Kapitel 43
Samstag, 11.02.2012,
eine Woche später
»Im Leben eines Menschen gibt es Tage, die er nie wieder vergisst. Wie eine Mutter den Tag der Geburt ihres Babys«, sagte die Hebamme feierlich, als ich Ben vor sechzehn Jahren auf die Welt brachte. Dieser Satz verfolgte mich seit meiner Verhaftung immer wieder. Dabei begann der schicksalhafte Samstag überraschend schön.
»Ich bringe den Müll weg«, eröffnete mir Philippe nach einem gemeinsamen Frühstück. »Dann gehe ich mit Tammy und Muffin spazieren.«
»Wunderbar«, entgegnete ich zufrieden. »Markus hat mich gebeten, eine seiner Veröffentlichungen durchzusehen. Er wollte wissen, was ich davon halte.«
Auch wenn die Erwähnung meines Ex-Ehemannes ihm immer noch nicht besonders gefiel, so ließ Philippe es nicht anmerken. Unsere freundschaftliche Beziehung zueinander setzte ihm zu. Dennoch gab es keinen Grund, ihm etwas zu verschweigen.
»Ich werde nicht zu lange daran sitzen«, versprach ich. Da Philippe in der letzten Woche geschäftlich viel unterwegs war, stand ihm das uneingeschränkte Wochenende mit der Familie zu. Und auch ich freute mich schon auf ihn.
»Was sein muss, muss sein«, sagte er mit leicht wahrnehmbarer Verärgerung in der Stimme, die sich schnell legte, als unsere Tochter zu gurren anfing. Sie war nicht nur das Beste, was uns beiden passieren konnte. Sie entspannte auch jede kritische Situation.
»Soll ich Tammy schon anziehen?«, fragte ich, während ich mich vom Platz erhob, um meinem Verlobten einen Versöhnungskuss zu geben.
»Können wir nicht noch ein wenig damit warten? Ich habe eine Idee, was mir besser gefiele«, zwinkerte er mir zweideutig zu.
»Was hältst du davon«, grinste ich, »... wenn du mit den beiden spazieren gehst und wir es uns nachher, wenn das Baby schläft, gemütlich machen?«
»Nicht viel«, entgegnete er. »Aber was sein muss ...«
»... muss sein«, wiederholte ich Philippes Worte. »Zieh dich lieber warm an. Draußen ist es wirklich sehr kalt. Und vermutlich auch recht glatt.«
Etwas später sah ich Philippe zu, wie er die verschneite Einfahrt mit dem Kinderwagen verließ. Muffin wedelte voller Freude mit dem buschigen Schwanz an seiner Seite. Mir fiel auf, wie stark sich ihre cremefarbene Fellfarbe von den verschneiten Wegen unterschied. Als ihre Silhouetten in der Ferne immer winziger wurden, schloss ich wieder die Eingangstür, setzte mich im Wohnzimmer vor meinen Laptop und begann den wirklich bemerkenswert gut geschriebenen Artikel von Markus zu lesen.
Die Zeit verflog an diesem Tag wie im Flug. Als Philippe wieder zurückgekommen war, unterbrach ich widerwillig meine Arbeit. Aber die gemeinsame Zeit am Wochenende war mir wichtiger.
Es war bereits sieben Uhr, als mir einfiel, dass ich am Freitag vergessen hatte, Windeln zu kaufen. Alles in allem hatten wir vielleicht noch zwei Stück. Bis Montag würde es nicht reichen. Nicht mal bis morgen, wenn wir Pech hatten. Dadurch, dass Philippe in letzter Zeit unsere Tochter liebevoll versorgt hatte, damit ich Markus helfen konnte, hatte ich es vergessen.
»Ich gehe die holen, okay?«, erklärte ich. »Aber ohne Muffin. Auch wenn es nicht lange dauert, doch ich kann sie nicht draußen vor dem Laden in der Kälte anbinden ...«
»Es ist zu dunkel. Ich mache es!«, widersprach mir Philippe.
»Ach, Quatsch! Ich mach das schon!«, entgegnete ich. Ein kleiner Spaziergang würde meinen Kopf frei machen.
Was ich Philippe nicht ehrlich erzählt hatte, war, dass mir Markus′ Artikel im Kopf herumschwirrte. Irgendetwas gefiel mir nicht in seiner Argumentation. Doch was? Konnte ich nicht sagen. Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um das Thema, um den logischen Fehler zu finden. Doch so schön es war, im Hintergrund mein Baby brabbeln oder meinen Verlobten sprechen zu hören, konnte ich mich nicht auf das Wesentliche konzentrieren. Der Weg zum Supermarkt kam mir daher wie gerufen.
