Kapitel 30
Die morgendlichen Sonnenstrahlen erreichten bereits vor ihrer Aufwachzeit das penibel aufgeräumte Wohnzimmer in der nahe gelegenen Distelstraße. Die Mieterin des kleinen, modern eingerichteten Domizils hatte heute keine Eile. Im Gegenteil. Heute wollte Astrid Schneider sich etwas zurückholen, worauf sie so lange gewartet hatte. Auf dieses Treffen arbeitete sie seit Jahren hin. Diesmal würde sie es nicht vermasseln.
Zum ersten Mal heute schlich sie sich in das neu eingerichtete Babyzimmer. Sie hatte sich viel Mühe gegeben, es dem Baby traumhaft schön zu machen. Zumal sie nicht sicher war, was es werden würde. Natürlich hätte sie sich am meisten über ein kleines Mädchen gefreut, doch sie würde zur Not auch mit einem Jungen klarkommen. So, wie der Bauch aussah, würde es nicht mehr lange dauern, bis das Baby auf der Welt war.
Die gelbe Farbe der Wände erschien besonders schön, wenn die Sonnenstrahlen sie erreichten. Das Zimmer erstrahlte dann in den wärmsten Tönen, was Astrids nach Liebe ausgehungertes Herz zusätzlich befeuerte. Sie glaubte kaum, dass es jemanden gab, der sich mehr als sie selbst auf das Baby freute. Nicht mal seine leibliche Mutter.
Dabei war ihre Liebe zum Baby nicht von Anfang an vorhanden. Eigentlich wollte sie vor zwei Jahren Julia Hoffmann nur zeigen, dass sie jemanden wie ihre treu ergebene Freundin Astrid brauchen würde, als sie die Katzenkadaver in ihre Mülltonne warf. Astrids malte sich Wochen zuvor in bunten Farben aus, wie ihre Freundin sie angsterfüllt vor dem Stalker anrief, um sich bei ihr auszuweinen. Und wie Astrid ihr die schützende Schulter anbieten würde. Doch als Julias Beziehung zu ihrem Mieter, Philippe Pienaar, immer enger wurde, sah Astrid ein, dass sie es diesmal vermasselt hatte. Sie musste es irgendwie anders anstellen. Diesmal ohne Fehler.
So beschattete sie in ihrer freien Zeit ihre Freundin, um den richtigen Augenblick zu erwischen, Julia wieder für sich zu gewinnen. Manchmal pirschte sie sich hinter den parkenden Autos an und beobachtete, wie die beiden lachend Hand in Hand nach Hause schlenderten. In solchen Momenten fühlte sie unbändige Wut oder vielmehr Enttäuschung in sich aufsteigen. In diesen Momenten hasste sie Julia. Und erst recht Philippe, den Grund dafür, dass ihr Leben gerade so mies verlief.
Schließlich war er schuld! Er hatte ihr alles genommen.
Es gab nichts, was Astrid nicht für ihre Freundin getan hätte. Selbst ihrem Kater Leo hatte sie nur für Julia das Genick gebrochen, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Freundin eine Katzenallergie hatte. War das nicht selbstlos von Astrid? Dabei war Leo ein netter Kater. Man konnte sogar sagen, dass Astrid ihn irgendwie mochte. War sein Ableben nicht der beste Beweis für eine wunderbare Freundschaft?
»Und was ist der Dank dafür?«, fragte Astrid flüsternd, als wäre sie nicht allein in ihrer Wohnung. »Julia hat mich wie Dreck unter den Fingernägeln weggeworfen! Aber eines ist klar: Julia tat es nicht deshalb, weil sie ein böser Mensch ist. Nein, sie ließ die Freundschaft sausen, weil ihr jeder eine so tolle Freundin neidete. Und mich deshalb schlechtredete. Diese Bärbel ist wahrlich die schlimmste von allen! Bärbel will Julia nur für sich allein, daher verbreitet sie solange Lügen, bis Julia daran glaubt! So eine blöde Kuh!« Schon damals schwor sich Astrid, als sie die Katzenkadaver in Julias Müll abgelegt hatte: Wenn es nur eine winzige Gelegenheit gab, ihre Freundin für sich zu gewinnen, würde sie ihr endlich zeigen, wieviel Gutes noch in ihr steckte.
