Kapitel 35
Noch bevor die Abenddämmerung die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne verschluckte und eine der größten Studentenattraktionen der Hauptstadt in Dunkelheit hüllte, saß Astrid bereits an einem der am weitesten entfernten Tische eines kleinen Cafés in den Hackeschen Höfen. Die Gegend war nicht nur unter Studenten sehr bekannt. In jeder der zahlreichen Lokalitäten traf man junge Touristen aus aller Welt. Eine bessere Möglichkeit, in der breiten Masse aus Menschen unterzutauchen, gab es einfach nicht.
Das Café, das Astrid für das Treffen mit Andreas Lange auserkoren hatte, war ihrem Gesprächspartner bereits seit dem letzten, für ihn eher unerfreulichen Treffen vor Jahren bestens bekannt. Daher bedurfte die erneute Verabredung nicht vieler Worte. Nur dass diesmal Astrid diejenige war, die den unauffälligsten Tisch im Lokal ausgesucht hatte. Mit Zufriedenheit sah sie, dass die Kellner heute jede Menge zu tun hatten. Kein Mensch würde sich an jeden der Gäste erinnern – schon gar nicht an das Allerweltsgesicht von Andreas. Und die Menschen an den Nachbartischen? Diese verschwanden in der schummerigen Dunkelheit, die lediglich durch das schwache Licht der Papierlampions durchbrochen wurde. Perfekt für die Art von Treffen, deren Inhalt verborgen bleiben sollte.
Astrid nippte gerade an ihrem Glas Wasser, als sich ein drahtiger Mann ihrem Tisch näherte. Ohne zu grüßen, setzte er sich ihr gegenüber.
»Eine Ewigkeit her, seit wir das letzte Mal zusammen an diesem Tisch saßen«, stellte Andreas Lange fest und winkte dem Kellner zu.
»Kann sein«, stimmte ihm Astrid zu. »Liegt es an dem Licht, oder bist du wirklich so braun geworden? Das steht dir gut.«
»In Spanien ist es sehr sonnig. Besonders, wenn man am Strand für seinen Lebensunterhalt kellnert«, erklärte er freundlich. »Deshalb sind wir aber nicht hier, oder?«
»Du hast wieder einen Job?«, fuhr Astrid unbeirrt fort. Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.
»Wenn du das weißt, dann weißt du auch sicher, dass ich wieder Pakete ausfahren darf.« Andreas fühlte sich sichtlich unwohl bei der Richtung, die das Gespräch nahm.
»Jupp, weiß ich«, bluffte Astrid. Sie musste ihrem Gegenüber das uneingeschränkte Gefühl geben, dass sie die Kontrolle behielt. Und dass sie über alles Bescheid wusste. »Du hattest Glück. Es gibt wenige Ex-Sträflinge, die in Berlin einen Job bekommen. Oder weiß dein Arbeitsgeber das nicht?« Astrid senkte die Stimme, als sich der Kellner ihrem Tisch näherte.
»Ich hätte gern ein großes Hefeweizen, bitte«, orderte Andreas mit monotoner Stimme. Ein ähnliches Gespräch hatten sie schon mal geführt. Danach war er nach Spanien ausgewandert. Doch diesmal hatte er sich absolut nichts zuschulden kommen lassen. Sie konnte ihm nichts vorwerfen. Ihn nicht wieder erpressen.
»Ich hätte gern eine große Fassbrause«, bestellte Astrid. Als Andreas sie daraufhin skeptisch beäugte, erklärte sie grinsend: »Kein Alkohol für Schwangere.« Fassbrause war aus ihrer Sicht neben Hefeweizen das am häufigsten bestellte Getränk in Berlin. Es sollte alles unauffällig bleiben.
