Kapitel 42        
Samstag, 04.02.2012
»ICH HASSE DICH ÜBER ALLES!«, schrie Astrid Schneider erneut. Der Schmerz, den man ihr zugefügt hatte, wollte nicht vergehen! Lediglich die nachlassende Heiserkeit zeugte davon, dass eine Woche vergangen war, seit man ihr ihre Familie wieder genommen hatte.
Es war bereits zehn Uhr vormittags, und sie schaute wie gebannt auf ihr Handy, in der Hoffnung, dass Julia endlich zurückrufen würde. Doch sie tat es immer noch nicht. Nicht ein einziger ihrer täglich über zwanzig abgesetzten Anrufe wurde beantwortet. Das machte Astrid rasend vor Wut.
Ich war schon so nah am Ziel! Und nun das! Man hat mir wieder alles genommen! , dachte sie verbittert. Aber warum? Wer gibt ihr das Recht dazu? Was habe ich denn so Schlimmes getan, dass sie mir das Baby wegnimmt?
Seit jenem Sonntag fehlte ihr jede Verbindung zu Julia und Philippe. Was aber noch deutlich entsetzlicher war - sie wusste nicht, wie es dem Baby ging. IHREM BABY. Aus irgendwelchen ihr unerklärlichen Gründen wollte Julia sie nicht mehr in ihrer Nähe haben. Nun war Astrid endgültig abgeschrieben... Und daran würde sich nichts mehr ändern. Es gab keine Möglichkeit mehr, dass sie ein Teil der Familie werden würde. Alle Mühen waren vergeblich!
Diese Erkenntnis war grauenhaft.
Sie war nicht anzunehmen!
Astrid wollte nicht wortlos zusehen, wie man ihr das Baby wegnahm. Je öfter sie darüber nachdachte, desto überzeugter erschien es ihr, dass man sie ihres Babys beraubt hatte. Die einzige Möglichkeit, Tammy zurückzugewinnen, war nun nicht Philippe, sondern Julia loszuwerden. Denn Julia würde nie wieder zulassen, dass Astrid Tammy wieder näherkam. Mit Philippe würde es anders laufen. Nicht nur, dass er Astrid mochte ... Wenn sich seine Verlobte plötzlich in Luft auflösen würde, könnte Astrid diejenige sein, die sich um das Kind kümmern würde. Philippe war berufstätig, Bärbel viel zu viel mit ihrer Familie beschäftigt, und einen Babysitter hatten sie nicht. NOCH NICHT! Also musste sich Astrid beeilen! Nur wie sollte sie Julia verschwinden lassen?
Es dauerte nicht länger als zwei Stunden, bis Astrid einen hinterhältigen Plan geschmiedet hatte. Er war so genial, dass sie am liebsten vor Freude geschrien hätte. Sie würde ein paar Tage brauchen, um alle Einzelheiten im Detail auszuarbeiten, doch im Groben gefiel ihr schon, wie er war. Wenn alles gutging, würde sie Tammy in einigen Wochen wiedersehen. Bis dahin gab es viel zu tun.
Sie beschloss, die Vorbereitungen sofort zu treffen. Zuerst holte sie aus dem Badezimmer ein paar Latex-Handschuhe, die sie überzog. Dann ging sie zum großen Schrank im Babyzimmer und schob eine der Türen zur Seite, um an den Inhalt zu kommen. Darin befand sich, zwischen rosafarbenen Stramplern versteckt, eine rote Kiste. Astrid zog diese heraus, stellte sie auf dem Teppich ab und schob den Deckel zur Seite. Die Kiste war zum Bersten gefüllt: mit Julias benutzten Schlüpfern, zahlreichen Sexspielzeugen, sowie Julias und Astrids gemeinsamen Bildern.
