Kapitel 20
Sonntag, 16.08.2009
Eineinhalb Monate später
Eingetaucht in ein Buch, dass ich am Flughafen südlich der Inselhauptstadt Las Palmas auf Gran Canaria gekauft hatte, ließ ich den Startvorgang des Fliegers über mich ergehen. Wir hatten einen Direktflug nach Tegel, von wo ich ein Taxi nach Hause nehmen wollte. Morgen Nachmittag würde ich meinen Sohn in einen Zug nach Wiesbaden setzen. Die Vorstellung, mich wieder von meinem Kind zu trennen, schmerzte sehr.
Heimlich linste ich zum Nebensitz, auf dem sich Ben in seine Jacke eingekuschelt hatte. Wenn er jetzt nicht schlief, dann wirkte er zumindest sehr überzeugend.
Ich konnte mich gegen den Film in meinem Kopf nicht wehren, der bei diesem Anblick ablief. Von seiner Geburt zu jedem Schritt in seiner Entwicklung schien mein Gehirn mindestens ein Bild gespeichert zu haben und ließ sie gerade wie eine Diashow hintereinander durchlaufen. Dankbar, dass er meine Emotionen nicht sehen konnte, wischte ich hastig die Tränen der Rührung ab. Ich fragte mich, wann seine zarten Baby-Füßchen zu Nummer dreiundvierzig mutiert waren? Wann aus seinem damals übertriebenen Babyspeck der muskulöse Waschbrettbauch geworden war? Zweifelsohne wurde aus meinem kleinen Baby ein mehr und mehr erwachsener Mann. Diese Erkenntnis trieb mir ungewollt wieder Tränen in die Augen. Ich war stolz auf ihn und ein wenig darauf, wie gut Markus die Erziehung auch ohne mich hingekriegt hatte.
»Mama, weinst du?«, fragte Ben leise, bemüht darum, dass uns keiner hörte. In seinem Alter waren weinende Mütter einfach nur peinlich. Besonders in der Öffentlichkeit. Zu alldem schien sich mein Sohn tatsächlich Sorgen um mich zu machen.
»Ach was!«, winkte ich leise ab. »Das ist nur die trockene Luft im Flugzeug. Schlaf ruhig weiter.«
»Schwachsinn«, stellte er fest. »Hey, wir können nochmal hierher, wenn du so traurig bist. Es hat mir auch sehr gut gefallen. Na?«, tröstete er mich. Das waren die kostbarsten Augenblicke im Leben meines pubertierenden Sohnes, die mir einen Einblick gewährten, wie wunderbar mitfühlend er als Ehemann eines Tages werden würde. Wie gern wäre ich ihm mit meiner Hand - wie früher - durch die gegelten Haare gefahren. Aber vermutlich wäre das wieder mal uncool gewesen. Also ließ ich es sein und freute mich, dass er alles so interpretierte, wie es für ihn verständlicher war.
Unserer gemeinsamen Zeit trauere ich nach, mein Schatz
, erklärte ich Ben in Gedanken, was er noch nicht verstehen würde. Zumindest nicht, bis er eines Tages selbst Vater sein würde. »Hat dir der Urlaub wirklich gut gefallen?«, fragte ich ausweichend.
»Na klar! Es war echt fett!«, entgegnete er voller Begeisterung. In seiner Teenager-Sprache stellte dies die höchste Form der Zufriedenheit dar. Denn für gewöhnlich antwortete er auf solche Fragen nur mit einem bestätigenden »Jo« oder einem Grunzen, wenn etwas nicht seiner Vorstellung entsprach.
Dann gähnte er nochmal und schloss die Augen. Kein Wunder. Der Urlaub hatte uns beiden Einiges abverlangt. Die meiste Zeit verbrachten wir entweder sonnend auf dem gold-braunen Sand der Dünen von Maspalomas oder während einer der zahlreichen Ausflüge. Ob die Besichtigung des Hafenmarktes in Puerto de Mogán, ein Tagesausflug quer durch die Insel oder eine Bootsfahrt - Ben schien alles zu gefallen. Auch ich hatte mich vom Alltag im Büro sehr gut erholen können. Fast hätte ich meinen Job vergessen.
Etwas belastete mich dennoch. Ich dachte nicht ständig daran. Nur manchmal. Sehr selten. Oder es erschien in meinen Träumen.
