Kapitel 39
Samstag, 24.12.2011,
etwa zwei Monate später
Winterstimmung wollte dieses Jahr nicht so wirklich aufkommen. Der orkanreiche November beendete ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich mildes Wetter und verwandelte Berlin in eine triste, verregnete Stadt. Nicht eine Schneeflocke fiel auf den Boden.
Weihnachtliche Vorfreude konnte Astrid Schneider nicht wirklich mitreißen, seitdem sie erfahren hatte, dass Julia die Weihnachtstage mit ihrer Familie in Wiesbaden verbringen würde. Da es eine Art Familienzusammenführung werden würde, war Astrid nicht mal als Babysitter erwünscht. Eine Rolle, die sie mittlerweile zu gern und so oft wie möglich einnahm.
Gewiss hatte Astrid die Möglichkeit, ihr Elternhaus aufzusuchen. Doch ob sie es tat oder nicht, war unwichtig. In der Familie Schneider feierte man keine gemeinsamen Feste, wie man es aus Bilderbüchern kannte. Viel wahrscheinlicher war es, dass ihr Vater wieder bis in die Nacht arbeitete und ihre Mutter betrunken auf der Couch lag. Vielleicht in der Umarmung eines neuen Liebhabers? Aber das war unwichtig. Julias Familie war ihre wahre Familie!
Die Einsamkeit des Heiligabends erwischte Astrid mit voller Wucht. Sie vermisste den wohligen Geruch von Tammy, ihr Babylächeln, ihre kleinen Füßchen, ihre Händchen, die sie am Finger packten ...
Mittlerweile bot sie sich jederzeit an, auf Tammy aufzupassen, wenn Julia und Philippe sich eine kleine Auszeit von dem Baby gönnten. Oder wenn ihre Freundin sich den Luxus nahm, mal wieder auszuschlafen, wenn Philippe arbeiten war. Astrid war immer bereit. Selbst tagsüber, wenn sie eigentlich arbeitete. Sobald man ihr Babysitting von Tammy in Aussicht stellte, erfand sie eine Ausrede, warum sie nicht in der Arbeit bleiben konnte. Und meist war es die erdachte Schwangerschaft, die ihr zu schaffen machte. Ihren Kolleginnen missfiel zwar, dass sie oft für Astrid einspringen mussten, doch ihre Beschwerden blieben ungehört. Zumindest angesichts der Tatsache, dass es sich um die Risikoschwangerschaft einer Kollegin handelte. Und Astrid sorgte dafür, dass es ausreichend Belege für ihre freudige Erwartung gab. Es war nicht schwer, die dazu notwendigen Papiere zu fälschen. Mit ein wenig Recherche, Einblick in Julias ärztliche Unterlagen und einigen Übungen war es kein Problem, Komplikationen zu attestieren. Zumal Astrid zur Patientin in Julias gynäkologischen Praxis wurde. Natürlich ohne dass ihre Freundin davon wusste, denn Astrid achtete pingelig genau darauf, keine Termine zu bekommen, bei denen sie Julia in der Praxis hätte treffen können. Wenn sie zum Frauenarzt ging, musste sie auf das Kissen auf ihrem Bauch verzichten, also mied sie die Besuche, sofern sie es konnte. Dennoch musste man sie als Patientin registrieren, damit sie endlich die ärztliche Schweigepflicht genießen konnte. Astrids großes Glück war, dass Julia sie nie gefragt hatte, bei welchem Frauenarzt sie sei. Sonst hätte sie ihre Freundin anlügen müssen.
Das habe ich davon, dass ich mich immer wieder aufopfere,
dachte Astrid verärgert. Meine Familie lässt mich am Heiligabend im Stich!
Wobei es gar nicht um beide Eltern von Tammy ging. Eines Tages wird Julia einsehen müssen, was für ein Idiot ihr Philippe ist. Untreuer Weiberheld
, dachte Astrid. Nur so bestand Hoffnung, dass sie in der Nähe des Babys bleiben konnte. Für immer.
Ich liebe das Kind mehr, als seine Mutter das tut,
beteuerte sie jedes Mal vor sich selbst. Besonders, wenn sie die Gelegenheit bekam, auf das Kleine aufzupassen. Ich habe immer Zeit und Lust auf sie. Julia nicht. Und ich bin deutlich jünger. Es sollte mein Baby sein! Ich würde sie verwöhnen und für mein Baby sorgen. Julia hat doch immer noch den Hund, den sie so liebt. Es ist unfair.