»Kommt sofort«, versprach der Kellner, doch die beiden fielen darauf nicht rein. Das Café war restlos überfüllt, und die Besetzung viel zu klein für diese späte Uhrzeit. Aber das machte nichts. Sie hatten es nicht eilig. Der Kellner entfernte sich ebenso unbemerkt, wie er zuvor erschienen war.
»Du bist schwanger?« Das war das Letzte, was sich Andreas bei dieser Frau vorstellen konnte.
»Ja, ich bekomme ein Baby. Daher haben sich die Dinge geändert, seit wir uns letztes Mal gesehen haben.« Astrid zuckte mit der Schulter. Für einen Augenblick weiteten sich die Augen ihres Gegenübers, was sie mit innerer Zufriedenheit registrierte. Seine Angst konnte sie spüren, was sie in eine wesentlich überlegenere Position brachte.
Wider Erwarten erschien der Kellner recht schnell mit den georderten Getränken, stellte sie ab und nannte den Preis, den Andreas wortlos für beide bezahlte. Weniger deshalb, weil er plötzlich zu einem Gentleman mutiert war. Sondern vielmehr, weil er Astrid gnädig stimmen wollte.
»Danke.« Astrid registrierte die Geste.
»Also«, begann Andreas und senkte die Stimme soweit, dass ihn niemand außer ihr hören konnte. »Nun habe ich mich an meinen Teil der Abmachung gehalten. Ich bin sogar für mehr als ein Jahr verschwunden. Und ich werde mich von Julia Hoffmann fernhalten. Vielmehr: Sie wird mich nie wiedersehen. Du auch nicht. Kannst du mir jetzt die Negative geben?«
»Nicht so voreilig«, erwiderte Astrid und nippte an ihrer Fassbrause. »Ah, ich liebe es - dieses Prickeln auf der Lippe. Fast so, als würde es die Lippe schneiden. Und dann das kühle Getränk, das die Kehle hinuntergleitet. Mhm ...«
»Willst du mich verarschen? Ich habe den Teil der Abmachung eingehalten!« Andreas beugte sich verärgert zu seiner Gesprächspartnerin hinüber. »Her mit den Negativen!«
»Wie ich dir gesagt hatte«, Astrid genoss ihre Macht sichtlich, »die Dinge haben sich geändert. Jetzt muss ich für mich und mein Baby sorgen. Und auch für Julia, die übrigens schwanger ist. Ich darf nicht zulassen, dass einem von uns etwas passiert.«
Bei der Erwähnung des Namens sah Astrid, wie Andreas seine Kiefer fest aufeinanderpresste.
»Niemandem wird etwas passieren. Es ist vorbei. Und ich aus ihrem und deinem Leben verschwunden! GIB MIR BITTE DIE NEGATIVE!« Andreas′ Stimme nahm eine seltsame Mischung aus aggressiv und verzweifelt an.
»Es ist an der Zeit, etwas festzulegen«, entgegnete Astrid kalt. »Wenn du mich noch ein einziges Mal in dem Ton ansprichst, stehe ich auf, und die Bilder sind morgen im Polizeiabschnitt. Neben den Beweisen irgendeiner Vergewaltigung, bei der man, wie durch ein Wunder, deine DANN finden wird Das wäre sehr bedauerlich, aber wozu ich fähig bin, konntest du feststellen, als ich vor deiner Tür stand. Und zwar, nachdem du so doof warst, Beweise in Julias Garten zu hinterlassen. Das, was du beim Einbruch bei ihr fandest, ist übrigens bei Weitem nicht alles. Ein paar Erinnerungsstücke behielt ich im Nachhinein für mich. Weißt du, dass man das Alter von DNA nicht einfach so bestimmen kann, wenn es richtig gelagert wurde? Vor allem Haarproben oder Hautschüppchen. Und meine ′Beweise′ lagern sehr gut, glaube es mir. Aber keinesfalls bei mir zu Hause. Sollte mir etwas passieren, sind sie mit ein paar nützlichen Informationen und Bildern bei einem sehr hingebungsvollen Bullen, der sie garantiert weiterleitet. Das Gleiche wird passieren, wenn Julia, ihrem Baby oder meinem etwas passiert. Verstehen wir uns? Schmeckt das Bier nicht, oder warum trinkst du nicht?«