Auch wenn Astrid an jenem Tag, an dem ich sie hinauswarf, vollständig aus meinem Leben verschwunden war, verlief mein Leben noch nicht wirklich perfekt. Etwa eine Woche nach unserem Streit fand ich die letzte Teerose vor meiner Tür. Dann hörte auch das auf. Und dennoch! Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker in Berlin und hörte erst auf Gran Canaria plötzlich auf. Wenn ich tatsächlich paranoid oder übersensibel bin, warum hörte dieses Gefühl dann im Urlaub auf?
Diese Frage ließ mich nicht los.
Ich sah, wie sich die Brust meines Sohnes regelmäßig auf und ab bewegte, was bedeutete, dass er bereits wieder schlief.
Nicht ganz fünfeinhalb Stunden später landete das Flugzeug schließlich in Tegel. Wie auf Bestellung öffnete Ben die Augen und fragte leicht benommen wie früher, als er noch ein Kind war: »Sind wir schon da?«
Um diese jugendliche Leichtigkeit bewunderte ich ihn, weil ich im Gegensatz zu ihm kein Auge zugemacht hatte. Als wir um elf den Flughafen in einem Taxi verließen, verspürte ich eine starke Müdigkeit, die mich durch das gleichmäßige Schaukeln des Wagens in einen Kurzschlaf zwang. Bevor der Taxifahrer den Motor jedoch ausgeschaltet hatte, wachte ich auf. Wir waren am Ziel. Vor unserem Haus.
»Verdammt, ich muss eingenickt sein«, stellte ich verärgert fest und schaute nach hinten zu meinem Sohn. Auch er schlief.
»Kein Problem«, entgegnete der Taxifahrer amüsiert und ließ mich bezahlen. Nur die Aussicht auf das bequemere Bett war motivierend genug, meinen Sohn zum Aussteigen zu bewegen. Doch als wir die Tür des Hauses endlich erreicht hatten, war es mit meiner Müdigkeit schlagartig vorbei.
Sie war lediglich angelehnt.
Das Schloss war aufgebrochen.
Im Inneren des Hauses war es stockdunkel.
»Bleib sofort stehen!«, schrie ich meinem Sohn zu. Panik ergriff mich. Zur gleichen Zeit wuchs in mir Wut, dass jemand es gewagt hatte, meine Privatsphäre auf diese Weise zu verletzen. Ohne darüber nachzudenken, ob ich vielleicht einen Einbrecher auf frischer Tat erwischen würde, stülpte ich filmreif den Ärmel meines Sweatshirts über meine Hände, um eigene Handabdrücke zu vermeiden, falls es sich tatsächlich um eine Straftat handeln sollte. Während ich die Tür leicht anschob, bat ich Ben wispernd, den Taxifahrer nicht fahren zu lassen.
»Warten Sie bitte!«, rief mein Sohn in Richtung des Taxis.
»Bärbel?«, rief ich währenddessen ins Hausinnere. Die Hoffnung keimte in mir auf, dass es dafür vielleicht eine plausible Erklärung geben würde. Vielleicht hatte sie den Schlüssel verloren und war nur so hineingekommen? Ich wollte lieber glauben, dass ich zu viele Krimis geguckt hatte, als die Tatsachen zu sehen. Bei mir wurde eingebrochen. Nur warum?
Niemand antwortete.
Gruselig.
»Hallo?«, wiederholte ich, ohne das Licht einzuschalten. Aus welchen Gründen auch immer.
Wieder keine Antwort.
In diesem Augenblick huschte mir endlich der Gedanke durch den Kopf, dass der Verbrecher vielleicht noch im Haus sein konnte. Das würde bedeuten, dass wir uns möglicherweise in Gefahr befanden, zumal ich denjenigen gerade alarmiert hatte. Sofort machte ich kehrt. Ungeachtet dessen, dass die Reisetaschen noch vor der Tür standen, nahm ich die Hand meines Sohnes und rannte mit ihm auf den verschreckt blickenden Taxifahrer zu.
»Rufen Sie bitte die 110«, schrie ich aufgeregt. »Es ist ein Einbruch!«
Der Taxifahrer wählte die Nummer und übergab mir geistesabwesend den Hörer.
»Polizeinotruf«, hörte ich eine angenehme weibliche Stimme.