»Na gut, dann bis gleich«, sagte er geistesabwesend, während ich Stiefel und meine dickste Jacke anzog. Muffin war blitzschnell an der Tür.
»Na gut, aber nur ganz kurz«, ließ ich mich auf ihren Hundeblick ein und rief ins Hausinnere: »Vorher gehe ich noch mit dem Hund ganz kurz raus.«
Einige Zeit später befand ich mich schon auf dem Weg zum Supermarkt. Diesmal ließ ich mir Zeit, denn ich wusste, dass Tammy bestens versorgt war. Die Papa-Tochter-Zeit gönnte ich den beiden. Dass mir auf dem Weg zum Supermarkt jemand folgte, wäre mir nicht mal im Traum eingefallen.
Bereits in der Nähe einer kleinen, dunklen Gasse spürte ich plötzlich einen Ruck an meiner Schulter. Instinktiv wollte ich mich umdrehen, als eine Stimme mir von hinten ins Ohr flüsterte: »Das, was du im Rücken spürst, ist eine Waffe. Sie ist auf dich gerichtet. Nur eine Bewegung, und ich knalle dich ab. Wenn du gehorchst, lasse ich dich laufen. Ich will nur dein Geld.«
Vor Panik war ich unfähig, mich zu bewegen. Die Stimme klang weiblich, doch ich traute mich nicht zu schauen, wer die Person war, die mich bedrohte. Kein Zweifel, dass es die Mündung einer Waffe war, die auf meinem Rücken zu spüren war. Mich vom Gegenteil überzeugen wollte ich nicht. Der Angreifer hatte sich die beste Zeit ausgesucht. Die Straße war menschenleer.
»Sie können mein ganzes Portemonnaie haben«, sagte ich leise.
»Schnauze!«, zischte es hinter mir. »Weitergehen. Keine Tricks! Du hast doch mehr auf der Bank, oder?«
Durch meinen Kopf schossen viele Gedanken, wie ich mich möglicherweise befreien konnte. Doch meinen Körper schien es nicht zu kümmern. Der Angreifer zwang mich auf einen anderen Weg. In Richtung meines Hauses ... Zu Tammy und Philippe,
stellte ich entsetzt fest. Zwar könnte Philippe uns verteidigen. Doch nicht, ohne vorgewarnt worden zu sein,
überlegte ich mit steigendem Entsetzen.
Soweit kamen wir nicht. Nach ein paar Schritten hielten wir an, und der Angreifer zwang mich, hinter das Steuer eines Autos zu steigen. Wieder gehorchte mir mein Körper nicht. Panische Angst blockierte meine Gedanken. Es war surreal! Mein Angreifer half mir unerwartet. Die Frau, wie ich vermutete, setzte sich direkt hinter mich und bestimmte, was ich zu tun hatte.
Als der Motor startete, ahnte ich bereits, dass genau das ein großer Fehler war. Nur in wenigen der mir bekannten Fälle war das Opfer, das von einem Täter in ein Fahrzeug gezwungen worden war, lebend aufgefunden worden. An der Tatsache, dass wir uns von meinem Zuhause entfernten, war nur eines gut: Vorerst war nur ich in Gefahr.
Geistesgegenwärtig prägte ich mir alle Einzelheiten des Wagens, ein: die Farbe der Armatur, die Farbe der Sitze, die Form der Frontscheibe, den mit Stoff bedeckten Innenspiegel, damit ich keinen Blick nach hinten werfen konnte. Es war ein kleiner, weißer Toyota mit der Aufschrift einer Autovermietung. All das notierte ich in meinem Kopf, während ein Teil meines Gehirns den Befehlen meines Angreifers und den Straßengegebenheiten folgte. Unser Weg führte nicht, wie ich es sonst von Berlin gewohnt war, über die Stadtautobahn, sondern durch kleine Straßen, die ich selbst nicht kannte. Und es dauerte recht lange, bis wir am Ziel angekommen waren.
»Wir könnten doch hier ranfahren«, sagte ich, als ich eine Bankfiliale sah. »Dann kann ich das Geld abheben.«
Der Angreifer ignorierte mich.
»Jetzt links ran«, sagte die Stimme hinter mir. Ich fuhr in eine verlassen wirkende Sackgasse. » Und halten!«
Nun ist es soweit. Ich werde mich gleich verteidigen müssen. So leicht kriegt sie mich nicht,
ging es mir durch den Kopf.
Nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war, sah ich plötzlich eine von hinten nach vorn gestreckte Hand mit einer Flasche Wasser.
Der Angreifer trug eindeutig filigrane Handschuhe. Frauenhandschuhe.
»Trink aus!«, befahl mir die Frau. »Zur Information. In der anderen Hand halte ich immer noch die Waffe. Wenn du nicht tust, was ich sage, stirbst du. Dann dein Baby. Mit deiner Tochter werde ich mir besonders viel Mühe geben. Versprochen. Also, TRINK!«
Sie kennt mich,
dachte ich, und die Nackenhaare stellten sich bei mir auf. Die Panik stieg in mir hoch und drohte mich zu ersticken. Das war kein bloßer Überfall. Diese Frau kennt mein Baby! Sie wird zuerst mich und dann Tammy töten,
dachte ich entsetzt.
Plötzlich streckte die Angreiferin meinen Kopf nach oben zum Dach des Wagens. Mit der anderen Hand, die sie vorher vom Handschuh befreit hatte, griff sie an meine Kehle, als wollte sie mich eigenhändig erwürgen. Doch sie drückte nicht zu. Offensichtlich wollte sie lediglich die Kontrolle darüber behalten, dass ich austrank, ohne sich mir zu zeigen. Der Innenspiegel war nach wie vor verdeckt.
»KEINE TRICKS! TRINK ENDLICH«, sagte sie übertrieben langsam. »Du stillst doch, du dummes Weib. Das Baby wird Milch brauchen, wenn ich dich Zuhause absetze!«
»Zuhause?« »Absetzen« klang erstmal sehr hoffnungsvoll. Daran wollte ich glauben, obwohl ich meine Zweifel hatte. Und auch die Sorge um meine Tochter war ein gutes Zeichen, dachte ich. Natürlich konnte ich einen Teil der Flüssigkeit an meinem Kinn unbemerkt heruntertröpfeln lassen. Der größere Teil gelangte trotzdem in meine Kehle.
»Braves Mädchen«, lobte sie mich, als ich meine Hand mit der leeren Flasche sinken ließ. Unmittelbar darauf fühlte ich mich schwindelig. Mir wurde übel.
»Schau mal, ich habe was für dich!«, sagte die Frau und reichte mir eine volle Vodkaflasche. »Erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Partys, Juli? Noch bevor du Philippe kennengelernt hast?«
Ich nickte. Alles um mich drehte sich. Ich konnte meine Gedanken nicht zusammenkriegen.
»Dann weißt du, dass du einiges verträgst, nicht wahr?«, sagte die Stimme besänftigend. »Trink ruhig alles aus.« Irgendetwas in mir kämpfte noch dagegen, doch nach einer Weile tat ich, was sie mir befahl.
Plötzlich öffnete sich die Fahrertür, und die Frau half mir aus dem Wagen. Sie erinnerte mich an jemanden, den ich kannte. An wen, konnte ich nicht sagen. Meine Gedanken waren zu sehr durcheinander.
»Wir wechseln die Plätze, mein Schatz«, hörte ich die Frau sagen. Mittlerweile war es mir egal, wer sie war. Die Stimme hatte das Sagen. Während ich die Flasche mit der rechten Hand an meinen Mund hielt, spürte ich, wie mein Arm abgeklemmt wurde. Nach einer Weile folgte ein Stich in meine Armbeuge. Zwar nahm ich es wahr, doch es interessierte mich nicht mehr. Es tat nicht mal weh. Die Frau hielt eine Spritze in meiner Ader, die sich nun vollständig mit einer roten Substanz füllte.
»Wozu brauchst du mein Blut, Astrid?«, fragte ich mit letzter Kraft, als wäre ich vollkommen betrunken. Nur schien mir das Sprechen genauso schwer zu fallen, wie meine Gedanken zu fokussieren.
Astrid Schneider ignorierte meine Frage. »Es ist nicht mehr weit. Bleib bei mir«, hörte ich sie sagen, während sie das Auto wieder in Bewegung setzte.
Und obwohl ich eigentlich bei Bewusstsein war, schien mir die Welt plötzlich absolut gleichgültig zu sein.
Zur gleichen Zeit wurde in einem Reihenhaus in Zehlendorf ein Notruf nach einer vermissten Frau von ihrem besorgten Verlobten abgesetzt.