»Du bist eine gottverdammte Schlampe!«, zischte Andreas. »Der Einbruch war doch deine Idee!«
»Psst«, ermahnte ihn Astrid. »Oder willst du, dass die Leute aufmerksam werden? Dabei schneidest du schlechter ab als ich. Glaub es mir! Wer wird schon einem Ex-Knacki mehr glauben als einer werdenden Mutter? Also, gib Obacht, was du sagst!«
»Du wirst in der Hölle verrecken, du Schlampe.« In Andreas′ Augen loderte ungebremste Wut. Dennoch gab er sich Mühe, sich zu beruhigen. Er ahnte, dass er in der Patsche steckte. »Das war doch einzig und allein deine Idee! Du wolltest das Medaillon. Den Laptop bekamst du obendrauf. Während ich mich nur mit unbedeutenden Sachen begnügte. Das ist nichts, wofür sie mich lange in den Knast stecken können. Ich habe doch gar nichts getan!«
»Naja.« Astrid grinste. »Solange die Akte geschlossen bleibt, gibt es keine Beweise. In der Tat. Und der Einbruch, den ich so akribisch auf Bildern festgehalten habe, ist fast vergessen. Es sei denn, die Polizei bekommt eines Tages Beweise. Und wenn es verjährt ist, dann könnte es sein, dass man deine Spuren an einem willkürlichen Mordopfer findet. So, wie ich dich gefunden habe, kann ich dich auch im Knast verschwinden lassen. Glaub es mir einfach! Ich wäre da vorsichtig, wenn ich du wäre.«
»Du bist so ein Miststück!« Andreas′ Stimme beruhigte sich allmählich. »Wenn es mich nicht persönlich betreffen würde, würde ich auf so eine Drecksau wie dich stehen. Nicht, weil du geil aussiehst, weiß Gott nicht! Sondern weil du so eine verlogene Schlampe bist. Aber ich tue es nicht. Wie geht es weiter?«
»Nun ...« Astrid nahm einen großen Schluck ihrer Fassbrause, sichtlich geschmeichelt. »Der One-Night-Stand mit dir war mir eine bittere Lehre. Von allen Männern warst du der miserabelste. Aber danke für das Angebot.« Sie grinste. »Weiter geht es so: Zunächst bekomme ich eine gültige Adresse von dir. Du brauchst dir keine große Mühe zu machen, eine zu erfinden. Ich kam schon beim ersten Mal dahinter. Diesmal wird es noch einfacher. Und für dich schmerzhafter. Ab sofort möchte ich wissen, wo du bist, sollte ich dich irgendwann vermissen.« Astrid lachte falsch auf.
»Ich werde dich garantiert nicht vermissen!« Dennoch fühlte Andreas die Niederlage, die auf ihn herunterprasselte.
»Der Rest ist noch einfacher«, fuhr Astrid fort. »Du verschwindest aus Julias und meinem Leben. Auch keine dieser verdammten Rosen mehr! Haben wir uns verstanden? Dann ist es so, als wäre nie etwas passiert. Kein Stalking, keine Rosen. Und du lebst dein beschissenes Leben weiter, bis ich mich vielleicht melde. Oder auch nicht. Das ist doch ein toller Deal?«
»Ich hasse dich«, zischte Andreas und erhob sich zum Gehen, ohne sein Glas zu leeren. »Deal. Du verbrennst in der Hölle!«
»Du wirst garantiert vorangehen«, entgegnete Astrid lächelnd. Sie beschloss sitzenzubleiben und ein Glas Merlot zu bestellen.
Nun war auch das letzte große Problem aus dem Weg geräumt...