Kapitel 41
Sonntag, 28.01.2012,
weitere zwei Wochen später
Etwa zwei Wochen später bekam mein heiles Bild von Astrid endgültig einen Riss. Mittlerweile wurde sie zu einem nicht wegzudenkenden Bestandteil unserer kleinen Familie. Zwar übernachtete sie seit ein paar Tagen wieder allein in ihrer eigenen Wohnung, doch sie opferte uns jede freie Minute, die sie nicht in der Arbeit verbrachte. Zunächst gefiel es mir sehr, wie selbstlos sie sich um Tammy kümmerte. Sobald das Baby irgendein Bedürfnis äußerte, war Astrid diejenige, die sofort ans Bettchen lief.
Das ließ ich gern zu. Nicht nur, weil es mir eine Chance zur Erholung gab. Dabei war Tammy kein anstrengendes Baby. Vielmehr war sie der Inbegriff eines durch und durch harmonischen Kindes. Nur mein eigenes Alter stand mir ein wenig im Weg. Als Ben noch ein Baby war, fühlte ich mich nicht müde. Auch was den Haushalt betraf, schaffte ich damals mehr. Heute nutzte ich jede freie Minute, um mich hinzulegen und den mangelnden Schlaf nachzuholen. Da ich nun oft aus praktischen Gründen auf Schminke verzichtete, traten meine Augenringe und Fältchen immer mehr hervor. Ich fühlte mich, als würde ich doppelt so schnell altern. Auch wenn Philippe etwas anderes behauptete - es schien mir so, als würde der Altersunterschied zwischen uns mit jedem Tag größer.
Astrids Hilfe bedeutete vor allem mehr Zeit zur Erholung. Und diese Zeit gönnte ich mir. Zumindest nachdem ich sah, dass Tammys Anwesenheit meine Freundin glücklich machte. Unerwartet schnell schien sie den Schmerz über den Verlust ihres eigenen Babys vergessen zu haben, während sie meines in ihrem Arm wiegte. Manchmal, wenn ich sie mit meinem Kind sah, empfand ich für sie eine tiefe Traurigkeit. Sie wird die Freude der Mutterschaft vermutlich niemals erfahren. Dabei hat sie so viel Liebe zu geben,
dachte ich. Das Schicksal kann fies sein.
Manchmal vergaß ich die Trauer und genoss einfach nur, eine ergebene Freundin um mich zu haben. Wie auch an einem kalten Sonntag im Januar 2012. Gerade kam Astrid mit frischen Brötchen vom Bäcker.
»Da ist mein Baby ...«, sagte sie breit grinsend, als ich ihr mit Tammy im Arm die Tür aufschloss. Dabei streckte sie ihre Arme meinem Kind entgegen. Das Baby gurgelte zufrieden. Kein Wunder, denn gerade hatte ich Tammy gestillt. Widerwillig übergab ich ihr mein wohlriechendes Baby zum Halten und sah zu, wie sie es zärtlich auf die Stirn küsste.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Astrid Tammy wie ihr eigenes Kind behandelte, war natürlich nicht vom Himmel gefallen. Dennoch fiel es mir heute negativ auf. Vielleicht lag es am schlechten Wetter. Möglicherweise bin ich nur eifersüchtig?
, überlegte ich und schämte mich ganz plötzlich vor mir selbst für diese Gedanken.
Was es genau war, warum mir ausgerechnet jetzt Astrids Nähe nicht gefiel, vermochte ich nicht zu sagen. Aber an diesem Tag verstärkte sich das Gefühl immer mehr. Es begann sich wie ein Virus in meinem Kopf auszubreiten, ohne dass ich ein Mittel dagegen fand.
Mit diesem Gedanken war es wie mit dem berühmten Phänomen: Wenn man sich einen Hund angeschafft hatte, schien das Gehirn alles um einen herum nach Hunden, Hundebesitzern und passenden Produkten auszufiltern. Und das nicht deshalb, weil sich mit dem Erwerb eines Tieres die Welt plötzlich komplett veränderte. Nein, sie änderte sich gar nicht. Doch mit jeder Veränderung im eigenen Leben änderte sich auch der Fokus, mit dem man die Umgebung wahrnahm. Dinge, die früher unbedeutend waren, gewannen an Bedeutung. Andere dagegen wurden plötzlich unwichtig ...
Zunächst ignorierte ich bewusst mein abruptes Gefühl von Unwohlsein in Astrids Nähe. Ich ließ sie hinein und tat so, als wäre die Welt in bester Ordnung. Nachdem sie mein Kind lange liebkost hatte, umarmte sie schließlich auch mich zur Begrüßung und ging ins Wohnzimmer, wo bereits der Frühstückstisch gedeckt war. Als wäre sie von einer Aura umgeben, beobachtete ich argwöhnisch jede ihrer Bewegungen. Was mir früher entging oder unbedeutend erschien, interpretierte mein Kopf nun sehr kritisch. Ich schien darüber keine Kontrolle mehr zu haben. Wie konnte ich das bloß stoppen? Wer oder was hatte mir den Schalter im Kopf umgelegt?
