Kapitel 21
Etwa anderthalb Stunden später saßen wir beide in Bärbels hell eingerichteter Küche - an einem von Butterfingerabdrücken übersäten Tisch. Vor uns ein dampfender Jasmintee. Mitten im Raum lag noch Bens halbgeöffneter Koffer, aus dem ich zuvor seinen dreckigen Pyjama rausgefischt hatte, ohne den Rest ordentlich wieder hineinzustopfen.
Abzuwarten und Tee zu trinken war das Einzige, was uns momentan übrigblieb. Während Bärbel zusehends panischer wurde, überlegte sie verzweifelt, mit welchen Freunden sich Thomas treffen wollte. Und wie sie deren Handynummern erfahren könnte, um nach dem Verbleib ihres Mannes zu fragen.
»Und ausgerechnet jetzt habe ich seine gottverfluchte PIN vergessen!« Sie donnerte so heftig mit der Faust auf die Arbeitsfläche, dass das Geschirr klirrte. Das stimmte nur bedingt. Soweit ich wusste, konnte sich Bärbel kaum Nummern merken. Das wäre aber die Voraussetzung für das Vergessen. Aber ich berichtigte sie nicht. »Warum nimmt er nie das Handy mit? Ich würde doch NIEMALS einfach so bei ihm anrufen, wenn es nicht absolut lebensnotwendig wäre! Wozu gibt es denn Handys, wenn nicht für einen solchen Fall?«
Für eine Weile herrschte bedrückende Stille zwischen uns. Ich wusste einfach nicht, was ich ihr daraufhin sagen könnte. Nur das monotone Summen des Kühlschranks war zu hören. Für das Leid dieser wunderbaren Familie fühlte ich mich verantwortlich.
Ich bin schuld.
Dieser Gedanke brannte sich in meinen Kopf wie glühendes Eisen in Wachs. Unerträglich. »Danke«, unterbrach ich die Stille. »Du hast für mich deine Kinder allein Zuhause gelassen. Und uns dein Haus zum Übernachten angeboten. All das mitten in der Nacht. Und nun ist dein Mann nicht da! Alles meinetwegen!« Traurigkeit stieg mit so viel Wucht in mir auf, dass ich drohte, darunter zu ersticken. Bärbels Blick wirkte leer. Als würde sie durch mich hindurchschauen, ohne mich wahrzunehmen.
Im Gegensatz zu uns schlief mein Sohn bereits auf einer Couch im Arbeitszimmer. Dadurch konnte ich meiner Gemütslage endlich freien Lauf lassen. Mit einem Schlag war die Erholung vergangen. Ich fühlte mich, als hätte die Reise nach Gran Canaria nie stattgefunden. Bärbel war weiß Gott nicht die einzige Person im Raum, die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihr Mann gesund nach Hause käme.
»Juli«, entgegnete Bärbel. Ich konnte sehen, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Hättest du für eine Minute gezögert, mir zu helfen, wenn ich an deiner Stelle wäre?«
»Nicht eine Sekunde.«, bestätigte ich, ohne zu zögern. Sie hatte recht.
»Siehst du?«, griff sie meine Antwort auf. »Na also!«
Wieder Stille.
»Bärbel«, ich zögerte. »Er wird nach Hause kommen.« Wie kann ich mir sicher sein?
Egal wie stark meine Furcht gerade war - ihre war deutlich stärker. Und ich konnte sie nicht mildern.
»Natürlich«, stellte sie kraftlos fest. »Er ist ja mit Jens unterwegs. Nur den erreiche ich nicht.«
Wie lange wir beide uns danach anschwiegen, vermochte ich nicht zu sagen. Irgendwann starrten wir auf den Tee, als würden wir in dem gelb-grünlich gefärbten Wasser die Antwort auf das finden, was vorgefallen war. Und wir versuchten, eine Minute nach der anderen zu verdrängen.
Ein seltsames Geräusch weckte mich aus dem Dämmerzustand. Wie das Öffnen einer Tür. Offensichtlich war ich mit dem Kopf zwischen meinen eingeknickten Händen eingeschlafen. Bärbel schlief ebenfalls mit dem Kopf an der Wand. Der Schlaf, den wir uns nicht gönnen wollten, hatte uns doch noch eingeholt.
