Kapitel 19
Donnerstag, 25.06.2009
Am nächsten Tag
Das Klingeln des Weckers riss mich aus dem Schlaf. Auch wenn ich sicher war, die Nacht durchgeschlafen zu haben, fühlte es sich nicht so an. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als wäre ich nicht mal in den Tiefschlaf eingetaucht.
Nach ein paar Dehnübungen, die meine Motivation für den Tag erhöhen sollten, stand ich endlich auf. Während ich duschte, ließ ich frische Luft in mein Schlafzimmer. Allein im Haus verließ mich der Mut, bei offenem Fenster zu schlafen.
Diesmal entschied ich mich, legerer im Büro zu erscheinen. Das Einzige, worauf ich wirklich Lust hatte, war, bequem angezogen auf der Couch zu sitzen und ein spannendes Buch zu lesen. Und vor mir selbst so zu tun, als würde ich der Handlung folgen können.
Als ich meine Schritte zur Küche richtete, erwartete mich nicht der fertige Frühstückstisch. Im Spülbecken lagen zwei dreckige Tassen mit Teebeuteln drin. Diese Unordnung war zu Zeiten, als Astrid bei mir wohnte, undenkbar. Aber mich erfreuten diese Beweise des gestrigen Besuchs von Bärbel, die ich erst gegen Mitternacht förmlich rausgeworfen hatte. Sonst hätte sie bei mir übernachtet, was ich wahrlich unnötig fand. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Allein. Auch das Wohnzimmer schien unaufgeräumter als sonst. Und dennoch fühlte ich mich so leicht, als könnte ich fliegen. Endlich hatte ich mein Reich für mich zurückerobert. Mich beschlich die unwiderstehliche Lust, die Kissen von der Couch durcheinander zu bringen, um mich nachher versichern zu können, dass sie nicht aufgeräumt wurden. Und obwohl es wirklich albern war, tat ich es.
Um meine Freiheit vollständig auskosten zu können, beschloss ich, zu meiner Routine zurückzukommen. Schneller Kaffee, Frühstück unterwegs, Zeitung in der U-Bahn ... Als wäre Astrid nie passiert. Ich wollte sofort Abstand zu ihr aufbauen. Voller Energie öffnete ich die Eingangstür. Die Rose fiel mir nicht sofort auf. Vielleicht, weil meine Gedanken bei Astrid waren?
Sie war wunderschön. Die große, gelb-orange Blüte duftete so intensiv, dass es nicht mal notwendig war, direkt an ihr zu riechen. Es war mit Sicherheit eine Teerose, vermutlich 'Lady Hillingdon', wenn man die Farbe betrachtete. Auch wenn ich in Gartendingen nicht besonders bewandert war, so erinnerte ich mich an meine Großmutter. Ihre Leidenschaft waren duftende Rosen, insbesondere Teerosen. Dafür hatte sie in ihrem Garten einen speziellen Platz reserviert, zu dem sie mich immer mitnahm, um mir die Tücken dieser, für meine Begriffe launischen Pflanzen, beizubringen. Am Ende konnte ich die Rosen zwar nicht pflegen, da mir alles wichtiger als der gepflegte Garten war, aber ich konnte viele Sorten voneinander unterscheiden. Wäre ich damals mit meinem heutigen Verstand bedacht gewesen, hätte ich von meiner geliebten Großmutter mehr gelernt. Sie kannte sich mit der Welt der Pflanzen aus wie kein anderer Mensch.
An der Rose, die ich vor meiner Tür fand, hing ein Zettel. Nichts Besonderes. Ein weißer Zettel mit klaren Rändern, gelocht, kaum größer als einer dieser üblichen Post-It- Zettel, die ich im Büro hatte.
Du fehlst mir
, las ich und sah mich um, ob ich den Menschen fand, der es geschrieben hatte. Doch ich sah nichts Auffälliges, also vermutete ich diesmal, dass die Rose dort von Astrid abgelegt worden war. Irgendwie hatte ich sie schon immer in Verdacht, dass die Rosen von ihr kamen. Warum hatte sie sie immer gefunden und nie ich? Vielleicht nutzte sie es als Vorwand, meine Aufmerksamkeit zu bekommen? Das hätte zumindest alle Vorfälle in der Vergangenheit plausibel erklären können. Diesmal beschloss ich, mich nicht mehr von ihr manipulieren zu lassen. Dann steckte ich die Rose samt Zettel in die Mülltonne in meiner Einfahrt.
Ich werde garantiert nie wieder weich!
, schwor ich mir in Gedanken.
Während ich einige Minuten später auf den Bus wartete, machte ich im Kopf einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben. Besonders was die letzte Zeit betraf. Ich konnte nicht leugnen, dass Astrid meinem Leben eine neue Richtung gegeben hatte. Ohne sie würde mein Leben zweifelsohne weniger aufregend werden. Keine Partys, keine Wochenenden zu zweit im Kino, weniger Ausflüge, keine Seele, bei der ich mich ausweinen konnte, wenn ich Bärbel nicht zur Last fallen wollte. Meine Einsamkeit hatte mich wieder in ihren Fängen. Dennoch fühlte sich diese Entscheidung richtig und längst überfällig an. Mein Leben steuerte auf eine ruhige Zeit zu, in der ich mich auf mich selbst fokussieren würde. Und vor allem auf den schönen Urlaub mit meinem Sohn auf Gran Canaria.
Bald.
Sehr bald.