Und alles würde perfekt sein!
Selbst Philippe konnte sie irgendwann loswerden. Wenn man seine Profile im Social Media
verfolgte, war klar, dass er sehr viel Interesse an hübschen Frauen hatte. Über kurz oder lang würde Astrid ihn dazu bringen können, sich mit einer fremden Frau hinter Julias Rücken zu treffen. Sei es nur als Kundin. Ein paar kompromittierende Bilder, und sie hätte Julia ganz für sich.
Aber nach Silvester kam es noch schlimmer.
Natürlich musste sie sich den widerlichen Köter kaufen
, schimpfte Astrid in Gedanken. Damit wurde es schwieriger, Julia zu überwachen, ohne dass der Hund gleich Alarm schlug. Vorbei war die Zeit, dass sich Astrid unbemerkt in Julias Garten anpirschen konnte, um sie zu beobachten. Oder vielmehr an ihrem Leben teilzunehmen, was ihr aus ihrer Sicht rechtmäßig zustand. Oder sich an manch einem Abend in sicherer Entfernung so zu setzen, dass sie nicht verpassen konnte, wenn ihre Freundin hinausging. Wenn sie wüsste, was ich für sie tue, würde sie verstehen, dass ich ihre einzige wahre Freundin bin,
dachte sie in solchen Momenten. Astrid fühlte sich unverstanden. Und der Köter verschlimmerte alles noch. Wenn sie sich nur auf Sichtweite dem Haus näherte, bellte er sofort los. Dann blieb ihr nicht viel mehr übrig, als von weitem Notizen zum Verhalten ihrer Freundin zu machen.
Aber: Einen Vorteil schien der Hund doch zu haben. Julias Alltag nahm Struktur an, weil regelmäßige Gassi-Runden von nun an auf dem Plan standen. Damit konnte Astrid ihrer Freundin näher als zuvor sein. Sie konnte sehen, wie sie sich kleidete, wann sie lachte oder wann sie sich ärgerte. Auf manchen Spaziergängen an kühleren Tagen zog Astrid ihre Kapuze hoch, um unbemerkt zu bleiben. Dann konnte sie Julia sogar so nah sein, dass sie ihr Parfüm wahrnahm. Besonders, wenn diese in Gedanken versunken zu sein schien. Das war fast wie früher, als sie noch zusammen waren.
Was für eine Überraschung für Astrid, als Julias makellose Figur über den Sommer plötzlich unerwartete Rundungen bekam. Zunächst dachte Astrid, ihrer Freundin ginge es in der Beziehung viel zu gut. Sie kannte das schon aus dem Bekanntenkreis. Paare nahmen, aus welchem Grund auch immer, in einer glücklichen Beziehung gemeinsam zu. Astrid war dies noch nie passiert. Aber niemand wollte eine lange Beziehung mit ihr, dass sie die Chance gehabt hätte, zuzunehmen. Erst nach und nach verstand Astrid den wahren Grund, warum der Bauch ihrer bisher extrem eitlen Freundin größer wurde. Irgendwann lag es auf der Hand.
Julia erwartete ein Baby.
Nach Philippe und dem Köter noch ein Wesen, das sie weiter voneinander entfernen würde. Gegen ein Baby hatte sie ganz klar keine Chancen! Sie hasste es und wünschte sich, dass es verschwand.
Aber es passierte leider nicht! Im Gegenteil. Der Bauch wuchs mit Astrids Leidensdruck, endlich etwas tun zu müssen. Mit ihren dreiundvierzig Jahren ist Julia doch viel zu alt für ein Baby! Selbst ich mit meinen vierzig wäre schon zu alt. Was sollen die Leute denken?
, überlegte sie verärgert zum erneuten Mal. Diese Gedanken beherrschten ihren Alltag, seit sie von der Schwangerschaft erfahren hatte. Und all die Hoffnungen, dass noch etwas schiefgehen könnte, schienen wie Seifenblasen in der Luft zu zerplatzen.
Bis sie aus Versehen an einem Freitagnachmittag eine Reportage über zwei lesbische Mütter sah, die sich liebevoll um eine gemeinsame Tochter kümmerten. Und urplötzlich war der Gedanke da, dass sie für das Baby vielleicht auch eine zweite Mutter werden könnte. Philippe würde sie schon loswerden.
