Kapitel 45        
Freitag, 29.06.2018,
Berliner Frauen-JVA
Auch wenn die Räume seit mehr als sechs Jahren für mich zum Alltag gehörten, weigerte ich mich, das Gefängnis als meine rechtmäßige Bleibe anzuerkennen. Zumal sich meine Haft langsam dem Ende näherte. Nur noch zwei Jahre, und der Mord an Andreas Lange wäre gesühnt.
Doch leider traf die Sühne ein weiteres Opfer eines grausamen Komplotts.
Mein Rechtsanwalt verspätete sich etwas, doch ich nahm es ihm nicht übel. Vielmehr gierte ich darauf, ihm von unserem gesuchten 'Wunder' zu erzählen. Mittlerweile war ich überzeugt davon, dass nicht ich für den Mord verantwortlich war. Ich kannte die Täterin. Doch würde mir jemand glauben?
Im Gebäude der Frauen-JVA ließ man die Jalousien herunterfahren, um die starke Sonneneinstrahlung zu mindern. Normalerweise fand ich das traurig. Die Sonnenstrahlen hoben meine in letzter Zeit oft gedrückte Gemütsverfassung. Doch heute brauchte ich es nicht. Heute war mir alles egal. Außer, dass der Anwalt endlich in dem Raum erschien. Voller Hoffnung versuchte ich meine freudige Aufregung Minute um Minute zu unterdrücken.
Die Uhr zeigte bereits fünf nach zehn, als sich endlich die Tür öffnete. Ein in einen grauen Anzug gekleideter Mann mittleren Alters trat ein. Auf ihn traf alles zu, was man an Vorurteilen über Rechtsanwälte hatte. Sein Alter schätzte ich auf etwa fünfundfünfzig, wenn man die leicht ergrauten Haare und den stilvollen Auftritt in Verbindung brachte. Uns unterschieden also im höchsten Fall fünf Jahre. Und dennoch strahlte er auf mich eine leicht distanzierte Autorität aus. Aber nicht auf unangenehme, herrische Weise. Eher männlich, fast väterlich, würde ich sagen. Wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Es stellte sich nicht für einen Augenblick die Frage, wie dieser Mann aufgewachsen war. Das Vermögen war schon seiner selbstsicheren Art anzumerken.
»Guten Morgen, Professor Hoffmann», lächelte er und gab mir die Hand zur Begrüßung. Mir fiel dabei auf, dass an seiner rechten Hand der Ehering fehlte. Aber ich erwähnte es nicht.
»Guten Morgen, Doktor von Bayer«, lächelte ich zurück. »Ich habe Ihr Wunder gefunden, schätze ich.« Es sprudelte aus mir heraus.
»Okay, lassen Sie es mich hören.« Er zeigte sich sehr interessiert. »Denn auch ich hätte für Sie eine Kleinigkeit. Dazu aber später mehr.«
»Nur eine Bitte, bevor ich anfange«, sagte ich schüchtern. Nicht nur, dass der Mann mir Respekt einflößte. Ich wollte nur nicht, dass er es falsch verstand.
Mein Anwalt verdrehte unmerklich den Kopf. Meine Äußerung schien ihn überrascht zu haben.
»Nun«, begann ich. »Ich würde mich freuen, wenn wir endlich auf die Formalien verzichten und uns beim Vornamen nennen würden, wenn es Sie nicht stört. Die Titel stören doch, oder? Ich heiße Julia...«, platzte es aus mir heraus. In den Räumen der JVA erschien mein Titel so deplatziert, dass es sich beinahe wie Spott anhörte. Es klang für mich wie ein Vorwurf, einst so viel erreicht und dann nichts daraus gemacht zu haben.
»Einverstanden«, grinste mein Anwalt. »Dann nennen Sie mich Henrik.« Während er dasaß, fiel mir ein winziger Bauchansatz auf, der ihn endlich etwas weniger makellos erscheinen ließ. Auch er hat kleine Makel, dem Herrn sei Dank, freute ich mich insgeheim.