Wie lange war das her, dass Astrid ihren Schatz geöffnet hatte? Ihre Nase vernahm den konzentrierten weiblich-süßlichen Duft, der sie früher um den Verstand gebracht hatte, wenn sie Julia körperlich vermisste. Es war für Astrid kein großes Unterfangen, bei einem ihrer zahlreichen Besuche gelegentlich eine ihrer Trophäen aus dem Wäschekorb zu greifen und sie unbemerkt aus dem Haus zu schmuggeln. Ein reizvoller Nebeneffekt war, dass die Tasche noch einige Tage später nach Julia roch, was Astrid besonders erregte, wenn sie den Duft vernahm. Aber als Gipfel der Lust empfand sie, wenn sie den benutzten Schlüpfer ihrer Freundin überzog, wenn sie bei Julia und Philippe zu Besuch war.
Doch diesmal ging es Astrid nicht darum, Erregung zu verspüren. Dennoch zitterten ihre Hände vor Anspannung, als sie das Medaillon und einige Bilder herausnahm, die tief in der Kiste vergraben waren. Sie ging immer vorsichtig damit um. Schließlich waren das ihre größten Schätze! Mit den Einweghandschuhen war es nicht leicht, die Fotos voneinander zu trennen, doch sie wollte diesmal keine weiteren Fingerabdrücke hinterlassen. Es waren schon mehr als genug darauf, und sie würde sich viel Mühe geben müssen, diese zu entfernen. Nun musste sie sortieren, welche der Beweise sie benötigen würde und welche nicht. Auf einigen davon konnte man sogar den DHL-Kleinlaster von Andreas Lange samt der Kennzeichen gut erkennen. Auf anderen Bildern konnte man den Verlauf des Einbruchs verfolgen. Bessere Beweise konnte man den Bullen nicht liefern! Die Fotos waren für Astrid die wichtigste Lebensversicherung, was Andreas Lange, Julias penetranten Stalker, betraf.
Was man nicht sehen, aber erahnen konnte, war, dass es einen Zeugen des Einbruchs gegeben haben musste. Schließlich hatte jemand den Einbrecher mit der Fotokamera begleitet. Aber wer? Die Antwort auf die Frage kannte nur Astrid. Niemand anders! Wenn sie es wollte, konnte sie es im Handumdrehen auflösen. Wenn nicht, brauchte sie die Bilder nur inkognito zu verschicken. Sofern sie nicht zuließ, dass man darauf DNA von ihr fand, würde niemand darauf kommen, dass ausgerechnet sie die Bilder gemacht hatte. Auch nicht diejenigen, auf denen gestohlene Sachen zu sehen waren. Zum Beispiel Julias geliebtes Medaillon, ihr Laptop, die im Garten gefundenen Kippen und Mütze oder ihre gestohlene Unterwäsche.
Um dem Verdacht zu entgehen, dass Andreas eine Komplizin gehabt hatte, achtete Astrid peinlich genau darauf, mit ihm niemals gesehen zu werden. So für alle Fälle. Falls er unvorsichtig genug war, aufzufallen. Und diesmal ergab diese möglicherweise übertriebene Vorsichtsmaßnahme sogar einen tieferen Sinn.
Astrid brauchte nicht viel Überzeugungskraft, Andreas Lange dazu zu überreden, bei ihrer Freundin einzubrechen. Für ihn schien es ein harmloser Schritt zu sein, bei dem er eine Komplizin in Astrid zu haben glaubte. Zusätzlich versprach sie ihm eine Belohnung und Eigenbeteiligung am Gestohlenen. Dass sie es anders meinte, erfuhr er erst später. Für Astrid war der Einbruch ein guter Schachzug, um den Mann von Julia fernzuhalten.
