Kapitel 13
Den Theaterbesuch ließen wir in einem gemütlichen Café in der Bleibtreustraße neben dem berühmten 'Ali Baba' ausklingen. Das auf Anhieb gemütliche Lokal war eine Empfehlung von Hanna, meiner leitenden MTLA, die im Zentrum von Berlin groß geworden war. Obwohl die Bleibtreustraße so nah zum Kurfürstendamm, der bekanntesten Shopping-Meile von Berlin, lag, verirrten sich in diese Querstraße kaum Touristen. Eher eine Unmenge von Studenten, die sich für ein ausgedehntes Päuschen bei Bier oder Fassbrause trafen.
Diese Tatsache und die Aussicht auf den versprochenen »leckersten Salat der Hauptstadt zu einem annehmbaren Preis« machten das Café zu einem wahren Geheimtipp unter Berlinern. Später, ohne dass man den genauen Zeitpunkt hätte benennen können, verlagerte sich der Schwerpunkt der Stadt in Richtung der östlicheren Bezirke wie Mitte, die ein gemütlicheres Flair der pulsierend-schlaflosen Stadt boten.
»Auf 'Ladies Night'«, sagte Bärbel mit einer Anspielung auf das Stück, das wir soeben noch gesehen hatten. Sie hob ein halbvolles Glas mit Weißwein hoch. Wir saßen draußen, um das milde Wetter in vollen Zügen auszunutzen.
»Auf 'Ladies Night'. Möge sie nie enden«, erwiderte ich feierlich. Der Sekt, den wir im Theater bekommen hatten, war mir ganz offensichtlich zu Kopf gestiegen. Die vom Tag noch warme Luft des romantischen Frühsommerabends trug sein Übriges dazu bei.
»Es war gar nicht schlecht«, knüpfte Bärbel an die Vorstellung an. »Erfrischend fand ich 'Die Wilden Stiere' mit ihren so gar nicht perfekten Körpern, oder? Dennoch haben sie die Hüllen fallen lassen ... Wir Frauen könnten uns eine Scheibe davon abschneiden. Schade, dass es deren letzte Vorstellung war.«
Ich schmunzelte und ahnte, worauf sie hinauswollte. Meinen Drang zur Perfektion, was Körperkult betraf, erwiderte sie keinesfalls. »Hey, wie soll ich einen Mann kennenlernen, wenn nicht mit einem schlanken Body? Dafür muss ich lediglich aufpassen, was ich esse. Außerdem, so perfekt ist mein Körper noch lange nicht. Immerhin wohnte einst ein kleines Baby darin.« Mir war schon klar, dass Bärbel es wirklich lieb meinte. Meine Freundin machte sich Sorgen um mich.
»Du bist schlank, Schatz«, sagte sie mit einem sorgenerfüllten Blick, nicht ohne zuerst ihren eigenen Bauch zu streifen. Darin war kein Neid enthalten. Bärbel sah einfach die Unterschiede. Auf die sachliche Art. »Du bist einfach perfekt! Und das ist eben dein Problem. Kein Kerl traut sich an eine Professorin mit einem perfekt geformten Körper ran. Du schüchterst Männer ein. Mein Tipp wäre, sei mal halb so perfekt, wie du sonst bist.«
»Aber Markus ...«, begann ich.
»Markus hast du kennengelernt«, übernahm sie das Wort, »als du noch eine unsichere, blutjunge Studentin warst. Heute bist du eine gutaussehende, reife Frau mit einem fantastischen Job. Das macht den meisten Kerlen Angst ...« Bärbel dachte nach und lächelte plötzlich. »Hey, was weiß ich schon! Du wirst garantiert einen Kerl finden, der es zu schätzen weiß.«
»Schauen wir mal«, quittierte ich und fühlte mich mit einem Mal unwohl. Verrückterweise hatte ich wieder das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, weshalb ich mich unauffällig umsah. Dieses Gefühl begleitete mich bereits seit ein paar Tagen, doch ich maß dem bisher wenig Bedeutung bei. Nun fragte ich mich aber, ob es stimmte.
Bärbel entging meine Kopfbewegung nicht. »Alles okay?«
»Hmm ... Manchmal habe ich das Gefühl«, erklärte ich, »beobachtet zu werden. Kennst du das? Wenn ich mich dann aber umsehe, sehe ich nichts Auffälliges. Bescheuert, oder?«
»Wie bitte?« Bärbel war verdutzt. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Ich hielt es für Quatsch. Für einen Auswuchs meiner Fantasie.«
»Seit wann hast du das Gefühl?« Bärbel gefiel nicht, was sie hörte.
»Seit ich aus Chicago zurück bin, schätze ich ...«, entgegnete ich nachdenklich. Den genauen Zeitpunkt konnte ich zwar nicht benennen, aber dass es irgendwann danach passiert war.
Bärbel senkte kurz den Blick, als wollte sie erwägen, wie sie etwas unmissverständlich formulieren konnte. Dann schaute sie mir direkt in die Augen. »Hast du es gut verkraftet, dass Markus eine neue Flamme hat?«
Was hat das mit meinem Verfolgungswahn zu tun?
