Dieser Einfall lenkte mich von der eigentlichen Realität meines Jobs ab: Von einer Welt, in der Kinder umgebracht wurden und ich mich gegen mein verkorkstes Mutterherz zwingen sollte, sie nur
als Probanden zu betrachten. Ein ruhiges Mittagsessen war nicht verkehrt. Und dennoch hielt ich es für meine Pflicht, die Befunde heute noch abzugeben, um bei der Aufklärung eines Mordes behilflich sein zu können. Und zwar sofort, nachdem ich einige anstehende Telefonate erledigt hatte.
Wie sich herausstellte, war Astrid nicht böse, dass ich mich gar nicht gemeldet hatte. Oder besser, dass ich sie vergessen hatte. Im Gegenteil - sie freute sich so sehr, dass mir nichts anderes übrigblieb, als ihr meine Pause für ein Mittagsessen im nahgelegenen Asia-Restaurant anzubieten. Astrid willigte zufrieden ein.
Das Restaurant war genauso kitschig gehalten wie alle anderen seiner Art. Dennoch war ich erstaunt, wie gemütlich ich mich fühlte.
» ... und nun bin ich sie los«, erklärte mir Astrid, während uns der Kellner, garantiert asiatischer Herkunft, endlich eine heiße Vorsuppe brachte. Damit ertappte ich mich, ihr nicht im Mindesten zugehört zu haben. Ganz offensichtlich nahm mich die Geschichte des fast fünfjährigen Mordopfers noch immer mit. Nicht mal die persönliche Übermittlung der Unterlagen ans Morddezernat erfüllte mich mit Zufriedenheit, weil der zuständige Ermittler krankgeschrieben war. Hätte ich es per Post versandt, würden die Ermittlungen ebenfalls erst am Montag beginnen. Meine Eile war einfach für die sprichwörtliche Katz.
»Entschuldige«, sagte ich liebevoll. »Ich habe es akustisch nicht verstanden. Wen bist du los?« Dabei tunkte ich einen großen, blau-weißen, mit chinesischen Ornamenten verzierten Keramiklöffel in die heiße Suppe.
»Ähm ...« Astrid schien entgeistert. »Sabine, meine ehemals beste Freundin. Weißt du nicht mehr? Durch sie haben wir uns doch kennengelernt.« Astrid nahm einen vollen Löffel Suppe in den Mund, ohne ihn durch pusten abgekühlt zu haben. Dabei verzog sie keine Miene. Beeindruckend, wie ich fand. »Sie hat mich doch vor unseren Patienten beschimpft, weißt du noch? Mir war es so peinlich. Aber sie ist verrückt! Vollkommen durchgeknallt!«
»Ach, ja. Jetzt erinnere ich mich«, sagte ich. Plötzlich sah ich Tränen in ihren Augen aufsteigen. Vermutlich wegen der viel zu heißen Suppe. Doch ich entschied mich, die Tränen als Gemütsverfassung zu interpretieren und tätschelte tröstend ihren Arm. »Wenn man solche Freunde hat, braucht man wohl keine Feinde ...«
»Und wie du recht hast!«, erwiderte Astrid. »Sie war aber echt nicht in Ordnung. Ich meine ... so im Kopf.«
»Ja«, stimmte ich ihr nachdenklich zu. »Psychisch labile Menschen gibt es! Jede Menge sogar. Und manchmal ist es nur ein dummer Zufall, einem solchen zu begegnen ...« Astrid nahm meine Bemerkung zum Anlass, das Thema zu wechseln.
»Darf ich dich was fragen?«
»Warum nicht?«, lächelte ich und löffelte meine Suppe - in Erwartung eines längeren Monologs. Trotz Schärfe schmeckte sie wirklich gut.
»Wie viele ...« Astrid schaute mir so tief in die Augen, als wäre es ein Staatsgeheimnis. »Wie viele Kinder möchtest du eines Tages haben?«, fragte sie und brachte mich damit aus der Fassung. Diese Frage war die letzte, die ich von ihr erwartet hätte.
»Ähm ... Ich bin doch schon viel zu alt für Kinder. Ich bin schon einundvierzig und gehe mehr auf die Wechseljahre als auf eine erneute Schwangerschaft zu. Aus meiner ersten Ehe habe ich bereits einen Sohn, Ben. Er ist dreizehn. Somit dürfte meine Familienplanung abgeschlossen sein.«
»Du bist einundvierzig?« Astrids Augen weiteten sich. »Ich hätte dich auf maximal dreißig geschätzt. Ich selbst bin achtunddreißig.«
Wenn sie mich bezüglich der Schätzung meines Alters anlog, dann tat sie es sehr geschickt. In meinem Beruf bekam man äußerst selten mit dreißig schon die Professur. Aber vielleicht war es ihr tatsächlich ernst?
Astrid spürte, wie mir dieses Kompliment schmeichelte. Ich rutschte daraufhin automatisch so auf dem Sitz vor, dass das grelle Sonnenlicht des Frühlings keine Chance erhielt, meine Falten zu unterstreichen. Diese Frau tat mir gut. Auf mich machte sie den Eindruck, jung und dynamisch zu sein, was der Schlag von Menschen war, den ich gern um mich hatte. Auch wenn wir beruflich praktisch in zwei Universen lebten, fühlte ich eine gewisse Vertrautheit zwischen uns. Vermutlich deshalb, weil ich sie in einer Situation erleben musste, bei der sie auf meine Hilfe angewiesen war. Ohne lange zu überlegen, erzählte ich ihr ein wenig aus meinem Leben ... Vorwiegend, warum es mich nach Berlin verschlagen hatte, während mein Sohn in Wiesbaden bei seinem Vater blieb. Ob meine plötzliche Ehrlichkeit etwas mit dem Befund des kleinen Jungen zu tun hatte?