Seinen Namen erfuhr sie von Armin Haas, der ihr die zum DNA-Profil der Kippen passende Adresse genannt hatte. Astrid machte sich die Mühe, den Stalker zu stalken, um möglichst viele Informationen über ihn zu sammeln. Zunächst wollte sie den Namen direkt an Julia weitergeben. Als diese sich aber nach Astrids Friseurbesuch für längere Zeit distanziert hatte, entschied sie, alles für sich zu behalten. Für Andreas stand zu der Zeit sehr viel auf dem Spiel. Mit Bagatellen gegen die Bewährungsauflagen zu verstoßen, bedeutete für ihn, für fünf Jahre im Gefängnis zu landen. Zu blöd, dass sein Freiheitsdrang nicht stärker als sein Zwang zum Nachstellen war, also hörte er damit nicht auf. Und bekam großzügige Unterstützung von Astrid, die sich zunächst als Julias rachsüchtige Freundin vorgestellt hatte. Mit der Zeit gewann sie sein Vertrauen, als sie beiläufig immer mehr und mehr über das Objekt seiner Begierde verriet. Mit der Zeit musste Andreas nicht mal Julias Müll durchsuchen, um zu wissen, welche Art Unterwäsche sie gerade gekauft hatte. Astrid verriet es ihm, da sie so gut wie alles über ihre Freundin wusste. Er bekam eine Komplizin, die nicht nur alles über die Frau seiner Träume wusste. Vielmehr stachelte ihn Astrid regelrecht an, dem Nachstellen ′sinnvolle′ Taten folgen zu lassen, wie den Einbruch, bei dem er Julia näher als jemals zuvor sein würde.
Und das tat er. Er lief nackt in Julias verlassenem Häuschen herum, während Astrids Aufgabe darin bestand, aufzupassen, dass sie nicht erwischt wurden. Als erstes legte er sich auf Julias Bett im Schlafzimmer. Allein ihr Geruch brachte ihn so um den Verstand, dass er, während er sich an der weichen Decke rieb, in ein vorher übergestreiftes Kondom ejakulierte. Denn Andreas Lange war nicht töricht. Nochmals so eine DNA-Panne wie damals im Garten sollte ihm nicht passieren. Vor dem Einbruch rasierte er sich gründlich alle Haare, selbst die auf seinem Schädel. Und er achtete penibel darauf, keine Gegenstände mit dem Mund zu berühren. Nur bei der Bettwäsche machte er eine Ausnahme und streifte die Einweghandschuhe herunter. Zu groß war die Versuchung, die Stellen zu berühren, die zuvor seine Göttin gestreift hatte. Allerdings verblieb er nicht länger als die verabredete Stunde im Haus. Zur Krönung seines Besuches stahl er einige der persönlichen Gegenstände, wovon er zum großen Bedauern ein Teil an Astrid abgeben musste.
Er vermied es, DNA-Spuren zu hinterlassen.
Daher machte er einen viel größeren Fehler. Andreas Lange fragte sich nicht, warum sich Astrid Schneider niemals mit ihm in der Öffentlichkeit sehen ließ. Oder wo sie war, als er in das Haus von Julia Hoffmann eingebrochen war. Oder warum ihn Astrid so lange Zeit mit den Informationen über ihre Freundin anfütterte, bis er letzten Endes einem Einbruch zugestimmt hatte. Das sah er erst, als sie ihm die Kopien der Bilder zeigte, die sie gemacht hatte, während er der größten seiner Perversionen in Julias Haus nachging.
Damals mit den Worten: »Du bist geliefert. Selbst wenn sie meine Fingerabdrücke finden, so what? Ich habe in dem Haus vor kurzem gewohnt. Du nicht! Also bist du der Einbrecher! Und wenn du dich nicht ganz weit weg aus ihrem Leben verpisst, landen die Bilder schneller bei den Bullen, als du bis drei zählen kannst.«
In diesem Augenblick hatte er sich in die Hände von Astrid hineinmanövriert, die ihn dazu genötigt hatte, für längere Zeit das Land zu verlassen. Für eine lange Zeit. Bis jetzt.
Bis er für Astrid wieder zu einer Bedrohung wurde, weil er zurückkehrte. Er musste also wieder verschwinden. Nur diesmal stand nicht Julia, sondern Tammy auf dem Spiel. Und genau das war das Genialste an ihren Plan. Für einen kurzen Augenblick überlegte Astrid, ob sie dazu das Medaillon als Beweisstück brauchte, doch sie entschied sich dagegen. Sie mochte das Ding sehr. Diese Trophäe machte sie Julia gegenüber so überlegen! Also würde sie das Schmuckstück behalten. Wer weiß, vielleicht würde sie es irgendwann brauchen, um ihrer Freundin zu zeigen, wie genial, wie gerissen sie war. Vielleicht ...
