Kapitel 40        
Sonntag, 15.01.2012,
drei Wochen später
Berlin. Vollkommen still saß ich in einem bequemen Sessel am Bett meines Babys. Ihr winziger Brustkorb hob und senkte sich harmonisch auf und ab. Es war so wundervoll, ihr zuzusehen, wie zufrieden sie schlief. Wie sie die Geborgenheit eines ruhigen Vormittagsschläfchens in vollen Zügen auskostete. Ich ertappte mich grinsend dabei, wie ich meine eigenen Atemgeräusche kontrollierte. Keinesfalls sollte mein Baby davon gestört werden.
Erstaunlich war, wie ähnlich sie Philippe sah - mit dem dunklen Teint und ihren pechschwarzen Haaren. Und auch wenn ich etwas älter als die sonstigen Mütter im Krankenhaus war, sie zu bekommen, war nach Ben das Beste, was mir je in meinem Leben passiert war. Ich war überglücklich.
Mittlerweile, nach drei Monaten mit dem Baby, bekamen wir eine gewisse Routine im Alltag. Die Nächte wurden zunehmend länger, was bedeutete, dass sich Tammy langsam an den Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnte. Am Tag blieb sie zunehmend länger wach. Nicht, dass ich die erste Zeit mit Ben als Baby nicht genossen hätte. Doch damals war ich so jung. Viel zu jung, um mir die Zeit für das Wesentliche zu nehmen. Das wollte ich bei Tammy nachholen.
Während Philippe einen ausgiebigen Spaziergang mit Muffin machte, stahl ich mich kurz aus dem Kinderzimmer, um einen Anruf zu tätigen. Die Handynummer von Astrid hatte ich noch im Kopf, doch meine letzten Versuche, sie zu erreichen, waren gescheitert. Was mir immer mehr Sorgen bereitete. Mein letzter Kontakt mit ihr war am Heiligabend, dann brach er ab. Im Durcheinander der Weihnachtstage und der versammelten Familie hatte ich es nicht geschafft, sie anzurufen. Ich hoffte inständig, dass sie mir das nicht übelnahm. Seit wir vor einer Woche wieder in Berlin angekommen waren, rief ich sie mehrfach am Tag an. Bisher ohne Erfolg.
Irgendetwas stimmt da nicht, dachte ich, und ich beschloss, sie heute unerwartet zu besuchen. Am besten, wenn Philippe wieder zu Hause angekommen war. In der Hoffnung, dass sie den Anrufbeantworter abhörte, rief ich sie nochmal an, um sie vorzuwarnen.
Etwa eine halbe Stunde später hörte ich, wie die Eingangstür aufging. Natürlich erschien Muffins schnüffelnde Nase zuerst auf dem Plan. Erst einige Sekunden später erschien das rote Gesicht von Philippe. Ganz offensichtlich war es eine schnelle Runde gewesen. Ich grinste meinen Verlobten an.
»Soll das ein Winter sein?«, lachte er. »Ich glaube, wir haben schon Frühling! War viel zu warm für′s Joggen angezogen. Was macht die Kleine?«
»Sie schläft«, antwortete ich und küsste ihn zur Begrüßung. Philippe erwiderte meinen Kuss.
»Dann hätte Mami jetzt Zeit für Papi, oder?« Er zwinkerte mir verführerisch zu.
»Theoretisch ja ...«, druckste ich herum. Denn natürlich wollte ich lieber Zeit mit Philippe verbringen. Aber Astrid ging mir nun mal nicht aus dem Kopf. Und versprochen hatte ich es ihr auch. Wenn auch nur auf dem Anrufbeantworter. »Praktisch aber habe ich es wieder bei Astrid versucht. Sie meldet sich immer noch nicht zurück. Ich mache mir wirklich Sorgen. Was ist, wenn ihr etwas passiert ist? Immerhin ist sie doch schwanger! Hast du etwas dagegen, wenn ich kurz rübergehe? Milch für Tammy findest du im Kühlschrank.«
»Wenn es sein muss ...« Philippe verdrehte theatralisch die Augen.
»Es muss sein, Schatz. Aber ich bleibe nicht lange weg. Und ich nehme das Fahrrad. Es nieselt zwar, doch so bin ich schneller. Spätestens zum Mittag bin ich zu Hause. Versprochen.«
»Wenn es sein muss ...«, wiederholte Philippe sichtbar unzufrieden und ließ mich gehen.
Etwas später klingelte ich an der Eingangstür des Mehrfamilienhauses von Astrid. Zunächst passierte gar nichts, sodass ich annahm, dass sie nicht zu Hause war. Doch plötzlich löste sich die Türsperre, und man ließ mich hinein.
Als ich dann direkt vor Astrids Wohnung stand, öffnete sie sofort, ohne dass ich angeklopft hatte.
Sie sah scheußlich aus.