»Also bist du fast Single, könnte man sagen?«, fragte Astrid nach einer Weile.
In diesem Moment erkannte ich, wie recht sie mit ihrer Feststellung hatte. In gewisser Weise war ich tatsächlich ein Single. Zur Bestätigung nickte ich. Irgendwie machte mich diese Erkenntnis aber auch traurig. Es klang nicht nach Party
wie noch zur Studienzeit, sondern nach viel Platz im Herbst auf einer leeren Bank im Park.
»Magst du Kinder?«, fragte ich vorsichtig. Manche Frauen reagierten auf diese Frage sensibel.
»Und wie!« Astrid strahlte plötzlich. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eines Tages ein kleines Mädchen zu bekommen. Eine kleine Prinzessin, die ich von vorn bis hinten nach Herzenslust verwöhnen kann ... Eines Tages werde ich noch Mutter!« Sie sprach so entschlossen, dass es mich überraschte. Kinder waren keine Samen, die man in einem Geschäft kaufen, sie säen und irgendwann ernten konnte. Es gehörte einiges dazu, sich mit Ende dreißig so etwas vorzustellen. Nicht mal mit einem neuen Partner glücklich zu werden, lag in meiner Vorstellungskraft. Noch ein Kind dazu? Ausgeschlossen. Meine biologische Uhr hatte ich so leise gestellt, dass selbst, wenn sie noch ticken sollte, ich sie nicht mehr wahrnahm.
Der Kellner brachte den Hauptgang und schaffte damit wieder etwas Leichtigkeit in unser Gespräch.
»Da du ja Single bist, hättest du heute Lust, zu einer Party mitzukommen?«, fragte Astrid plötzlich. »Es ist nichts Besonderes. Eine Ü-30-Party. Aber es wird garantiert lustig!«
»Heute?« Auf eine Party hatte ich nun wirklich keine Lust, doch eine gescheite Ausrede wollte mir partout nicht einfallen. Astrid witterte sofort ihre Chance.
»Ach komm schon!«, sagte sie fast flehend. »Ich habe sonst nur verheiratete Paare als Freunde. Keiner will oder kann mit mir auf Partys gehen. Es wird wirklich lustig. Oder gibt es doch einen Kerl?« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Ich meine, so eine attraktive, kluge Frau muss doch jemanden haben! Einen Kumpel oder Chef. Halt so ein Halbsingle oder so ...« Ihr Angebot abzulehnen, hatte keinen Sinn. Sie würde meine Absage auf ihre eigene Art interpretieren. Das passte mir wiederum nicht. Und so ging ich der Spinne ins Netz, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Nein, ich habe niemanden«, erklärte ich und fühlte mich dämlich dabei. »Außer dem Postboten, der ganz offensichtlich auf mich steht ...«, rutschte es mir heraus. Aber wieso erzähle ich ihr das? Will ich vor Astrid wie ein verzweifelter Single aussehen? Wenn ja, dann bin ich auf dem besten Weg dahin. Erbärmlich.
»Du machst doch Witze!«, stellte Astrid fest.
»Ja«, räumte ich zögernd ein. »Das heißt ... Da ist tatsächlich so ein Kerlchen ... Der bringt ständig Pakete für die Nachbarn. Und ohne etwas Smalltalk geht er nicht weg. Aber der Typ ist harmlos, glaub's mir!« Warum erzähle ich Astrid das überhaupt? Was ist mit mir los?,
ging es mir durch den Kopf. Ich kenne sie nicht mal.
»So, so ...« Astrid blinzelte schelmisch. »Wie auch immer ... Kann ich dich um neun abholen?« Offensichtlich hielt sie unser Date für beschlossene Sache.
Für einen Augenblick dachte ich daran, dass ich mir eigentlich geschworen hatte, mehr Entspannung in mein Leben zu bringen. Dann daran, dass ich Ben dieses Wochenende nicht sehen würde, daher willigte ich ein. Was sollte schon passieren?
Als ich Astrid meine Adresse diktierte, pfiff sie durch die Zähne.
»Zehlendorf, ganz im Grünen. Die nobelste Wohngegend in ganz Berlin. Eine meiner Freundinnen auf dem Gymnasium kam daher. Ich war oft bei ihr zu Besuch. Manchmal habe ich dort übernachtet. Hübsch, hübsch ...«
»Ich kann mich nicht beschweren«, lachte ich auf und sah auf meine Uhr. Es war schon recht spät. Genau genommen waren es aufsummiert versäumte Mittagspausen der vergangenen Woche.
»Astrid, wenn ich heute zu der Party mitkommen soll, dann muss ich jetzt los. Ich habe heute noch viel zu tun«, erklärte ich und sah, wie sie in ihre Tasche griff. Ich wollte sie davon abhalten: »Nee, nee, lass mal stecken. Ich übernehme die Rechnung!«
»Nein«, widersprach Astrid. »So geht es nicht!«
»Oh doch «, schmunzelte ich. »Bei dem wunderschönen Füller wurde ich doch auch nicht gefragt. Wie hast du ihn so schnell bekommen? Samt Gravur meines Namens?«
»Gefällt er dir wirklich?« Astrid schien aufgewühlt zu sein. Dennoch ließ sie die Rechnung nicht von mir begleichen.
»Ich liebe ihn!«, sagte ich wahrheitsgemäß, denn ich mochte das schöne Gefühl, mit einem Füller über Papier zu gleiten. Mit einem Füller konnte man meines Erachtens nach niemals unsauber schreiben. Das Schriftbild wirkte immer klar und edel.
»Dann bleibt es mein Geheimnis, woher ich ihn so schnell hatte!«, erwiderte sie und stand auf. »Ich freue mich schon auf heute Abend!«