Den Rest der Sachen, der sie für immer mit Julia Hoffmann verband, packte sie zurück in die Kiste. Nachdem sie das Medaillon in einem Strampler im Babyschrank verstaut hatte, nahm sie die rote Kiste und stellte sie direkt vor die Tür. Den Inhalt würde sie erst am Abend in den Mülltonen der Umgebung verteilen, um alle Beweise an ihrer Beteiligung bei dem geplanten Mord zu zerstören. Falls etwas schief ging und man ihr Haus durchsuchen würde, war sie bestens vorbereitet. Dann nahm sie ein Telefon in die Hand und wählte eine ihr sehr gut bekannte Nummer.
»Hi«, begann sie, als sich eine männliche Stimme meldete. Ihr Gesprächspartner wurde abrupt still. Seine Anspannung war deutlich spürbar. »Ich habe es mir nochmal überlegt«, setzte Astrid zuckersüß fort. »Wir begraben unsere Streitigkeiten. Es ist Zeit, abzuschließen, findest du nicht?«
»Meinst du das ernst?«, fragte Andreas Lange konsterniert. Es schien das Letzte zu sein, mit dem er gerechnet hätte.
»Ja«, erwiderte Astrid, »ich habe eine neue Beziehung und möchte nun alles hinter mir lassen. Möchtest du die Beweisfotos wiederhaben?«
»Mit den Negativen?«, fragte Andreas ungläubig.
»Alles, was du willst.« Astrid lachte. »Ich bringe es dir nach Hause, und dann ist es mit uns beiden vorbei. Ab dann kennen wir uns nicht mehr. Verstanden?«
»Ja, okay.« Andreas begriff nur langsam. Er klang nun erleichtert, als er »Wann? Heute?« fragte.
»Nein, ich muss alles zusammensammeln. Es soll doch vollständig sein, nicht wahr? Ich bin bei dir nächsten Samstag um sechs. Deine Adresse kenne ich ja. Keine Zeugen, sonst siehst du nichts davon. Ab da kennen wir uns nicht mehr. Einverstanden?«
»Klar«, bestätigte Andreas. »Bis dann.« Er legte auf.
Nach einer kurzen Überlegung öffnete Astrid ihr Handy, holte die Sim-Karte und den Akku heraus und warf beides in die bereits volle Kiste vor der Tür. Sie würde auch diese entsorgen müssen. Dann holte sie Julias alten Laptop, startete ihn und suchte nach einem Kino in der Nähe von Andreas′ Adresse. Kino Zukunft am Ostkreuz , las sie und klickte auf das Programm. Das einzige, was ihr einigermaßen vom Thema gefiel, war ein Film von einem ganz offensichtlich russischen Regisseur, der ′Faust′ auf seine Art verfilmt hatte. Astrid nahm das Festnetztelefon und rief im Kino an, um sich nach Karten für kommenden Samstag zu erkundigen. Man sicherte ihr zu, dass sie auch einen Platz bekäme, wenn sie spontan ins Kino kam. Doch Astrid wollte auf Nummer sicher gehen und nahm sich vor, im Laufe der Woche zwei Karten zu besorgen.
Als nächstes kniff sich Astrid so stark in den Arm, dass ihr vor Schmerz die Augen tränten. Sie schniefte und wartete einen Moment ab, bis ihre Stimme traurig genug klang. Dann nahm sie den Hörer erneut in die Hand und wählte eine der Nummern, die sie von der Arbeit kannte.
»Hallo«, meldete sich eine Frauenstimme schüchtern.