»Wunderbar, dann hätten wir zumindest diesen Teil hinter uns«, seufzte ich erleichtert. »Was haben wir?«, begann ich, und mein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Wir haben eine männliche Leiche, die DNA-Spuren unter ihren Fingernägeln trug, meine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe und auf den Bildern. Sowie blutige Abdrücke in der gesamten Wohnung. Wir haben ein Motiv, denn dieser Mann hatte mich gestalkt. Vielmehr, er hatte mich fotografiert, sich beim Einbruch sogar beim Onanieren abgelichtet, meine Sachen angezogen - insgesamt lauter Dinge getan, die man kaum aussprechen möchte. Und wir haben einen computergeschriebenen Zettel mit seiner Adresse, ebenfalls mit meinen Fingerabdrücken darauf.«
»Genau«, bestätigte mein Rechtsanwalt. »Eine ziemlich eindeutige Lage, weshalb der Staatsanwalt Sie damals zu dem Deal mit dem Schuldeingeständnis bewegt hat, um die Strafe so milde wie möglich ausfallen zu lassen. Aber auch ich war nicht untätig. Mir fiel auf, dass einige der Beweise nicht vorschriftsmäßig behandelt wurden, weshalb eine erneute Revision möglich wäre. Das reicht nicht zur Wiederaufnahme des Verfahrens aus, doch über eine Revision könnten wir tatsächlich nachdenken. Es sei denn, dass Ihr Wunder mich noch mehr überzeugt.«
Er hatte eindeutig seine Aufgaben gemacht. Ich tippte darauf, dass ihn Markus über das ganze Verfahren informiert hatte.
»Und wie es das tun wird, Henrik«, erwiderte ich mit leuchtenden Augen. »Letzten Sonntag war meine Tochter Tammy zu Besuch bei mir. Sie kommt nach dem Sommer in die Schule.« Meine Augen leuchteten vor Freude, während mir Henrik von Bayer schweigend mit seinem Blick folgte. »Also, als meine Tochter bei mir zu Besuch war, zeigte sie mir ein Medaillon. DAS MEDAILLON! Das mir einst von meinem angeblichen Opfer gestohlen wurde. Und was man nach dem Mord im Rahmen der Untersuchungen nicht finden konnte. Anders gesagt: Bei meinem Opfer fand man einige der gestohlenen Gegenstände, nur nicht den alten Laptop und nicht diese Kette. Damals erklärte man es sich so, dass er vielleicht beides verkauft hatte, was ich für Unsinn hielt. Beides ohne materiellen Wert. Nun taucht aber die Kette wieder auf.«
»Wie ist das möglich? Vielleicht eine Kopie oder so etwas?«, dachte er laut mit.
»Nein«, ich schüttelte verneinend meinen Kopf. »Es ist MEIN Erbstück. Darauf verwette ich meinen Kopf, dass die Kette echt ist. Die Frage, die sich tatsächlich stellt, ist, wie meine Tochter in ihren Besitz gekommen ist? Und die Antwort ist so einleuchtend, dass es wehtut.«
»Ich bin auf Ihre Theorie gespannt.« Henrik von Bayer schien tatsächlich verblüfft zu sein.