Mit einem Mal erwachten vor meinem geistigen Auge die schrecklichen Bilder meines verwüsteten Hauses zum Leben, und ich erschrak bei dem Gedanken, dass mir der Täter womöglich gefolgt war. Aber ehe ich mich bewegen konnte, war die Person bereits in der Küche erschienen.
»Was ist das hier?«, fragte Thomas, teils erstaunt, mich zu sehen, teils amüsiert. Dass er ein wenig alkoholisiert war, konnte man heraushören. »Eine kleine Pyjama-Party? Darf ich mitmachen?« Er kicherte wie ein Schuljunge. »Oh, ihr habt ja gar keine Pyjamas an!« Mein Blick fiel auf die Uhr. Mittlerweile war es drei Uhr nachts. Es war schon lange her, dass ich mich so erleichtert fühlte, von jemandem mitten in der Nacht geweckt zu werden.
Die Stimme ihres Mannes riss auch Bärbel aus dem Schlaf. Ich registrierte mit etwas Wehmut, wie liebevoll sich Thomas seiner Ehefrau näherte. Derart vertraute Nähe zwischen zwei Menschen fehlte mir schon lange. Wie im Kaleidoskop änderte sich die Mimik in Bärbels Gesicht, als sie endlich begriff, dass unsere Befürchtungen vollkommen unbegründet gewesen waren. Von anfänglich geistig abwesend über glücklich oder dankbar zu verärgert. Dann zu erleichtert.
»Du hast uns so viel Angst eingejagt!«, beschwerte sie sich klagend und stieß ihn gespielt mit der Hand von sich weg, um ihn gleich danach mit aller Kraft an sich zu ziehen. »Warum nimmst du auch nie dein Handy mit?«
»Hä?« Thomas verstand nichts. Nun war er derjenige, der perplex erschien. Ganz offensichtlich hatte er überhaupt keine Ahnung, was in seiner Abwesenheit passiert war. »Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich mit den Jungs auf ein Bier gehe«, versuchte er sich zu rechtfertigen.
Bärbel klärte ihn detailliert darüber auf, was sich ereignet hatte. Bei dem hastigen Monolog meiner Freundin hörte ich ausnahmsweise nur zu, ohne selbst ein Wort zu sagen. Auch als sie mit Entsetzen vom Einbruch in meinem Haus erzählte. Und natürlich davon, was genau gestohlen worden war.
»Verdammt«, fluchte er. Wenn ich ihn gerade noch leicht angetrunken wahrgenommen hatte, so war diese Wirkung wieder verflogen. »Was machen wir jetzt?«
Dafür, dass Thomas die Situation als unser Problem
ansah, war ich dankbar. Es fühlte sich gut an, die beiden an meiner Seite zu haben. Dennoch durfte ich sie mit meinen Schwierigkeiten nicht belasten. Sie hatten auch ohne mein Zutun genug um die Ohren. Das Wissen, notfalls auf sie zählen zu können, musste reichen.
»Wir machen nichts«, entgegnete ich entschieden. »Ihr werdet euch darum kümmern, dass es euren Mädels gutgeht. Leider kann ich es nicht abwenden, dass wir morgen ...«, ich schaute auf die Uhr an meinem Handgelenk, »... pardon, heute ... eine Aussage auf dem Revier werden machen müssen. Das tut mir leid. Aber danach geht für uns das Leben weiter. Nachdem ich also Ben in den Zug gesetzt habe, werde ich zur Polizeidienststelle gehen«, nahm ich mir vor. »Und Zuhause werde ich dafür sorgen, dass es wieder sicher und aufgeräumt ist. Von sowas lasse ich mich nicht abschrecken! Garantiert nicht!« Die Müdigkeit überkam mich wieder. »Wir sollten uns hinlegen. Sehr viel Zeit bleibt uns nicht, bis uns der neue Tag wieder in den Fängen hat.«
»Was ist mit der Eingangstür zu deinem Haus? Ist sie wieder abgeschlossen?«, fragte Thomas geistesgegenwärtig.
»Ja, provisorisch«, klärte ich ihn auf. »Ich werde mich nachher drum kümmern.«