»Hallo, Agnes«, schluchzte sie in den Hörer. »Ich bin es, Astrid. Astrid Schneider.«
»Ah, ja«, erinnerte sich die junge Frau. Sie war gerade in der Ausbildung und genauso schüchtern, wie ihre Stimme es vermuten ließ. Eine sehr naive Persönlichkeit. Perfektes Bauernopfer! »Was ist los?«
Astrid konnte sich ihre großen, angsterfüllten Augen vorstellen. Agnes wird eine perfekte Zeugin abgeben, falls ich ein Alibi brauche. Sie wird den Richter verzaubern. »Du weißt bestimmt«, Astrid gab sich viel Mühe, verzweifelt zu wirken, »dass ich mein armes, kleines Baby verloren habe?«
»Ja, na klar«, Agnes war voller Mitgefühl, »das tut mir so wahnsinnig leid.«
»Kann ich dir etwas darüber erzählen? Ich habe niemanden sonst zum Reden. Doch der Schmerz erdrückt mich, und ich habe Angst, dass ich mir das Leben nehmen könnte.«
»Aber natürlich habe ich Zeit. Bitte, erzähl es mir«, bat ihre Kollegin flehend und hörte Astrids Schilderungen geduldig zu, in der Hoffnung, ihr etwas von dem unendlichen Leid zu nehmen. »Manchmal habe ich Lust«, beendete Astrid, »einfach auszubrechen. Dahin gehen, wo Menschen noch glücklich sind. Wo man Schmerzen vergessen kann.« Sie schnaubte.
»Ich verstehe dich«, entgegnete Agnes traurig. »Ich habe vor kurzem meine geliebte Oma verloren. Das ist zwar nicht das Gleiche, tut aber auch weh.«
»Das stimmt.« Astrid zwang sich, noch trauriger zu klingen, während Agnes sie mit jedem ausgesprochenen Satz immer mehr langweilte. »Du bist so gut zu mir. Ich traue mich fast nicht zu fragen, ob du Lust hättest, dir mit mir nächsten Samstag einen Film anzugucken. Habe zwei Karten bekommen, doch niemand hat Zeit für mich. Es würde mich ablenken.«
»Nächsten Samstag?« Agnes überlegte. »Wann?«
»Die Vorstellung beginnt um 21 Uhr 45. Aber nur, wenn du willst. Es ist eine ′Faust′- Verfilmung von einem russischen Regisseur. Ich weiß nicht mal, ob sie gut ist.«
»Klar komme ich mit«, erwiderte Agnes.
»Danke«, Astrid schluchzte, »danke auch für dein offenes Ohr. Es ist nicht leicht.«
»Keine Ursache«, erwiderte Agnes. »Sehen wir uns morgen in der Arbeit?«
»Aber klar, bis morgen.« Astrid legte zufrieden auf.
Mit einem Seufzer der Erleichterung räumte sie alles zusammen, was ihr einfiel, dass man im Entferntesten mit Julia in Verbindung bringen konnte. Mittlerweile war es stockdunkel. Die Uhr im Babyzimmer zeigte neun Uhr, als sich Astrid entschied, die rote Kiste in ihr Auto zu packen. Die Beweise würde sie zwar erst nach Mitternacht beseitigen, wenn es am unauffälligsten war. Doch vorher gab es eine wichtige Sache, die sie noch zu erledigen hatte.
Etwa eine Viertelstunde später verließ Astrid ihre Wohnung. Draußen war es, wie für den tiefsten Februar zu erwarten, bitterkalt. Seit ein paar Tagen gab es eine neue Kältewelle, die in Berlin Einzug gehalten hatte.
Anders als sonst war Astrid lediglich in einen dunklen Kapuzenpullover und eine zwar dicke, doch recht unauffällige Jacke gekleidet. Ihre dunklen Haare hatte sie in einem Dutt in der Kapuze versteckt. Insgesamt wirkte ihre Kleidung unscheinbar. Selbst die dunklen, nachbearbeiteten Ränder unter den Augen passten hervorragend zum Bild und verliehen ihr etwas Schmuddeliges. Sie wirkte wie ein langjähriger Junkie.
Eine halbe Stunde später, im Zentrum der Stadt angekommen, parkte sie ihren Wagen auf der Mittelinsel der Straße des 17. Juni und stieg aus. Schnellen Schrittes überquerte sie die Straße an der Seite, wo die meisten Prostituierten vor Kälte zitternd, dennoch knapp angezogen, standen, um dann den Schritt zu verlangsamen. Ihr Ziel war es, durch den Park im dunklen Tiergarten zum Zoologischen Garten zu gelangen, wo sie Junkies oder viel besser ihre Dealer vermutete. Doch sie hatte sich geirrt.