Nicht dass Astrid an einer Beziehung mit Julia in erotischer Hinsicht interessiert wäre. Diese Erfahrung war ihr fremd. Aber bisher landete sie nur mit den miesesten Männern im Bett. Meist verheiratet und kaum an etwas mehr als einer Nacht mit ihr interessiert. Selbst wenn sich daraus eine Beziehung entwickeln konnte, hielt sie nicht mehr als ein halbes Jahr und glich eher einem wiederholten One-Night-Stand. Astrid bevorzugte tatsächlich verheiratete Männer. Nicht nur, dass sie weniger wählerisch waren, was die Wahl der Affäre betraf. Schließlich sollte es nur ein prickelndes Abenteuer bleiben, nichts für die Ewigkeit. Mit der Zeit lernte Astrid sogar ihre Erwartungen etwas zurückzuschrauben. Die Männer dazu zu bringen, heiß auf sie zu sein, brachte ihr mehr Freude als der Sex an sich. Denn sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Fremdgänger deshalb zu solchen wurden, weil zu Hause im Bett etwas nicht stimmte. Und dass es nicht stimmte, war nicht allein die Schuld der Ehefrauen. Wenn sie sich mal die Zeit nahm, zuzuhören, stellte sich oft das gleiche heraus: Die Männer, die in ihrem Bett landeten, wussten nicht, wie man Frauen auf eine Art behandelte, dass ihre Lust auf Sex mit der Zeit nicht einschlief. Das reine Rein-und-Raus-Spiel behielt seinen Charme nur für kurze Dauer. Meistens nur solange, wie das erste Begehren anhielt - nichts, was auch noch beim vierten Mal genauso toll wie beim ersten war. Nur, die Kerle lernten nicht dazu. Anstatt sich mehr Mühe zu machen, der Frau das Gefühl zu geben, begehrt zu sein, behielten sie lieber ihr Rein-und-Raus-Spiel bei. Kein Wunder, dass die Ehefrauen irgendwann frustriert und der Sex weniger wurden. Doch statt an der eigenen egoistischen Sichtweise zu arbeiten, widmeten sich die Kerle lieber anderen Frauen, die zumindest für einen kurzen Moment ihre Bedürfnisse erfüllten. Denn auch für längere Affären war das Rein-und-Raus irgendwann zu langweilig.
Verheiratete Männer hatten für Astrid noch einen sehr entscheidenden Vorteil. Wenn sie verlassen wurde, hatte sie sofort eine Erklärung parat, warum nichts aus der Beziehung geworden war, die ihrer Überzeugung nach absolut nichts mit ihrer eigenen Persönlichkeit zu tun hatte. Nicht Astrid war das Problem, warum es nicht funktionierte. Schuld waren die Kerle, die ihre Gattinnen nicht verlassen wollten! Mit Julia verband sie dagegen ein unsichtbares Band, das sie deutlich spürte. Astrid wusste, dass jeder Versuch, diese zarte Freundschaft zu etwas Erotischem zu verwandeln, sie unwiderruflich zerstören würde. Das konnte sie nie zulassen.
Doch dann sah sie die Reportage und bekam eine Vision, wie es funktionieren könnte, dass sie das Baby gemeinsam mit Juli aufzog. Vor dem inneren Auge sah sie, wie sie es gemeinsam wickelten oder badeten. Nun begann Astrids Leben einen tieferen Sinn zu haben. Das einzige war, Julia davon zu überzeugen, dass sie ihre beste Freundin wieder in ihr Leben hineinließ.
Es dauerte lange, einen Plan zu schmieden, doch Astrid kannte die größte Schwäche der Professorin. Es war ihr Mitgefühl, das sie in die Arme von Astrid zurücktreiben würde. Nur dazu brauchte es eine günstige Gelegenheit.
Und natürlich eine schöne Bleibe für das Baby. Daher beschloss sie als allererstes, ein traumhaftes Kinderzimmer in ihrem Haus zu errichten. Danach sollte der zweite, wichtige Schritt folgen, wenn die Zeit gekommen war. Und heute würde sie die Chance bekommen. Das spürte sie.
