MARIE

D en Schirm in der linken, den Koffer in der rechten Hand, stand sie endlich vor dem Schlosstor. Von Bayern lautete der Name auf der Klingel, als wohnte hier ein ganz gewöhnlicher Bayer und nicht der Kronprinz persönlich. Sollte sie läuten oder einfach hineingehen? Sie lugte auf ihre schlammverspritzten Schuhe und klappte den Schirm zu. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Sie zog ein Stofftaschentuch aus der Rocktasche, wischte über das Leder, bis die Schuhe einigermaßen glänzten, und ging an dem Eingangsportal vorbei, an ein paar niedrigen Häusern entlang. Von der Schlossfassade bröckelte der Putz, die meisten Fenster waren mit Brettern vernagelt. Trotzdem wirkte das Gebäude mit seinen schräg stehenden Ecktürmen, auf denen geschwungene Runddächer thronten, märchenhaft verwunschen. Von einer der Turmspitzen hätte man bestimmt eine herrliche Aussicht bis zum See, dachte sie, hier zu arbeiten musste ein Traum sein.

»Can I help you, Frolein?«, fragte ein Mann in einer aufgeknöpften Uniformjacke, der den Weg zu den Ställen fegte. Marie erschrak und zuckte bei dem Akzent zusammen. Dass auf dem Gestüt Amerikaner arbeiteten, hatte in der Stellenausschreibung nicht gestanden, sonst hätte sie sich niemals beworben. Für viele waren die russischen Besatzer der Inbegriff des Bösen, Marie hatte andere Erfahrungen gemacht. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber dann hätte sie den ganzen Weg umsonst auf sich genommen, noch dazu bei diesem Wetter. Sie versuchte, die in ihr aufsteigende Panik zu ignorieren, und räusperte sich.

»No, äh, yes, please.« Am Ende ihrer Englischkenntnisse angelangt, redete sie auf Deutsch weiter. »Ich möchte zu Herrn Dülmen bitte.« Der Kerl kam ihr zum Glück nicht näher, zeigte nur zu einem Pferdeanhänger weiter hinten, an dem ein beleibter Herr in Reiterstiefeln ein Rad aufpumpte.

Marie stellte den Koffer ab, strich sich über den Mantel, den sie mit Kastanien dunkel gefärbt hatte, damit man die vielen Flicken aus unterschiedlichen Stoffresten nicht so sah. Eigentlich war er viel zu warm für die Jahreszeit, doch er hatte nicht mehr in den Koffer gepasst. Lieber schwitzte sie, als dass sie etwas von der wenigen Habe zurückließ, die sie noch besaß. Außerdem verbarg der Mantel bestens ihre Bluse, die aus zwei alten Tischdecken genäht war, die Ärmel vergilbter als das Vorder- und Rückenteil. Sie umrundete ein paar Buchsbäume und ging auf den Herrn zu.

»Verzeihung, sind Sie der Verwalter hier?«, fragte sie zögerlich.

Er nickte, stieg von der Pumpe und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn.

»Guten Tag, Herr Dülmen, ich bin Marie Wagner.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Ein schriller Schrei erklang und setzte sich in ihrem Kopf fest.

»Oh, unser Pfau warnt uns vor einem Unwetter. Da kommt heute noch mehr vom Himmel.« Kurz erwiderte der Verwalter ihren Gruß, allerdings ohne seinen Hut zu lupfen, wie es sich normalerweise gehörte.

Marie drehte sich nach diesem außergewöhnlichen Vogel um und entdeckte eine Herde von Schafen und Ziegen, die die Dorfstraße entlangzog. Ein halbwüchsiger Junge führte die Herde an, er grinste breit zu ihnen herüber und winkte mit großer Geste, als wären sie alte Bekannte.

»Ach, der Manni schon wieder, unser Dorftrottel«, sagte Dülmen. »Wenigstens als Hirte ist er zu gebrauchen. Ich frage mich, wie die Brandstetters den durchs Dritte Reich gekriegt haben.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Marie.