»Als ich verhaftet wurde«, fing ich an, »stellte sich nicht die Frage, ob ich schuldig bin oder nicht. Ich habe mich sogar schuldig bekannt, OBWOHL ich keinerlei Erinnerungen an die Geschehnisse vom 11.02.2012 hatte. Hat man Ihnen vermutlich erzählt. Ich hatte damals einen Filmriss, was den Abend betraf. Da der Alkoholtest positiv ausgefallen war, dachten wir zuerst, dass Alkohol den Gedächtnisverlust verursacht hatte. Zumal nichts anderes in meiner Blutbahn nachgewiesen werden konnte. Jedoch ... Es gibt noch eine Substanz, die eine ähnliche Wirkung verursacht. Es ist die sogenannte GHB, oder Gamma-Hydroxybuttersäure. Der Volksmund nennt das K.O.-Tropfen oder Roofies.«
»Klar«, erwiderte mein Anwalt. »Gerade in Strafverfahren haben wir manchmal damit zu tun. Die Opfer werden betäubt und binnen Minuten gefügig gemacht. Die Substanz steht oft in Verbindung mit Vergewaltigungen. Denn die Opfer wirken zuerst, als wären sie betrunken, was es den Tätern erlaubt, zum Beispiel eine Diskothek Hand in Hand mit der vermeintlich betrunkenen Partnerin zu verlassen, ohne besonders aufzufallen. Das Gemeine dabei ist, dass die Droge nach zwölf Stunden praktisch nicht mehr nachweisbar ist. Im Blut sogar deutlich früher, weshalb die Täter nicht belangt werden können. Das Opfer kann praktisch alles behaupten, ohne es beweisen zu können. Dann steht Aussage gegen Aussage, was für mich eine sehr dünne Sachlage bedeutet.«
»Eine viel wichtigere Eigenschaft der Droge ist aber«, ich konnte meine Aufregung kaum verstecken, »dass das Opfer sich an Geschehnisse unmittelbar nach der Aufnahme nicht mehr erinnern kann. Oder ...«, ich verbesserte mich, »nicht BEWUSST erinnern kann. Unterbewusst möglicherweise schon. Deshalb leiden manche Opfer an sogenannten Flashbacks, wenn sie einen bestimmten Geruch oder eine bestimmte Stimme wahrnehmen. Die Erlebnisse kann man unter Umständen mithilfe von Hypnose zurückrufen ...«
»Okay, verstanden.« Henrik von Bayer nickte. Dennoch sah ich ihm an, dass er keinen Zusammenhang zu meinem Fall sah.
»Nun«, fuhr ich fort. »Stellen wir uns mal vor, dass man mich so betäubt hätte. Dann wäre doch erklärbar, warum es keine Spuren gibt, wie ich zum Tatort kam, oder? NIEMAND erinnert sich, wie ich dort angekommen bin. Dabei muss ich quer durch Berlin gefahren sein. Von Zehlendorf bis Mitte ... BETRUNKEN? Warum tauchte nie ein Taxifahrer oder ein sonstiger Zeuge auf, der mich gesehen hätte? Der Fall war damals so brisant, dass er in den Nachrichten lief. Und Andreas Lange wurde vor Mitternacht und noch vor meinem Besuch im Lebensmittelladen erstochen. Zu dieser Zeit müssen doch die öffentlichen Verkehrsmittel voll mit Passagieren gewesen sein, oder? ES WAR EIN SAMSTAG und recht kalt draußen. An eine Strecke quer durch Berlin würde sich doch ein Taxifahrer erinnern, oder?«
»Wahrscheinlich schon«, bestätigte mein Rechtsanwalt. »Okay, dann wurden Sie betäubt, vermutlich alkoholisiert und hingebracht. Wie können wir das beweisen? Nach Jahren? Hypnose ist kein Beweismittel, selbst wenn es möglich wäre, es nachzuweisen.«
»Nein«, erwiderte ich. »Hypnose wäre in meinem Falle nur dazu gut, mich an den Tag zu erinnern. Eine Erinnerung hatte ich aber, der man keine Beachtung schenkte. Sie steht irgendwo in den Unterlagen. Ich hatte damals behauptet, entführt worden zu sein. Doch mein damaliger Anwalt hielt dies für irrelevant. Ich sollte einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingehen, um uns allen einen langwierigen, schmerzhaften Prozess zu ersparen, den ich sowieso verlieren würde. Also wurde dem nicht nachgegangen. Meine Aussage würde aber erklären, wie ich zum Tatort gekommen bin, nicht wahr?«
»Einverstanden, das ist aber noch nicht alles?«
»Ich komme langsam in Fahrt«, erklärte ich mit hämischem Grinsen. »Denn was für eine Fülle von Beweisen am Tatort gefunden wurde, wissen Sie von meinem Ex-Ehemann. Und alles davon hat mich belastet. Alles. Das kann doch kein Zufall sein. Viel wichtiger ist aber genau das, was wir nicht fanden, oder? Was wir nicht fanden, waren: mein Laptop, mein Medaillon, meine Unterwäsche. Warum behält ein Stalker, der aus perversen Gründen bei mir eingebrochen ist, nur einen Teil meiner Unterwäsche? Den Rest schmeißt er aber weg? Klingt unlogisch. Viel wichtiger: Wo hat er die gestohlene, wertlose Kette versteckt? Die Kripo hat sicherlich die gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt.«
»Vielleicht hat es jemand vorher vom Tatort entwendet?«, überlegte mein Anwalt.