»Bei mir wurde eingebrochen. Wir kommen gerade aus dem Urlaub«, entgegnete ich schrill. Jeder Versuch, mich zu beherrschen, scheiterte angesichts der Tatsache, dass meine Haustür, die ich aufgeregt von weitem anstarrte, jetzt sperrangelweit offenstand. Ich hörte das rhythmische Klicken der Tastatur im Hörer.
»Wo ist es passiert? Wo ... «
In gebrochenen Sätzen gab ich meine Adresse durch. Als mich die Telefonistin nach der Tatzeit und verletzten Personen gefragt hatte, ging mir durch den Kopf, dass Bärbel sicherlich gestern im Haus gewesen war, um nachzuschauen. Vielleicht sogar heute? Was war, wenn sie womöglich tot in meinem Haus lag?
»Gibt es Verletzte?«, wiederholte die weibliche Stimme, als hätte sie meine Gedanken gehört.
»Ich weiß es nicht.« Meine Stimme wurde hysterisch. »Wir sind doch gerade aus dem Urlaub gekommen.« Meine Panik steigerte sich ins Unermessliche. »Meine Freundin sollte sich um mein Haus kümmern. Ob ihr etwas passiert ist, kann ich nicht sagen. Ich bin nicht im Haus gewesen. Oh mein Gott, was, wenn sie tot drin liegt?« Ich schluchzte, während mich mein Sohn umarmte.
»In Ordnung«, entgegnete die weibliche Stimme beschwichtigend. »Die Nummer, die bei mir angezeigt wird ... Ist das Ihre Nummer?«
Ich verneinte. »Sie gehört dem Taxifahrer, der uns nach Hause gefahren hat. Er steht neben mir.«
»Bewegen Sie sich dort bitte nicht weg. Die Polizei wurde alarmiert. Gleich ist jemand bei Ihnen vor Ort.« Als ich daraufhin aufgelegt hatte, bat ich den Taxifahrer, mit uns auf die Polizei zu warten. Er brummte unzufrieden, dass ihm keiner die Zeit bezahlen würde. Dennoch blieb er stehen.
Mit zitternden Händen griff ich nach meiner Handtasche, die so geschultert war, dass es mehr Mühe machte, sie abzulegen als sie ständig am Körper zu behalten. Heute weiß ich nicht mehr, wie lange ich gebraucht hatte, Bärbels Nummer zu wählen. Damals kam es mir wie eine Ewigkeit vor.
»Hallo?« Ihre Stimme klang verschlafen.
»Ich bin's«, entgegnete ich und fühlte mich unendlich dankbar, die Stimme meiner Freundin zu hören. »Geht es dir gut?«
»Klar.« Sie verstand offenbar nicht, worauf ich hinauswollte. »Ihr seid erst jetzt gelandet?«
»Wir sind schon Zuhause«, informierte ich sie. »Bei mir wurde eingebrochen!«, platzte es aus mir heraus.
»Was ist passiert?«, fragte Bärbel ungläubig.
»Eingebrochen. Heute.«
»Du machst Witze!« Meine Freundin konnte nicht fassen, was sie soeben zu hören bekam. »Ich bat heute Thomas, vorbeizufahren, bevor er sich mit den Jungs auf ein Bier trifft. Er rief sogar von dir aus an, dass alles in Ordnung wäre.«
»Wann war das?«, fragte ich panisch.
»Gegen sieben«, entgegnete sie. »Dann ist er zu seinem Treffen gefahren ... Denke ich.«
»Warum 'denke ich'?« Ich ahnte, was die Antwort auf diese Frage sein würde. Mir war übel.
»Wir haben seitdem nicht mehr telefoniert«, bestätigte sie meine schlimmsten Befürchtungen. »Wenn er weggeht, nimmt er nie sein Handy mit.« Dann schien sie endlich meine Sorge verstanden zu haben. »Oh mein Gott, du warst noch nicht drin?«
Ich fühlte mich wie gelähmt – unfähig, eine Antwort zu geben.
»Ich bin gleich bei dir«, sagte sie und legte auf, während ein schwarzer Kombi neben meinem Haus zum Stehen kam.
»Frau Hoffmann?«, fragte einer der Männer. Als ich bestätigte, stiegen sie aus. »Kriminalhauptkommissar Wagner«, sagte er und reichte mir die Hand. »Zufällig waren wir zum Einsatz in der Nähe.«
Kurz darauf erschienen ein weiterer Polizei- und ein Rettungseinsatzwagen. Die Männer sprangen aus den Fahrzeugen und stellten sich mit erhobenen Waffen hinter unterschiedliche Hindernisse um das Haus herum. Einer von ihnen lief um die Reihenhäuser herum. Als alle ihre Position besetzt hatten, nickte einer der Polizisten, und einige Beamte gingen hinein, während sich draußen die ersten neugierigen Nachbarn vor dem Haus versammelten.
»Gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen«, befahl einer der Streifenpolizisten, der weitläufig den Eingangsbereich zu meinem Haus abgeschottet hatte.
»Alles in Ordnung«, hörte ich jemanden aus dem Haus rufen. Kurz danach erschien einer der Männer in der Tür, unterhielt sich kurz mit dem Streifenpolizisten, worauf er und sein Partner im Streifenwagen verschwanden.
Weitere fünf Minuten später sah ich, wie die Einsatzwagen zum Rückzug starteten, während einer der Zivilpolizisten auf mich zukam.
»Es scheint tatsächlich ein Einbruch gewesen zu sein«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Wir kommen von der Kripo und würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Also ist niemand tot?«, fragte ich und kam mir wahnsinnig bescheuert dabei vor.
»Sollte jemand tot sein?« Die Stimme des Kripo-Beamten war fern aller Ironie.
»Nein, natürlich nicht«, klärte ich auf. »Wir kommen gerade aus dem Urlaub. Als wir nicht da waren, passte meine Freundin auf die Wohnung auf. Gegen sieben soll ihr Mann heute im Haus gewesen sein. Da meine Freundin danach keinen Kontakt mehr zu ihm hatte, hätte es sein können, dass er den Einbrecher überrascht hat. Und dass dieser Typ Thomas etwas angetan hätte.«
»Ich kann Sie beruhigen«, entgegnete der Kriminalhauptkommissar. »Die Wohnung sieht nur
nach einem Einbruch aus. Ist das Ihr Sohn?« Er zeigte in Bens Richtung. Mein Sohn stand neben mir wie versteinert. Ob er Angst hatte, konnte ich an seinem Blick nicht erkennen. Er schaute ehrfürchtig in Richtung des Eingangs, wo einer der Männer in Zivil schwarzes Pulver auf der Tür verteilte, um Fingerabdrücke zu finden.
»Ja«, erwiderte ich.
»Einer der Kollegen kümmert sich um Ihren Jungen«, informierte er mich. »Währenddessen folgen Sie mir bitte ins Haus!«
Ich leistete keinen Widerstand.
Im Inneren sah es wirklich schlimm aus. Sämtliche Schubladen waren ausgeräumt und der Inhalt auf dem Boden verstreut.
»Könnten Sie bitte einen Blick auf Ihre Sachen werfen? Fällt Ihnen spontan ein, ob etwas fehlt? Uns geht es in erster Linie um Wertsachen.«
Mein Blick streifte über meine zahlreichen Schuhe im Flur, die nun zerstreut waren. Habe ich tatsächlich so viele Schuhe?
, fragte ich mich, und die Frage erschien mir zugleich absurd. Ob ein paar fehlten, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bemerkte ich, dass hin und wieder einige der Gegenstände mit schwarzem Pulver überzogen waren. Die Kripo war bereits im Hausinneren auf der Suche nach verwertbaren Fingerabdrücken. Ich ließ meinen Blick schweifen.
»Ein Bild fehlt«, stellte ich fest.
»Was für ein Bild?«, fragte mich der Beamte.
»Eins, auf dem ich drauf war«, erwiderte ich. »Auf einem Pferd, nichts Besonderes.«
»Okay«, nickte er. »Was noch?«
»Hm«, überlegte ich. »Eine Decke von der Couch, insofern sie nicht unter dem Inhalt der Schubladen liegt. Und mein Laptop. Der lag auf dem Tisch, bevor wir verreist sind.«
»Wie alt war Ihr Laptop?«, fragte Wagner.
»Uralt«, erwiderte ich. »Viel wert wird er nicht gewesen sein ...«
»Folgen Sie mir bitte nach oben«, klang weniger nach einer Bitte als nach einem Befehl.
Mein Herz zog sich zusammen, als ich sah, wie verwüstet das Schlafzimmer aussah. Meine Unterwäsche lag zerstreut auf dem Boden. Nicht mal beim Umzug hatte es jemals so unordentlich bei mir ausgesehen. Irgendjemand hat in meiner Wäsche herumgewühlt. Er hat meine Slips in die Hand genommen, meine Bilder gesehen. Die Bilder auch berührt,
meldete sich meine innere Stimme.