Mit jedem Tag, an dem sich Astrid von Julia verletzt fühlte, weil sie mehr Anspruch auf das Baby erhob, wuchs die Wut auf ihre Freundin. Julias Gedanken drehen sich doch lediglich um ihren Philippe! An das Baby denke nur ich,
redete sie sich immer wieder ein. Was ist das für eine Mutter? Und nun nimmt sie mir auch noch das erste Weihnachten mit unserem Baby weg. Und wozu das Ganze überhaupt? Wahrscheinlich will sie wieder mit ihrem Ex zusammen sein und der arme Philippe ahnt nichts. Dann wirft sie ihn weg, wie mich. Womöglich zieht sie dann nach Wiesbaden um und nimmt Tammy mit?
Astrids Gedanken drehten sich ununterbrochen im Kreis, seit die Familie gestern aufgebrochen war. Je öfter sie sich ereiferte, desto weniger war sie bereit, die Widersprüche zu erkennen.
Zwischendurch sah Astrid zum gefühlt hundertsten Mal auf ihr Handy, ob sie eine Textnachricht aus Wiesbaden bekommen hatte. Doch außer dem gestrigem 'Wir sind angekommen' konnte sie nur ihre eigenen Anfragen sehen. Es waren jetzt genau sechs. Offensichtlich bist du zu beschäftigt, mir zu antworten!
, ärgerte sich Astrid. Nur wenn du mich brauchst, kommt mal etwas zurück, sonst nicht. Ich bin für dich doch nur eine billige Nanny, mehr nicht!
Dabei gab sich Astrid in letzter Zeit wahnsinnig viel Mühe, ein wichtiger Teil dieser Familie zu sein. Die stärkste Leistung von meiner Seite ist doch, zu Philippe freundlich zu sein, nachdem er mich beim ersten Mal aus dem Haus geworfen hat. Wegen gar nichts. Haben die nicht genug Zeit miteinander? War es notwendig, mich wegen eines hirnrissigen Picknicks rauszuwerfen? Wo war er denn, als Tammy auf die Welt kam? Ich! Ich habe das Baby gerettet. Nicht er.
Dennoch wusste Astrid instinktiv, dass sie sich mit Philippe gut verstehen musste, wollte sie in der Nähe des Babys bleiben. Zumal Bärbel sie bereits wie einen eitrigen Pickel behandelte.
Astrid ging in die Küche, holte aus dem Kühlschrank einen zuvor gekauften Kartoffelsalat und entnahm davon einen großzügigen Löffel. Daneben legte sie ein kaltes Würstchen. Um es ein wenig festlicher werden zu lassen, öffnete sie den Rotwein, den sie von Julia zum Geburtstag bekommen hatte, und goss sich einen ordentlichen Schluck in ein hohes Glas. Dann nahm sie beides mit ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Das Programm zu Weihnachten war immer gleich. Filme wie »Stirb langsam« oder »Tödliche Weihnachten« schienen eine seltsame Ironie des Schicksals zu sein. Ihres Schicksals.
Plötzlich hörte sie den Ton für eine angekommene Textnachricht. Das wird Julia sein!
, ging es ihr durch den Kopf, und sie fühlte sich augenblicklich von Glück erfüllt. Und es war tatsächlich ihre Freundin, die Astrid frohe Weihnachten wünschte.
Nichts mehr.
Kein Bild von Tammy.
Keine weiteren Informationen.
Ich bin es nicht mal wert, dass man mich anruft? Dafür werden sie bezahlen!
Astrid hatte es satt, die zweite Geige zu spielen! Und sie musste irgendwie ihr Problem mit der Schwangerschaft auf eine Art lösen, die zugleich tragisch als auch glaubhaft erschien. Bevor eines Tages die Wahrheit ans Tageslicht kam. Wer weiß, wie lange sie diese Lüge noch aufrechthalten konnte? Während sie einen Schluck des Weins zu sich nahm, kam ihr eine nahezu geniale Idee, wie sie Tammy wieder mehr um sich haben und zugleich ihre 'Schwangerschaft' loswerden würde. Es war ein perfekter Plan!
Doch bis dahin musste sie den Kontakt zu ihrer neuen Familie bis etwa Mitte Januar abbrechen. Keine Textnachrichten, keine Bilder, keine Telefonate! Zweifelsohne war das der schmerzhafteste, wenn auch der sinnvollste aller Schritte.