Philippe kam kurze Zeit später lächelnd herunter. In einen Morgenmantel aus dunkelblauem Satin gehüllt, in dem noch Wassertropfen aus seinen nassen Haaren tropften, umarmte er Astrid fast zu herzlich zur Begrüßung. »Wir haben schon auf dich gewartet.«, sagte er mit seinem leichten australischen Akzent, der mich immer noch zum Wahnsinn trieb. Astrid lächelte verlegen, als hätte er ihr soeben seine Liebe gestanden. Das ärgerte mich.
Seit wann sind sie so vertraut miteinander?,
ging es mir durch den Kopf. Als hätte ich durch die Aufmerksamkeit, die ich Tammy schenkte, die Welt um mich herum vergessen. Das, was ich sah, gefiel mir gar nicht mehr. Zugleich ärgerte ich mich über mich selbst.
»Ich habe Hunger«, warf ich in den Raum. Im Grunde hatte ich eigentlich keinen mehr. Doch es war ein Versuch, den Start in den Tag zu beschleunigen und Astrid irgendwann loszuwerden, um in Ruhe mit Philippe sprechen zu können. Zwar schloss ich aus, dass jemals mehr an Intimität zwischen den beiden möglich sein könnte. Dennoch erstaunte mich, wie schnell sie sich so vertraut zu sein schienen, dass sich Philippe erlaubte, vor ihr im Morgenmantel zu laufen. In einem Morgenmantel, der jede Erhebung seines männlichen Körpers erahnen ließ.
Das Frühstück lief wie gewohnt ab. Tammy lag auf einer Babydecke. Über ihr ein Spieltrapez mit bunten Greifelementen, zu denen sie gurrend ihre Händchen streckte, sofern sie nicht gerade schlief. Muffin schaute ihr mit schläfrigem Blick aus dem Hundebett in der hintersten Ecke des Zimmers zu, während wir meistens in einem Smalltalk über Babys vertieft waren. Doch erst heute fiel mir auf, wie lebendig und voller Freude Astrid über das Thema sprach. Diese Tatsache hätte mich an einem anderen Tag sicher glücklich und ein bisschen dankbar gemacht. Immerhin teilte sie scheinbar ohne größeren Schaden das Thema, das uns sehr am Herzen lag. Aber heute sah ich es anders.
Sogar komplett anders. Es war mir plötzlich unheimlich. Das Gefühl verstärkte sich noch, als ich wie eine Außenstehende das Gespräch zwischen den beiden wahrnahm. Dabei war weniger wichtig, worüber sie sprachen. Viel wichtiger erschien es mir, dass sie meine fehlende Beteiligung ganz offensichtlich nicht bemerkten. Oder dass es ihnen egal war. Ich war wie Luft, während sich das Gespräch um Tammys geplanten Schwimmkurs für Babys drehte. Ein Kurs, über den ich zuerst mit Philippe allein sprechen und dem ich nicht als stummer Zuhörer beiwohnen wollte. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass Astrid nicht entging, dass sich im Eifer der Diskussion der Gürtel an Philippes Morgenmantel lockerte und einen Einblick auf seine behaarte Brust zuließ. Einen so intimen Moment wollte ich niemals mit meiner Freundin teilen. Niemals. Zugleich sah ich, dass sich Astrid mit ihrer Zunge über die Lippen fuhr, als sie sich unbeobachtet fühlte. Es widerte mich an! Und ich fühlte mich plötzlich wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, weil Philippe nichts tat, um Astrid loszuwerden.
Also stand ich auf und ging in die Küche. Ich hoffte, das offensichtliche Teufelchen, das mir all die fiesen Bilder in den Kopf einredete, zum Schweigen zu bringen. Was ist bloß mit mir los? Woher die unerwartete Eifersucht?
, fragte ich mich und fand keine Antwort. Es dauerte einige Zeit, bis Philippe mir endlich folgte. Aber immerhin schien er meine Abwesenheit doch bemerkt zu haben.
»Alles okay mit dir?«, fragte er besorgt.
»Seit wann verstehst du dich mit ihr so blendend?«, erwiderte ich mit einer Gegenfrage.
»Mit wem?« Unverständnis spiegelte sich in seinem Gesicht. »Mit Astrid?«
»Ja, mit Astrid«, nickte ich und ermahnte uns beide wispernd, leise zu sein.
»Seit du mich darum gebeten hast«, erklärte er ebenfalls flüsternd, doch bestimmt. »Und das, nachdem sie ihr Baby verloren und einige Tage bei uns gewohnt hat. Sie ist tatsächlich gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Na gut, vielleicht etwas penetrant, aber ...« Abrupt unterbrach er. »Du meinst ... es könnte etwas zwischen uns laufen? Zwischen Astrid und mir?« Er lachte auf. Es klang ehrlich.