»Unwertes Leben wurde beseitigt, wussten Sie das nicht? Man nannte es Gnadentod.«

Sie schüttelte den Kopf. In der Schule hatte sie gelernt, dass körperlich und geistig beeinträchtige Menschen die sogenannte arische Rasse verdarben und zwangssterilisiert werden sollten, aber dass sie kein Recht hatten zu leben und umgebracht wurden, war ihr neu. Sie erschauderte.

»Na ja, jedenfalls stammt Manni vom Hof gegenüber. Die Brandstetters können sich keine Kühe mehr leisten, wollen jetzt mit Wolle, Lammfleisch und Ziegenmilch Geld machen.«

Am Schluss der Herde schob ein schlaksiger Kerl ein Fahrrad, an dem Wasserkanister hingen. Auch er grüßte herüber, indem er kurz seinen breitkrempigen Strohhut lupfte.

»Servus, Martin«, rief Dülmen ihm zu – Manni war ihm offenbar keinen Gruß wert gewesen. »Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Sie sind doch hoffentlich nicht von der Zeitung und haben es auf die Prinzenfamilie abgesehen?«

»Nein, ich bin wegen Ihrer Ausschreibung hier.« Als sich Marie ihm wieder zuwandte, bemerkte sie die Peitsche, die in Dülmens Gürtel steckte. »Ihre Anzeige im Münchner Merkur , ich habe mich beworben, und daraufhin haben Sie mich eingeladen«, wollte sie ihm auf die Sprünge helfen. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, der Anschlusszug in München ist ausgefallen, und der nächste kam erst nach zwei Stunden und stand dann noch ewig auf der Strecke.«

»Ich weiß, in Gauting ist ein Baum auf die Gleise gefallen, hat’s vorhin im Radio geheißen. Die Waldbestände entlang der Schienen sind morsch und gehören längst ausgeforstet. Sind Sie in Starnberg ausgestiegen?«

»In Mühlthal.«

»Das wundert mich, dass Sie der alte Lenz vorbeigelassen hat. Bei dem am Mühlrad bleibt so manche Maid für immer hängen.« Er lachte schallend. »Na, dann kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen, bevor es wieder zu schütten anfängt.« Sein Blick glitt über ihre Beine, die unter dem Saum hervorlugten. »Wo wollen Sie arbeiten, in der Küche oder den Räumen der königlichen Familie?« Er setzte sich in Bewegung und musterte sie von der Seite, als könnte er sie allein aufgrund ihres Körperbaus zum Kartoffelschälen oder Staubwischen einteilen.

»Nichts dergleichen. Ich habe mich als Bereiter bei Ihnen beworben.«

»Bereiter? Sie wollen sich um unsere Zuchtpferde kümmern? Das soll wohl ein Witz sein.« Er blieb stehen, sein Grinsen erstarb.

»Keineswegs, Herr Dülmen.« Sie holte ihren Brief aus der Manteltasche.

»Ah, jetzt verstehe ich. M. Wagner, das sind Sie, und ich habe mich schon gewundert, wo der Bursche bleibt. Raffiniert, das muss man Ihnen lassen, Fräulein.« Er zupfte sich an einer Augenbraue. »Doch recht viel weiter hat Sie der Trick auch nicht gebracht. Ich habe keine Arbeit an Sie zu vergeben. Und bevor Sie fragen, in der Küche oder in den Privaträumen des Prinzen kann ich keine Hochstaplerin dulden.«

»Und warum wollen Sie nicht, dass ich mit den Pferden arbeite? Abgesehen von dem, was ich Ihnen geschrieben habe, wissen Sie doch noch gar nicht, was ich kann.«

»Diese angeblichen Auszeichnungen für Dressur, die Sie erhalten haben, wenn ich mich recht erinnere. Wer sagt mir, dass die nicht erfunden sind. Außerdem, wie alt waren Sie da? Zehn?«

»Ich war siebzehn, als wir vertrieben wurden.« Jetzt war sie dreiundzwanzig. »Wir hatten ein Gestüt bei Breslau, dort war ich für das Einreiten der Jungpferde verantwortlich, habe sie an Halfter und Strick gewöhnt.«