Schwarz gekleidet, mit dunklen Augenringen, sah sie so verweint aus, dass sich mein Herz bei dem Anblick zusammenzog.
»Oh mein Gott, was ist mit dir passiert?«, fragte ich entsetzt.
»Ich ...«, fing sie an, und Tränen schossen ihr aus den Augen. »Ich habe mein Baby verloren«, brach es aus ihr heraus. Ein paar Tränen flossen über ihre Wangen.
Just in diesem Moment realisierte ich, was passiert war. Ein angsteinflößendes Bild schoss mir in den Kopf, wie schrecklich es für sie gewesen sein musste. Wenn mir das mit Tammy passiert wäre? Nein, das hätte ich nicht ertragen können, dachte ich und verspürte einen dicken Kloß im Hals. Während ich mein Baby in den Händen wiegte, hatte meine Freundin ihres verloren. Und ich war nicht an ihrer Seite, um ihr zu helfen.
»Darf ich rein?«, stotterte ich.
»Aber klar.« Astrid ließ mir Platz, dass ich hineingehen konnte. Mir fiel auf, dass es das erste Mal war, dass ich ihre Wohnung betreten hatte. Ansonsten trafen wir uns immer nur unterwegs oder bei mir. Warum, wusste ich nicht, wie stark sie in letzter Zeit unter dem Verlust ihrer wichtigsten Menschen gelitten hatte. Nicht nur, dass sie von ihrem Mann verlassen wurde. Nun auch von dem letzten Bindeglied, welches sie beide in ihrer Liebe auch nach dem Tod verband. Wie schrecklich!
Als die Eingangstür zugefallen war, ging ich auf sie zu und drückte sie wortlos an mich. Jetzt brauchte sie nichts mehr als Geborgenheit und Trost.
»Es war am ersten Weihnachtstag ...«, begann Astrid. »Ich fühlte mich so komisch, hatte starke Unterleibsschmerzen. Dann kam eine starke Blutung.« Sie schniefte. »Ich fuhr in die Notaufnahme. Der Arzt hat mich untersucht und stellte fest, dass man keine Herztöne hören konnte. Das Baby war schon tot, Julia ... Einfach tot. Wie ihr Daddy ...« Astrids Schultern bewegten sich rhythmisch zum Schluchzen. »Dann«, setzte sie fort, »hat mir der Arzt eine Ausschabung empfohlen. Am zweiten Weihnachtstag war ich keine Mutter mehr.«
»Oh mein Gott, wie schrecklich.« Ich war voller Mitgefühl. »Warum hast du mich nicht angerufen? Ich wäre sofort zu dir gekommen.« Gegen die aufsteigenden Schuldgefühle in meinem Innersten konnte ich nichts tun. Mit voller Wucht legten sie sich um mich, wie ein eng geschnittenes Korsett. Ich bekam kaum Luft.
»Warum?«, fragte Astrid plötzlich verwundert. »Das Baby war doch schon tot! Du hättest nichts tun können. Meine Schwangerschaft war eh schon immer schwierig. Jetzt kennen wir das Ende davon.« Es klang irgendwie nüchtern, fast pathetisch. Das erklärte ich mir durch ihren unendlichen Schmerz, den sie sicherlich verspürte.
Es gab nichts, was ich ihr sagen konnte, um sie zu trösten. Ein Kind zu verlieren war die furchtbarste Sache der Welt, die ich mir als Mutter vorstellen konnte.
»Schau mal«, Astrid nahm meine Hand in ihre eigene und führte mich in das vorbereitete Babyzimmer, »es ist so schön eingerichtet. Und jetzt?« Mir brach es das Herz, das Ausmaß ihres Leidensweges zu sehen.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte ich sie zaghaft. Es war mir bewusst, dass sie in dieser Wohnung voller Erinnerungen nicht allein bleiben durfte. Andererseits konnte ich sie nicht nach Hause mitnehmen. Wer wusste, welche Wunden Tammy bei ihr aufreißen würde.
»Wenn du mir wirklich helfen willst ...«, stammelte sie leise, »nimm mich mit zu dir. Ich brauche jetzt das Gefühl einer heilen Familie.«
Diese Worte hatten mich mehr als erstaunt. Hätte ich in ihrer Situation ähnlich entschieden? Garantiert nicht! Es hätte mir vermutlich zu sehr wehgetan. Oder vielleicht doch? Ich konnte mich gar nicht in ihre Lage versetzen. Weiß sie wirklich, was sie von mir verlangt? Was ist, wenn sie es nicht verkraftet?
»Vergiss es!«, fügte Astrid entschuldigend hinzu, als hätte sie mein Schweigen verletzt. »Ich verlange zu viel von dir.«
»Nein, nein«, erwiderte ich energisch. »Natürlich kommst du zu uns. Und zwar so lange, wie du es brauchst!«