»Psst«, hörte sie eine Stimme und fragte sich, wie lange die Dealer geübt haben mussten, sich so unauffällig dem Kunden zu nähern. »Willst du was?« Der Dealer bewegte sich von einem Fuß zum anderen, um so kraft Muskelbewegung der Kälte zu trotzen. Dennoch klapperten seine Zähne fürchterlich, wenn er sprach.
Astrids Verkleidung entfaltete die beabsichtigte Wirkung. Immerhin wurde sie angesprochen. »Klar. Hast du ′Liquid Ecstasy′«?«, fragte sie leise.
»Du meinst ′Roofies′?« Der Dealer, ein ungepflegt wirkender, junger Mann schaute Astrid durchdringend an, als könnte er dadurch erkennen, ob sie ein Bulle war. Weder hatte er sie hier jemals gesehen, noch sah sie wie ein typischer Junkie aus. Und sie roch viel zu gut. Wahrscheinlich Frischfleisch, dachte er und schaute unauffällig um sich, ob sie eine Begleitung hatte. Aber er konnte nichts Auffälliges bemerken. Was Astrid allerdings nicht wusste, der Dealer beobachtete sie, seit sie auf dem Parkplatz angehalten hatte. Zum einen war gerade nicht viel los, zum anderen war es nicht üblich, dass Frauen in dieser Gegend um diese Zeit ohne Begleitung anhielten. Da ihr niemand folgte, entschloss er sich, es mit ihr zu versuchen. Sie roch nach Kohle. »Aber es kostet richtig.«
»Ich zahle hundertfünfzig. Aber es muss gutes Zeug sein.« Astrid wusste, dass der Preis übertrieben hoch war. Dafür war es aber nicht nachprüfbar. Den Preis war es ihr wert.
Die Augen des Dealers leuchteten auf. Er hätte ihr das Zeug auch für einen Hunderter mit einer sehr guten Marge besorgt. Doch so klang es noch deutlich besser. Schnell überlegte er, wer von seinen Kollegen ′Roofies′ zum Verkauf hatte. »Es dauert aber.«
»Dann fällt der Preis erheblich«, erwiderte Astrid trocken. »In genau zwanzig Minuten bin ich wieder da. Hast du das Zeug nicht, platzt unser Deal.« Ihr Ziel war es nun, den Wagen so unauffällig wie möglich auf die Mittelinsel der U-Bahnstation Deutsche Oper umzuparken. Es durfte keine Zeugen geben! Die paar Stationen zum Ernst-Reuter-Platz würde sie locker in der angegebenen Zeit schaffen. Es war unüberlegt, direkt vor der Nase der zwielichtigen Gestalten zu parken. Wer weiß, was sie sich alles merken konnten? Kennzeichen garantiert. Um ehrlich zu sein, hatte sie nicht erwartet, so schnell auf einen Dealer zu treffen.
Erneut schaute sie sich um, bevor sie ins Auto stieg. Sie fühlte sich nicht beobachtet und fuhr los.
Wenn man erwartete, dass Berlin im tiefsten Winter sehr spät am Abend dazu bereit war, im Schlaf zu versinken, irrte man sich. Denn Berlin schlief nie. Das konnte man nicht nur den grell erleuchteten Häusern der Bismarckstraße entnehmen, in die Astrid eingebogen war. Die sechsspurige Straße strahlte in der Dunkelheit beinahe so, als wäre es Tag, und verriet, dass für viele Hauptstadtbewohner noch nicht die Zeit für einen gemütlichen Abend auf der Couch gekommen war. Astrid fuhr noch eine Weile, bis sie in der Nähe der Deutschen Oper einen geeigneten Parkplatz in der Nähe der U-Bahn fand. Kurze Zeit später wartete sie bereits auf den Zug, der sie nach nur einer Station zum Ernst-Reuter-Platz bringen würde, wo sie sich mit dem Dealer verabredet hatte. Der Zug hatte eine leichte Verspätung von fünf Minuten, also stellte sie sich an die Wand hinter einer Säule, zog sich die Kapuze tiefer und hoffte, dass man sie im Zweifelsfalle nicht auf einem Bild erkennen würde. Vielleicht hat sich wieder einer vor die Gleise geworfen. So ein Depp!, ging es Astrid durch den Kopf.