»Breslau, ist das nicht im Sudentenland?«

»Nein, in Niederschlesien. Ein Gut in einem Dorf, ähnlich wie hier, auch mit Landwirtschaft.«

»Schön, das mag alles herrlich gewesen sein, aber ich lasse grundsätzlich keine Frau in unsere Zucht. Scherereien habe ich auch so genug, allein dieser GI , den ich irgendwie beschäftigen muss, da kann ich kein Weibsbild gebrauchen, das sich bei den Ställen herumtreibt und mir die Kerle von der Arbeit ablenkt. Auf Wiedersehen.« Er hob die Luftpumpe wieder auf. Plötzlich ertönte lautes Wiehern. Marie wandte sich um. Ein braunes Pferd mit schwarzer Mähne stob aus dem Stall und sprang über zwei Blechtonnen, die der Amerikaner gerade zusammengeschoben hatte.

»For Christ’s sake, god damnit! Stop, stop!« Laut fluchend rannte er dem Pferd nach, verlor dabei seine Soldatenkappe und gab bald auf.

»Jetzt ist ihm schon wieder der Silberstern durchgegangen«, sagte der Verwalter. »Der lernt es nie.«

Marie wusste nicht, ob Dülmen von dem Pferd oder von dem Stallburschen sprach. Jedenfalls war Silberstern ein prächtiger Hengst. Von weitem wirkte er wie ein Trakehner, war vielleicht etwas zu klein dafür. Er musste eher ein englisches Vollblut oder Araber sein. Kaum älter als zwei Jahre, mit einer kleinen Blesse auf der Stirn, daher der Name Silberstern vermutlich.

Der Verwalter zog die Peitsche und wollte ausholen.

»Warten Sie, lassen Sie es mich versuchen.«

Marie stellte sich dem Tier in den Weg. Silberstern lief von den Buchsbäumen zum Hauptportal, tänzelte auf der Stelle, warf den Kopf hoch, als wüsste er nicht, wohin. Das Zaumzeug baumelte lose vor seinem Hals. Mit ausgebreiteten Armen trat Marie auf den Hengst zu und sah ihm direkt in die Augen. Sofort galoppierte er wieder an und umrundete sie. Er war offenbar im Longieren geübt und hatte gelernt, außen zu bleiben und im Kreis zu laufen. Sie senkte die Arme wieder und auch den Blick, tat so, als beachtete sie ihn nicht. Silberstern blieb stehen und bewegte ein Ohr in ihre Richtung. Seinen glänzenden schwarzen Augen entging keine Regung. Marie hörte, wie der Amerikaner durch die Zähne pfiff und auf Englisch irgendetwas von Zirkus rief, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Hengst und sie hatten Verbindung zueinander aufgenommen, das zählte. Sie wartete noch eine Weile, hörte Silberstern schnauben, aber sonst war es still. Man hätte eine Nadel fallen gehört. Sie drehte dem Pferd den Rücken zu und ging wieder in Richtung des Verwalters, der feixte, als wäre sie gescheitert. Doch dann änderte sich seine Miene mit einem Mal, und er fasste sich an den Hut. Marie spürte eine sanfte Berührung im Nacken, Silberstern war ihr gefolgt und stupste sie an. Jetzt wandte sie sich ihm zu, tätschelte ihm den Kopf und legte ihm behutsam das verrutschte Halfter an. Als sie ihn am Maul berührte, bemerkte sie den Grund für seinen Ausbruch.

»Auf der linken Seite ist sein Zahnfleisch entzündet, sehen Sie, hier?« Sie zeigte es Dülmen, und auch der Stallbursche kam neugierig näher. »Erst wenn das geheilt ist, können Sie ihm wieder eine Trense anlegen. Und dann wäre es auch besser, Sie oder Ihr Arbeiter würden das Pferd nicht mehr schlagen, besonders am Kopf nicht. Pferde sind klug, sie merken sich alles. Mit Ihrer Peitsche werden Sie das Tier nicht mehr in den Stall bringen, geschweige denn in Ihren Anhänger.«