»Möglich wäre es ...«, gab ich zu. »Genauso möglich ist aber auch, dass er es jemandem gab, der genau wusste, was es mir bedeutete. Und sie für sich behielt. Und nun, da es nicht mehr prozessrelevant ist, meiner Tochter gab. Finden Sie nicht?«
»Klingt plausibel«, nickte Henrik bestätigend. »Zumindest würde es erklären, wie Ihre Tochter zu dem Medaillon kam. Wer soll die geheimnisvolle Person sein? Dazu haben Sie sicherlich auch eine Erklärung parat, oder?«
»Laut Aussage meiner Tochter kann es nur die Person sein ...« auf diese Frage hatte ich mich besonders gefreut, seit ich ihren Plan begriffen hatte, »die meinen wertvollsten Schatz will: mein Kind. Es ist meine Freundin, Astrid Schneider. Sie als einzige profitiert davon, dass ich im Gefängnis sitze. Die Zeugen im Haus behaupteten, dass sie an jenem Tag eine weibliche Stimme im Flur hörten. Was wäre, wenn sie ZWEI weibliche Stimmen im Flur gehört hätten, ohne es zu wissen? Astrids Stimme klingt ähnlich wie meine.«
»Gut, möglich wäre alles«, stellte Henrik von Bayer mit einem Schulterzucken fest. »Sie wurde zwar damals laut Unterlagen überprüft und hatte ein sehr gutes Alibi. Doch diesem nochmal nachzugehen, schadet nicht.« Er überlegte kurz. »Aber was war ihr Motiv? Ihnen das Kind auf diese Weise zu stehlen?«
»Nun«, sagte ich überzeugt, »auch zu dieser Frage habe ich mir reichlich Gedanken gemacht, seit meine Tochter mir die Kette am Sonntag gezeigt hat. An jenem Tag, als ich Astrid in der Chirurgie kennenlernte, wurde sie am Arbeitsplatz von einer anderen Frau bedrängt. Die Frau, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, schimpfte lautstark und bat Astrid, sie in Ruhe zu lassen. Mir erschien das damals seltsam, wie ähnlich sie sich äußerlich waren. Wie Schwestern. Doch kaum war Astrid mit mir befreundet, änderte sich nicht nur ihr Kleidungsstil, sondern auch ihre Frisur. Plötzlich glich sie mir wie ein Zwilling. Das war auch der Grund, warum ich damals Abstand von ihr brauchte. Unsere Freundschaft wurde wieder frisch, als sie und ich schwanger waren. In meiner Naivität dachte ich, dass sie sich als werdende Mutter geändert hätte. Doch dann verlor sie ihr Baby ... Vielleicht löste das irgendein Trauma in ihr aus? Mein Kind liebte sie jedenfalls von der ersten Minute an.«
»Um ehrlich zu sein, klingt die Geschichte sehr wirr und etwas unglaubwürdig, aber ich spinne sie mit Ihnen weiter. Ich will keine offenen Fragen«, gab mein Rechtsanwalt ehrlich zu. »Ihr Verlobter hat keine deutsche Staatsangehörigkeit. Könnte sich Ihre Freundin Chancen auf eine Adoption Ihres Kindes ausgerechnet haben, falls man den Vater des Landes verweisen würde? Sie können im Moment nicht für Tammy sorgen. Ihr Kind hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Könnte sie denken, dass man für das Wohl des Kindes entscheiden würde?« Henrik schien auch über meine persönlichen Verhältnisse bestens informiert zu sein. Das war großartig!