Es widerte mich an.
»Ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt. Aber es ist notwendig, um den oder die Täter zu schnappen. Im Moment haben wir mit einer großen Einbruchswelle zu kämpfen. Wenn wir Ihren Fall mit einem weiteren in Verbindung bringen könnten, würde es uns weiterhelfen. Fehlt hier etwas Wertvolles?«
Ich verneinte mit einem Kopfschütteln. »Ich glaube nicht.« In dem Augenblick fiel mein Blick auf meine Ketten, die auf einem kleinen Haken neben meinem Nachttisch hingen. Es waren viele, deshalb konnte ich nicht genau sagen, ob noch eine fehlte. Was ich aber sagen konnte, war, dass sie keinen großen materiellen Wert hatten. Außer das Medaillon meiner Mutter. Es war aus Silber und recht alt. Doch sein materieller Wert war kleiner als das, was es mir persönlich bedeutete. Meine Brust schnürte sich zusammen. Das war das Einzige, was mir von meiner Mutter als Erinnerung übriggeblieben war.
»Es fehlt nur ein kleines Herzmedaillon an einer silbernen Kette«, stellte ich zutiefst betroffen fest. »Dafür kriegt der Einbrecher vermutlich deutlich weniger Geld als für alle meine anderen Ketten. Weil mir die Kette so wertvoll ist, lasse ich sie immer Zuhause. Und nun muss ich erfahren, dass genau das ein Fehler war?«
»Nicht nur die Ketten wurden nicht angerührt«, erklärte mir der Kripo-Beamte mit ruhiger Stimme. »Er ließ den Fernseher stehen. Unten lag sogar ein Zwanziger, den der Einbrecher nicht angerührt hat. Dafür aber eine Decke? Das ist seltsam. Deshalb brauchen wir Ihre Hilfe. Ich habe noch nie gehört, dass ein Täter eine Decke gestohlen, aber den Fernseher stehengelassen hätte. Wozu? Um die Beute zu verstecken? Aber die Beute scheint bisher nicht groß genug gewesen zu sein. Ein alter Laptop? Während Schmuck unberührt bleibt? Das ist kein klassischer Diebstahl, wie wir ihn kennen.«
»Warum?«, wunderte ich mich. »Warum hat er die Schubladen ausgeleert, wenn so gut wie gar nichts fehlt?«
»Genau diese Frage stelle ich mir auch«, bestätigte mich der Ermittler. »Normalerweise durchsuchen die Täter die Schubladen auf der Suche nach Diebesgut. Hier sieht es mehr nach Vandalismus als nach Einbruch aus. Beschreiben Sie mir bitte die Kette, die fehlt.«
»Eigentlich war sie nichts Besonderes.« Tränen schossen mir in die Augen. »Nichts Besonderes für einen Fremden. Es war das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist. Eine silberne, feine Kette mit einem Medaillon als Anhänger, das man öffnen konnte. Innen war ein kleines vergilbtes Bild mit dem Gesicht meiner Mutter zu sehen. Sie trug es immer bei sich, soweit ich mich erinnern kann. Es war ein Geschenk meiner Großmutter zum 18. Geburtstag. Als sie starb, bekam ich das Medaillon, damit ich mich immer an sie erinnern kann. Nun ist es weg.« Es zerriss mich innerlich.
»Es wäre ganz gut«, sagte er leise, »wenn Sie ein Bild davon bei der morgendlichen Vernehmung anfertigen lassen könnten. Falls es jemand zum Pfandleiher bringen sollte. Das Gleiche gilt für das Bild mit dem Pferd, welches fehlt. Und möglicherweise für den Laptop. Wer wusste Bescheid, was Ihnen diese Dinge bedeuteten, die entwendet wurden? Sie scheinen nur einen persönlichen Wert zu haben.«
»Klar«, bestätigte ich. »Mein Ex-Ehemann, ein paar Freunde, praktisch jeder, der mich kannte. Das Medaillon war für mich so wertvoll, dass es direkt über meinem Bett hing. Jeder, der mein Schlafzimmer betrat, konnte es sofort sehen. Und natürlich, dass es etwas Besonderes war. Meine Freunde kennen sogar seine Vorgeschichte.«
»Okay«, erwiderte der Ermittler. »Vergessen Sie bitte nicht, diese Details bei der Vernehmung zu erwähnen. Das Medaillon könnte uns helfen, den Täter zu ermitteln. Wollen wir uns noch die restlichen Räume anschauen? Die Küche habe ich mir mit Absicht zum Schluss aufgespart.«
Selbst den Dachboden hatten wir durchgesehen. Aber erst im Badezimmer fiel mir etwas auf. »Der Wäschekorb ist leer«, stellte ich fest. »Meine gesamte Schmutzwäsche fehlt.« Bereits der Gedanke daran bereitete mir Ekel. »Und meine Bürste ist ebenfalls weg. Und die Schminke, die ich ersatzweise Zuhause hatte. Alles weg!«
»Was ist mit den Ringen?« Der Ermittler zeigte zu der Stelle, wo immer ein paar Schmucksachen lagen, die ich zwischendurch auch mal gerne trug.