, huschte es mir durch den Kopf. Nachdem ich einen kräftigen Schluck aus meinem Weinglas genommen hatte, sagte ich: »Natürlich gut. Wir sind doch schon längst getrennt.« Es klang, als wollte ich mich in erster Linie selbst überzeugen. Dann begriff ich, warum sie mir die Frage genau jetzt gestellt hatte. Es enttäuschte mich zugleich, dass sie mich offensichtlich so schlecht kannte. »Ich drehe doch nicht durch, nur weil mein Ex-Mann eine neue Freundin hat!« Diese Erklärung fiel einen Tick zu laut aus. Die Menschen an unserem Nachbarstisch drehten sich neugierig um.
»Beruhige dich doch!« Bärbel schien es unangenehm zu sein. Vielleicht lag sie mit ihrer Vermutung aber näher an der Wahrheit, als es uns beiden angenehm war? Bekanntlich bellten nur getroffene Hunde.
»Entschuldige«, lenkte ich wieder ein. »Vielleicht ist da tatsächlich etwas dran. Ich dachte, ich hätte es schon überwunden. Dank Astrid komme ich nicht so oft dazu, an Markus zu denken. Aber wer weiß? Es ist mir auch klar, dass ich ihm nicht böse sein dürfte, doch dass er es mir ausgerechnet in Chicago erzählt hat, tut immer noch weh«, gestand ich.
»Das wird noch dauern, bis es verheilt ist. Und es ist egal, wo er es dir erzählt hätte. Die Tatsache bleibt.« Bärbel streichelte mir tröstend über den Arm. »Irgendwann ist aber der Schmerz vorbei.« Wir schwiegen nachdenklich. Ihre Berührung hatte etwas Seelenverwandtes in sich, das mich beruhigte. Bei Bärbel fühlte ich mich einfach wohl.
»Sag mal«, etwas schien meine Freundin zu beschäftigen, »was läuft da zwischen dir und dieser Astrid? Ihr kennt euch kaum, schon schläft sie öfter bei dir. Sie geht ans Telefon, wenn ich anrufe. Und spontane Verabredungen sind zumindest am Wochenende nicht mehr drin. Mir gegenüber ist sie auch noch so komisch drauf.«
»Astrid?«, wiederholte ich nachdenklich. »Vielleicht ging sie ran, als ich unter der Dusche war ...«, beruhigte ich mehr meine innere Stimme, die es ebenfalls befremdlich fand. Dass sie bei mir ans Telefon ging, war für mich wirklich neu. Doch andererseits hatten wir nie darüber gesprochen, dass sie es nicht tun sollte. Vielleicht war es ein Missverständnis, das daraus resultierte, dass ich ihr gewisse Freiheiten eingeräumt hatte. Astrid hatte immerhin Ersatzschlüssel für mein Haus. »Sie hat mir in letzter Zeit sehr viel geholfen, was die endgültige Trennung von Markus betrifft«, sagte ich entschuldigend, als wäre das etwas, wofür ich mich schämen musste.
»Hey«, Bärbel schaute perplex, »was ist eigentlich los? Warum weiß ich nicht, dass dich die Trennung von Markus so sehr bedrückt?«
»Schatz«, ich legte meine Hände auf die meiner Freundin, um meine liebevoll gedachte Intention zu unterstreichen, »ich weiß es zu schätzen, dass du für mich da sein möchtest. Aber du hast eine Familie und einen Job, der dich voll vereinnahmt. Du brauchst nicht auch noch meinen emotionalen Mülleimer zu spielen. Astrid ist, wie ich, Single, und hat sonst niemanden, um den sie sich kümmern kann. Sie hört sich meine Geschichten an - ich im Gegenzug ihre. Und das ist gut so. Mit dir möchte ich gern diese unbeschwerte Zeit haben, die wir uns beide verdienen. Kein Stress, keine Vorträge über Ex-Ehemänner, kein Jammern. Wenn mich aber ernsthaft der Schuh drückt, erfährst du es als Erste. Versprochen!«
Bärbel schaute mich so durchdringend an, als wollte sie an meinen Augen ablesen, wie ernst es gemeint war. Es war mir sehr ernst. »Okay«, gab sie nach einer Weile nach. »Wie du meinst. Aber wenn dich irgendwann etwas belastet, kommst du auf mich zu? Egal wann und wo. Meine Tür steht für dich immer offen, das weißt du hoffentlich.«
»Selbstverständlich!«, nickte ich. Die Freundschaft zu Bärbel war mir sehr wichtig.