»Oh, Gott, klar«, diese Vorstellung entsetzte mich, »sie hat sich sehr viel Mühe gemacht, dass sich meine beiden Kinder nicht verstehen. Genau genommen ist Astrid in ihrer vermeintlichen Sorge um meine Tochter darum bemüht, dass sie so wenig Kontakt mit ihrer leiblichen Familie hat, wie es nur möglich ist. Bei einem ihrer Besuche erzählte mir Tammy, dass Astrid nicht mal gern sieht, wenn Nachbarskinder zu uns kommen. Aber immer, wenn ich darüber mit meinem Verlobten spreche, bagatellisiert er das und hält mich für paranoid«, beklagte ich mich. Endlich jemand, der mich ernst nahm. »Ich verstehe zwar, dass Philippe Hilfe bei der Erziehung unserer Tochter brauchte und immer noch braucht. Und dass Astrids Hilfsbereitschaft enorme Vorteile bietet. Nicht nur, dass sie es umsonst tut. Obendrauf vergöttert sie unsere Tochter und ist äußerst flexibel. Wenn Philippe sie braucht, ist sie jederzeit einfach da. Aber ...«
»Verrückt klingt das«, Henrik von Bayer unterbrach mich. »Es wird mir einiges an Arbeit abverlangen, das zu beweisen. Aber okay! Nochmal zum Anfang: Ihre Tochter hatte das Medaillon also um den Hals, als sie Sie besuchte? Könnte es auf einem anderen Wege zu Astrid Schneider gelangt sein? Vielleicht wurde es aus der Wohnung von Herrn Lange gestohlen? Oder ähnlich? Kannte diese Frau das Opfer persönlich? Im Zeugenstand hatte sie es verneint. Wir brauchen aber eine wirklich gute Verbindung zwischen den beiden.«
Ich überlegte kurz. Aber ... Kann das die Möglichkeit sein? Verdammt! »Vielleicht gibt es da eine Verbindung«, klatschte ich vor Aufregung in die Hände, »damals, als Andreas Lange mir nachgestellt hat, fand ich Zigarettenstummel und eine Mütze von ihm im Garten. Es war zwar kein feiner Schachzug, doch ich ließ die DNA in meinem Institut bestimmen. Astrid versprach mir damals, sich mit irgendeinem Freund ihres Vaters zusammenzuschließen. Sollte das Profil dieses Mannes in der Datenbank existieren, würden wir den Stalker schon ausfindig machen. Doch angeblich gab es keinen Treffer. Was, wenn doch? Dann hätte sie rein theoretisch zumindest seinen Namen kennen müssen.«
»Dazu könnte man Zeugen aufsuchen«, nickte der Anwalt motiviert. »Irgendjemand wird auch Ihnen geholfen haben, das DNA-Profil zu erstellen. Vielleicht finden wir dazu Beweise in Ihrem ehemaligen Büro? Und vielleicht werden wir fündig, was diesen Freund des Vaters von Astrid Schneider betrifft? Das ist schon jede Menge. Aber wir brauchen mehr! Wir brauchen einen Beweis, welcher Ihre Freundin direkt mit dem Tatort in Verbindung bringt. Alles andere klingt etwas zu dünn.«
»Wie wäre es mit Hypnose? Vielleicht erinnere ich mich an mehr Details?«
»Klingt gut«, bestätigte Henrik von Bayer. »Nur vor Gericht wird das vermutlich als Hokuspokus abgetan. Ich werde es dennoch veranlassen. Vielleicht erinnern Sie sich an etwas, das Sie noch nicht erwähnt haben? Vielleicht zu dem Gefährt, mit dem Sie am Tatort angekommen sind?«
Plötzlich kam mir eine verrückte Idee in den Kopf. Ich atmete tief durch, bevor ich mich entschloss, sie zu äußern. »Astrid scheint keine Angst zu haben, dass ihr Plan auffliegen könnte. Sie wiegt sich in Sicherheit, und dennoch will sie mich von ihrer Genialität nach Jahren überzeugen. Sie MUSSTE das Medaillon meiner Tochter nicht schenken! Aber sie tat es! Vielleicht würde sie mir auch von ihrer Tat erzählen? Wäre ihr Geständnis vor Gericht verwendbar?«
Henrik von Bayer lachte auf. »Das wäre das Beste, was uns passieren könnte. Uns würden Türen zur Wiederaufnahme des Verfahrens offenstehen. Aber es würde für Astrid Schneider bedeuten, dass sie hinter Gitter käme. Welchen Anreiz hätte sie, das zu riskieren? Nein, das wird sie doch niemals tun. Sie wäre doch verrückt!«
»Ich glaube, ich weiß, wie ich sie zum Reden bringen könnte«, sagte ich mit innerer Überzeugung. »Lassen Sie sich überraschen. Vielleicht brauche ich dazu zu gegebener Zeit Hilfe von Ihnen? Doch das werden Sie noch erfahren. Aber ich bin überzeugt, dass ich Ihnen ein Geständnis liefern kann.«
»Sie sind eine erstaunliche Frau, Julia«, stellte Henrik von Bayer mit Anerkennung fest. Dabei grinste er.