Um diese Zeit konnte man die Vielseitigkeit der Hauptstadt erkennen. Astrid beobachtete neben sich Gestalten, zwei vermutlich junge Frauen und drei ebenso heruntergekommene Männer, die sich im Outfit nicht von ihr unterschieden, jedoch in der Duftmarke. Sie stanken nach einer Mischung aus Gras, Billigparfüm und Urin. Daneben in sicherer Entfernung zwei junge Pärchen, die ganz offensichtlich heute eine Opern-Vorstellung genossen hatten. Die Frauen trugen lange Cocktailkleider, während die Männer in teure, dunkle Anzüge gekleidet waren. Sie sprachen sehr leise, sehr gediegen und lachten gelegentlich. Während die Junkies mit lauter Stimme und obszönen Ausdrücken in Richtung der ′reichen Säcke′ diese zu übertrumpfen versuchten. Und gereizt reagierten, wenn man sie erwartungsgemäß ignorierte.
Weder bei der zweiten noch bei der ersten Gruppe fühlte sich Astrid gut aufgehoben. Als der Zug auf dem Gleis vorgefahren war, stieg sie eilig ein und wartete das gewohnte »Zurück bleiben, bitte«. Der Zug setzte sich in Bewegung, und in Sekundenschnelle vergaß Astrid, was sie in der letzten Viertelstunde beschäftigt hatte. Ihr Ziel war jetzt klar! Sie musste die nächste Station erreichen und sich zum verabredeten Platz begeben. Ihr Körper schaltete auf Automatik, während sie den Zug verließ. Ihr Kopf schmiedete dagegen weitere Pläne, wie sie zwei Menschen für immer aus ihrem Leben verbannen konnte.
»Das ist das beste Zeug, das es in der Umgebung gibt«, flüsterte jemand hinter ihrem Rücken, als sie gerade den großzügig angelegten Fußgängerweg entlang der Straße des 17. Juni in der Höhe des Hauptgebäudes der Technischen Universität passierte.
Astrid erschrak, ließ es sich aber nicht anmerken. Sie blieb abrupt stehen, nahm ein kleines Plastikfläschchen entgegen und blickte auf die Verpackung. Der Inhalt schien zu stimmen. »Woher soll ich wissen, dass du mich nicht bescheißt?«
»Kannst du nicht«, er zuckte mit der Schulter, »probieren geht über Studieren. Aber ich zwinge niemanden, mir zu glauben. Deal?«
Astrid zählte das Geld zusammen. »Deal. Hundertfünfzig. Wie lautet mein Autokennzeichen?«
»Welches Kennzeichen? Wer sind Sie?« Der Dealer machte kehrt und verschwand grinsend in der Dunkelheit, aus der er so plötzlich gekommen war. Er hatte scheinbar begriffen, dass Astrid keine Beweise hinterlassen wollte. Natürlich würde sie sich auf der kurzen U-Bahn-Strecke zum geparkten Auto vorsichtshalber umschauen. Aber sie glaubte nicht, dass jemand Interesse hatte, ihr zu folgen.
Als sie ihren Wagen erreichte, war es mittlerweile Mitternacht. Astrid wusste, dass sie in Charlottenburg in der Nähe der Platanenallee war - einer Straße mit vielen Häusern, wo sie viele Müllcontainer vermutete. Nachdem sie ihr Auto erreicht hatte, schaltete sie den Motor ein und fuhr zu ihrem Ziel los. In den am Rand stehenden Mülltonnen würde sie unauffällig einen Teil der Sachen aus der roten Kiste entsorgen. Den Rest würde sie dann später auf dem Umweg nach Hause in den kleinen Steglitzer Gassen verteilen, die im Vergleich zum Zentrum sparsam erleuchtet waren. Aber die Elektronik würde sie demnächst vorsichtshalber in der Havel versenken. Natürlich an einer der Stellen, die nicht zugefroren war. Sollte man sie finden, würde man nichts auslesen können.
Und Astrid kannte bereits eine Stelle, an der sie das jederzeit unbeobachtet tun konnte.