»Nochmal zu einem sehr wichtigen Thema«, griff Bärbel auf. »Du denkst, dass dich jemand beobachtet? Ein Nachbar? Ein Verehrer?«
»Vielleicht spinne ich total, doch genau das glaube ich«, erwiderte ich überzeugt. »Es passiert ganz oft, wenn ich unterwegs bin. Oder Zuhause auf der Couch. Ein paar Mal gab es diese Anrufe, bei denen ich mir nichts dachte, außer dass sich der Anrufer vertan hätte. Die passieren aber immer wieder, sodass ich an Zufälle nicht mehr glauben möchte. Aus welchem Grund soll mich aber einer verfolgen? Und wer?«
»Seltsam.« Bärbel schüttelte ungläubig mit dem Kopf. »Hast du einen Verehrer?«
»Nicht, dass ich wüsste«, verneinte ich und war dankbar, dass zumindest meine Freundin nicht so tat, als wenn ich den Verstand verlieren würde. »Ich war zwar in letzter Zeit auf Partys und habe dort einige Männer kennengelernt. Aber etwas Ernsthaftes ist daraus nicht geworden. Nicht mal ein One-Night-Stand. Und mit den Nachbarn habe ich kaum zu tun. Die meisten sind ohnehin sehr alt oder zeigen kein Interesse, den Kontakt zu intensivieren«.
»Was sagt deine Astrid dazu? Hat sie schon solche Anrufe entgegengenommen?«
»Du bist vorerst die erste Person«, bekräftigte ich, »mit der ich über tote Telefonleitungen gesprochen habe. Genau genommen ist mir der mögliche Zusammenhang erst gerade klar geworden. Falls Astrid einen solchen Anruf entgegengenommen hat, so hat sie nie darüber gesprochen. Aber vielleicht hält sie es für nicht wichtig genug?«
»Hmm ...« Bärbel wusste keine Antwort. Plötzlich vibrierte ihr Handy. Sie schaute kurz aufs Display. »Thomas«, erklärte sie knapp.
»Geh ran, das wird wichtig sein!«, sagte ich mit Nachdruck. Bärbels Mann hätte unseren Abend nicht unterbrochen, wenn es nicht überlebensnotwendig gewesen wäre. Etwas besorgt beobachtete ich, wie sie den Hörer ans Ohr legte, wobei sie sich das andere zuhielt. Ganz offenbar waren die Geräusche der Straße, die uns nicht mehr sonderlich auffielen, sehr störend beim Telefonieren. Das machte sich in einem sehr angespannten Gesichtsausdruck meiner Freundin bemerkbar. Nach einigen 'Ja' und 'Hmm' sagte sie plötzlich: »Das ist viel zu hoch, du musst es senken. Ibuprofen findest du ...« Dann folgte eine Reihe von Anweisungen, und mir wurde klar, dass eines oder gar beide Mädchen krank waren. Somit kündigte sich ein unerwartetes Ende unseres Abends an. Denn egal, wie Bärbel das sah - sie musste nach Hause zu ihrer Familie.
»Wer ist denn krank?«, fragte ich, als sie aufgelegt hatte.
»Mimi«, sagte sie besorgt. »Das Fieber steigt ziemlich schnell. Thomas hat Angst, dass sie wieder einen Fieberkrampf bekommt.«
»Das tut mir leid. Fahr nach Hause!« Meine Stimme duldete keinen Widerstand. Aber auf diesen war ich vorbereitet.
»Nein, Thomas kommt schon klar«, sagte Bärbel und zwang sich zu einem gekünstelten Lächeln. Es war mir klar, dass sie zu Mimi wollte.
»Keine Widerrede! Ich bezahle! Du gehst sofort nach Hause!« Kopfschüttelnd bekräftigte ich meinen Entschluss, den Abend sofort abzubrechen. So schade ich es auch fand.
Verunsichert erhob sich Bärbel zum Gehen. Doch dann entschied sie endgültig, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen.
»Wir telefonieren?«, fragte sie, während ich mich ebenfalls erhob, um sie zum Abschied zu drücken. Bei Bärbel fühlte sich diese Geste so anders als bei Astrid an. Sie war für mich wie eine Schwester. Körperlicher Kontakt mit Astrid war für mich hingegen befremdlich.
»Ja, nun geh endlich!«, befahl ich ihr. »Gute Besserung für die Kleine!«
»Wird schon«, sagte Bärbel traurig zum Abschied, bevor sie in den Menschenmassen verschwand. Die Dunkelheit hatte sich mittlerweile unbemerkt angeschlichen, weshalb ich sie fast sofort aus meinen Augen verlor. Einige Zeit später sah ich die Kellnerin, der ich meine Bereitschaft zum Zahlen signalisierte. Und das, ohne in den Genuss zu kommen, den von Hanna gelobten Salat zu probieren. Doch allein im Café zu sitzen war nicht meine Art.
Zeitgleich fiel mir ein, dass ich mein Handy vor dem Theaterstück ausgemacht hatte. Ins Handy zu schauen war die beste Art, wie ich mich unauffällig ablenken konnte, bis die Kellnerin wiederkam. Also schaltete ich das Handy wieder an und ...
Zwanzig Anrufe, zehn Kurznachrichten
, stand in Form entsprechender Symbolik auf dem Display. Irgendetwas Schlimmes muss passiert sein!
Diese böse Vorahnung traf mich plötzlich wie ein Blitz.