»Jetzt sind Sie an der Reihe, Henrik«, lachte ich, während mich mein Anwalt würdigend beäugte. Seine grünen Augen spiegelten die wenigen Sonnenstrahlen, die die nun hochgezogenen Jalousien durchließen. Sie glitzerten verführerisch. Doch es war mir egal, denn zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich stark. Ich hatte Astrids teuflischen Plan begriffen! Und war bereit, zurückschlagen. »Sie sagten am Anfang, Sie hätten eine kleine Überraschung für mich. Was ist es?«
»Ach!«, grinste er. »Ich wollte erzählen, dass ich in zwei Wochen einen Termin im Gericht habe. Wir stellen einen Antrag auf ein Additionsverfahren. Das ist sozusagen immer der Anfang eines Wiederaufnahmeverfahrens und muss dann natürlich noch genehmigt werden. Nur, dass wir eine besonders eilige Behandlung bekommen. Fragen Sie einfach nicht, warum. Wenn die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, stimmt, sind Sie vielleicht bis Weihnachten wieder Zuhause, wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle. Das hängt wiederum davon ab, wie überzeugend wir im zweiten Schritt, dem Probationsverfahren, werden. Darin werden die Beweismittel nochmal einer Prüfung unterzogen. Meine Aufgabe wird sein, Ihre Geschichte stichhaltig zu beweisen. Sie haben tatsächlich Ihr Wunder geliefert, Julia.«
»Das klingt wie ein Traum«, sagte ich, plötzlich von Henriks Worten gerührt. Spätestens jetzt wusste ich, dass ich alles dafür tun würde, meinen Namen reinzuwaschen. Notfalls würde ich über Leichen gehen!
»Wir haben nur ein Problem«, Henrik von Bayer löschte meine Begeisterung, »wie erklären wir die vorhandenen DNA-Spuren am Tatort? Oder das DNA-Material unter den Fingernägeln des Opfers?«
Kurz schaute ich den Mann an, der dabei war, mir die Hoffnung zu nehmen, die er mir gerade geschenkt hatte. Dann hob ich meine Hand in Richtung seiner. Mir fiel auf, wie gepflegt seine Hände waren. Eigentlich erwartete ich, dass er sich unwohl fühlen würde, doch er verfolgte meine Bewegung mit steigendem Interesse. Ich genoss es, Emotionen in Menschen zu wecken. Zu lange war ich eingesperrt gewesen. Und dieser Mann bedeutete für mich Freiheit. Er glaubte an mich!
Als meine Hand ganz langsam auf seinen Handrücken glitt, kratzte ich ihn merklich, aber nicht allzu stark. Gerade genug, dass man Spuren meiner Fingernägel auf seiner Haut sehen konnte.
Henrik von Bayer verzog leicht das Gesicht, doch er gab sich nicht die Blöße, etwas zu sagen.
»Wollen wir wetten«, sagte ich langsam und deutlich, »dass ich Ihre DNA unter meinen Fingernägeln habe?« Ich ließ den Satz kurz so stehen. »Entscheidend ist doch nur«, setzte ich fort, »wo und wieviel Sie von Ihrer Erbsubstanz bei mir hinterlassen haben.«
»Sie sind ...«, in den Augen von Henrik von Bayer spiegelte sich Bewunderung wider, »der Hammer. Einen Menschen wie Sie habe ich noch nie getroffen ...«
»Vergessen Sie das nicht«, lachte ich auf, »vor einiger Zeit war es meine Aufgabe, solchen Fragen nachzugehen. Es gibt Dinge, die man nicht vergisst.«
»Okay - und das Blut?«, fragte er amüsiert. »Werden Sie mir sagen, dass ich mir die Spritzmuster anschauen soll, weil man das wegen Ihres Schuldbekenntnisses nicht ausreichend untersucht hat?«
»Sie lernen schneller, als ich dachte«, entgegnete ich feixend.