Astrid ging ins Wohnzimmer und nahm ein kleines, aber hartes Kissen in die Hand, das sie unter ihrem T-Shirt mit mehreren Mullbinden so befestigte, dass es eine kompakte, runde Form ergab. Dann ließ sie das T-Shirt herunterfallen und schaute zufrieden über das Ergebnis in den Spiegel. Ihr Oberteil wirkte ganz und gar nicht feminin. Aber das war gut so! Für eine werdende Mami sogar traumhaft. Ohne zu lügen konnte sie endlich die Welt täuschen, wie es ihr beliebte. Die Aufschrift: »Ich bin schwanger. Die Hormone sind schuld!«
und der rundliche Bauch machten die Täuschung so perfekt, dass selbst ihre Kolleginnen in der Arbeit ihr die werdende Mutterschaft abnehmen würden.
Plötzlich unterbrach ein Ton für eine angekommene Textmessage ihre Gedanken. »Es läuft.« Das bedeutete, dass Armin Haas, der Freund ihres Vaters und pensionierter Kripobeamte, endlich den Peilsender an Julias Wagen angebracht hatte. Es konnte also losgehen!
Es war nicht sonderlich schwer, dem alten, vom Alltag gelangweilten Mann eine erlogene Geschichte aufzutischen. Als sie ihn etwa vor einer Woche besuchte, hatte Astrid unter Tränen erklärt:
»Ich will doch nur diejenige Person orten, deren Profil ich dir vor zwei Jahren zugeschickt hatte und die einen Treffer in der DNA-Datenbank ergab. Ich habe mich zwar schon an die Polizei gewandt, doch sie wollten nichts unternehmen. Sie sagten, dass Stalking nur verfolgt werden kann, wenn eine ernstzunehmende Beeinträchtigung nachgewiesen werden kann. Aber ich habe nicht mal die Arbeitsstelle gewechselt. Dennoch verfolgt mich der Kerl im Auto seiner Freundin ununterbrochen. Ich habe Angst um mein Baby. Du musst uns helfen, Armin! Vielleicht können wir es einfach so nachweisen?« Dann aber dachte sie an alle möglichen Komplikationen, während sie sich zwang, noch mehr Tränen herauszupressen. »Aber erzähl es nicht meinem Vater. Er macht sich Sorgen um mich. Die bedrohliche Situation, in welcher seine schwangere Tochter steckt, würde ihn garantiert umbringen.« Ein kleiner Aufschlag der traurigen Augen brachte Armin schließlich dazu, den Peilsender bereitzustellen und anzubringen. Und wichtiger noch: seinen Mund zu halten.
Irgendwie ist es erstaunlich, wie sehr die Menschen jemandem vertrauen, wenn sie meinen, die Person zu kennen,
schmunzelte Astrid und strich sich über das am Bauch befestigte Kissen. Eine so gut einstudierte Bewegung, die ihre Lüge perfekt unterstrich. Für die Öffentlichkeit war sie kein langweiliger Single mehr. Sie war etwas Besonders. Denn Schwangere genossen stets viel positive Aufmerksamkeit. Das wollte sie solange auskosten, wie es nur ging. Und mit einem Baby im Bauch ließ sich fast jeder beeindrucken! Manipulation von Menschen war für Astrid längst kein Spiel mehr. Nach und nach wurde es zu ihrem Lebensinhalt.
Nun hatte Astrid nur begrenzte Zeit für den wichtigsten aller Schritte ihres Plans. Gespannt setzte sie sich an Julias alten Laptop, der mit einem Empfänger verbunden war, und wartete, bis sich der Wagen endlich in Bewegung setzte.
Doch als es soweit war, ahnte sie bereits, wohin Julia fuhr. Das war viel zu einfach! Astrid hätte nicht mal die Hilfe eines Peilsenders gebraucht. Sie fuhr dieselbe Route, die sie seit ein paar Wochen immer samstags fuhr. Die Adresse hatte Astrid auf einer Quittung in Julias Mülltonne gefunden. Sie hätte sich sparen können, Armin erneut einzuweihen. Aber was soll's! Wer weiß, wozu ich den Sender noch brauche,
zuckte Astrid mit der Schulter. Ohne zu zögern, nahm sie ihren Autoschlüssel und setzte sich in Bewegung.