»Soweit ich sehen kann, sind alle da«, stellte ich fest. »Wer klaut eine alte Bürste? Oder dreckige Unterwäsche? Was ist das für ein Perverser?«
»Kommen Sie bitte mit in die Küche«, bat mich der Kriminalhauptkommissar. »Was fällt Ihnen hier auf?« Mein Blick wanderte zwischen der Uhr, die kurz nach eins zeigte, dem kaputten Geschirr, das auf dem Küchenboden lag, bis zu einer Vase, in der ein Rosenbund steckte. Schon vom weitem ahnte ich, welche Sorte es war: 'Lady Hillingdon', Teerosen.
»Oh mein Gott, das ist der Stalker!«, rief ich entsetzt.
»Wären Sie bereit, mich jetzt noch zur Dienststelle zu begleiten, während sich die Kollegen um die Spurensicherung kümmern? Ich möchte die gesamte Geschichte hören.«
»Jetzt nicht, bitte. Erst wenn ich meinen Sohn zum Zug zu seinem Vater nach Wiesbaden begleitet habe. Er hat schon genug mitgemacht. Außerdem brauchen wir beide etwas Schlaf. Ich bin gerade vollkommen fertig. Und Ben wird Ihnen in diesem Fall keine große Hilfe sein, fürchte ich.«
Im gleichen Augenblick hörte ich Bärbel vor dem Haus streiten. »Lassen Sie mich durch! Meine Freundin ist noch drin!« Trotz vehementen Widerstandes der Beamten, die mittlerweile den Haus-Eingang vollständig blockierten, ließ sie nicht locker.
»Das ist meine Freundin«, erklärte ich Wagner. »Sie wird nicht gehen. Und sie kennt meine Wohnung sehr gut. Vielleicht kann sie uns noch unterstützen. Immerhin hat sie während meiner Abwesenheit auf das Haus aufgepasst. Vielleicht ist ihr etwas aufgefallen?«, versuchte ich den Kriminalhauptkommissar zu ködern. Insgeheim hatte ich nur das Gefühl, ich bräuchte meine Freundin. Als Rückenstärkung. Es gelang mir.
»Durchlassen!« Wagener nickte einem Polizisten zu, der sofort dem Befehl seines Vorgesetzten folgte.
Bärbel eilte hinein und drückte mich an sich, so fest sie konnte. »Was ist hier passiert?«
»Eingebrochen ...«, stellte ich trocken fest, als würde es mich nicht betreffen.
»Seid Ihr okay? Wo ist Ben?«, erkundigte sich meine Freundin voller Panik.
»Ben Hoffmann befindet sich in Obhut eines Beamten vor dem Haus«, mischte sich Wagner ungebeten in unser Gespräch ein. »Ich hätte ein paar Fragen an Sie. Noch besser, Sie kommen zusammen auf die Dienststelle. Vorab dennoch: Wann waren Sie das letzte Mal im Haus?«
»Mein Mann war heute gegen sieben Uhr hier«, erwiderte Bärbel. »Er kümmert sich vorwiegend darum, wenn Juli verreist. Wir haben vorhin sogar kurz telefoniert. Es schien alles in bester Ordnung zu sein.«
»Dann würde ich auch gerne mit Ihrem Mann sprechen, wenn sich das einrichten lässt.« Die Stimme des Kriminalhauptkommissars klang nicht wie eine Bitte.
»Ich auch«, entfuhr es Bärbel. In ihren Augen spiegelte sich Angst wider. »Denn seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.«