»Nein«, entgegnete ich peinlich berührt, ihn einer solchen Ungeheuerlichkeit verdächtigt zu haben. Nun klang diese lächerliche Unterstellung auch für mich erbärmlich. »Es tut mir leid, heute ist irgendwie ein seltsamer Tag.«
»Hey«, sein Lachen verstummte urplötzlich. Philippe ging auf mich zu, drückte mich so stark an sich, dass ich kaum Luft bekam. »Ich will niemanden außer dir, verstehst du?«, wisperte er mir ins Ohr. Vielleicht die warme Luft seines Atems, aber vielleicht auch seine Worte bewirkten, dass mir ein Erregungsschauer über den Rücken lief.
Du bist so bescheuert!
, sagte etwas in mir, während ich meine Hände auf seinen im weichen Satin verhüllten Hintern legte. Auch er schien erregt zu sein, wie ich am Druck seines Gliedes gegen meinen Oberschenkel verspürte.
»Wo seid ihr?« Astrids Stimme, die immer näherkam, zerstörte schlagartig den magischen Augenblick.
»In der Küche!«, rief ich, obwohl mir bereits klar war, dass es nur eine Höflichkeitsfrage war. Wo sollten wir sonst sein?
Philippe ließ mich los, und ich bereute, dass Astrid dazu fähig war, unsere Zweisamkeit zu stehlen. Gern hätte ich mich von ihm länger festhalten und womöglich auch leidenschaftlich küssen lassen. Auch ich ging auf Abstand, als Astrid die Schwelle zur Küche betrat.
»Ich gehe mit Muffin raus«, eröffnete Philippe zerstreut.
»Ich werde Tammy anziehen, und wir kommen mit. Das Baby braucht frische Luft«, stellte Astrid mit einer Stimme fest, die keinen Widerstand duldete. »In der Zeit kann sich Julia etwas hinlegen. Wenn wir wieder zurück sind, werde ich den Tisch abräumen.«
Dann wandte sie sich zu meiner Tochter: »Wir gehen zusammen spazieren«, redete sie auf sie ein. »Du und ich, mein kleiner Schatz.« Diese Worte trafen mich wie ein Blitz. Was sollte ich davon halten? Bestimmte sie etwa darüber, was ich zu tun hatte? War das möglich? Wer gab ihr das Recht dazu? Inständig hoffte ich, dass Philippe darauf adäquat reagieren würde.
»Eine gute Idee«, pflichtete ihr Philippe bei, als hätten wir nicht gerade über Astrid gesprochen. »Ich ziehe mich nur schnell an!« Liebevoll küsste er mich auf die Stirn. Dann machte er kehrt und verschwand leichtfüßig aus der Küche. Eine Woge der Enttäuschung über seine fehlende Loyalität schlug unvorbereitet über mir zusammen wie eine Welle gegen harte Felsen.
»Kannst du kurz auf Tammy achten?«, bat ich Astrid. »Ich weiß, Muffin tut nichts, doch ...« Obwohl ich unserer Hündin vertraute, war sie für mich immer noch ein Tier. Daher ließ ich sie ungern allein mit dem Baby. Ich lief Philippe hinterher. Just in dem Augenblich, als ich die Tür zum Schlafzimmer aufschlug, suchte er gerade nach seiner Jeans. Bekleidet nur in Boxershorts, sah er zum Anbeißen aus. Doch daran dachte ich diesmal nicht.
»Du bringst sie nach Hause!«, bestimmte ich. Philippe erkannte an meinem Ton, dass es keine Bitte war, also nickte er wortlos. Vermutlich verstand er nicht, warum ich so reagierte, aber dass Widerstand zwecklos war, begriff er sofort. Während er die endlich gefundene Jeans über seine nackten Beine zog, verließ ich schnaubend das Zimmer.
Unten angekommen sah ich, wie Astrid Tammy liebeerfüllt in den Armen wiegte.
»Astrid«, sagte ich trocken. »ICH ziehe Tammy an. ES IST MEIN BABY! Dann wird dich Philippe nach Hause bringen. Ich fühle mich heute nicht nach Besuch!« Ich war mir nicht sicher, ob ich mich wie eine ungerechte Furie oder angemessen benahm.
»Was ist denn los?« Astrid klang besorgt. Sie schien meinen Ärger nicht zu verstehen. Für sie lief der Tag wie Tage zuvor ab. Nur bei mir hatte sich etwas geändert. Endlich legte ich meine rosarote Bequemlichkeitsbrille ab. Es war ein unverzeihlicher Fehler gewesen, diese Frau in meine Familie einzuladen!
Noch einen dieser Art werde ich niemals machen
, schwor ich mir. Doch ich irrte. Die Tür zu meiner persönlichen Hölle war gerade dabei, sich zu öffnen.