»Gerade wollte ich Ihnen doch noch eine Stelle als Hausmädchen anbieten, Sie haben eine hübsche Figur, ich mag zierliche Frauen, die sind geschmeidig. Also, besser Sie halten sich zurück und erzählen mir nicht, wie ich mit meinen Viechern umzugehen habe, sonst überlege ich mir´s noch anders. Jeder soll spüren, wer sein Herr ist.«

»Ich dachte, die Herrenmenschen sind entmachtet?« Für einen Augenblick fürchtete sie, Dülmen würde die Peitsche gegen sie schwingen, doch er beherrschte sich. »Wenn Sie keine Stelle als Bereiter zu vergeben haben, dann verzichte ich.« Sie tätschelte Silberstern den Hals, nahm Schirm und Koffer und ging.

Zurück zum Bahnhof, hoffentlich fuhr heute noch ein Zug nach München, dort würde sie sich fürs Erste eine Bleibe suchen. Allerdings graute es ihr vor dem langen Waldweg, an der abgelegenen Mühle vorbei. Was, wenn dort tatsächlich dieser Lenz wohnte und nach ihr grabschte? Auf dem Hinweg hatte die Mühle verlassen gewirkt, auch die zwei Häuser mitten im Wald. Das eine, mit einem ebenerdigen Türmchen, wirkte sogar richtig idyllisch, fast so, als hätte hier früher eine Königstochter gelebt. Der Wind frischte auf, und es regnete wieder. Bald prasselten dicke Tropfen auf ihren Schirm, den ihr Schwester Iphigenie vorsorglich mit auf den Weg gegeben hatte. Zuerst hatte Marie ihn nicht annehmen wollen, sie wusste nicht, ob sie ihn je zurückbringen würde. Doch die Schwester hatte abgewinkt: »Behalten Sie ihn. Den hat jemand vorm Beichtstuhl vergessen und seit zwei Jahren nicht abgeholt. Wenn der Schirm nun Sie behütet, hat er seinen Zweck erfüllt.« Marie folgte den Fahrrinnen der Autos, an einer Kapelle und dem Schlossweiher vorbei, bis zu einer Kurve. Bevor sie in den Wald einbog, musste sie am Ortsende eine Brücke überqueren, unter der das angestaute Wasser schäumte. Eine Böe riss ihr den Schirm aus der Hand, er segelte sofort davon. Sie hastete ihm nach, hoffentlich landete er nicht im Wasser. In diesem Augenblick klappte ihr Koffer auf, die Schnur, die ihn notdürftig zusammengehalten hatte, war gerissen, ihre Sachen verteilten sich auf der Fahrbahn und kullerten den Abhang zum Fluss hinunter. Ihr Skizzenbuch, der Pelikan-Tuschkasten, die Pinsel, der selbstgestrickte Pullover aus aufgetrennter Wolle, die ihr die Nonnen geschenkt hatten, das zweite Paar Strümpfe und auch ihre Wechselwäsche. Was musste sie noch durchstehen? Wann fand sie je wieder irgendwo Halt? Regen peitschte ihr ins Gesicht. Binnen Sekunden war sie durchnässt. Natürlich hatte sie absichtlich ihren Namen abgekürzt, um überhaupt eine Einladung zu erhalten. Als Vertriebene, noch dazu als Frau, bekam sie auf die meisten Bewerbungen nicht einmal eine Antwort. Sie wollte einfach nicht länger Hilfsdienste im Kloster ausführen und hauptsächlich beten, als gäbe es einen gerechten Gott, dem man Demut und ewige Dankbarkeit zeigen musste. Dankbarkeit wofür? Dass man ihren Vater verschleppt und ermordet hatte, sie und ihre Mutter vom Gut vertrieb und dass sie beide auf der Flucht um ihr Leben hatten bangen müssen? Und dass am Ende alles noch schlimmer gekommen war? Schlimmer als der Tod. Irgendwo musste es doch auch für sie einen Ort geben, wo sie die sein durfte, die sie war. In diesem verdammten Land, in diesem Leben, in dem ihr nur ein paar Habseligkeiten geblieben waren, die jetzt im Straßendreck lagen. Mit einem Mal fühlte Marie sich all ihrer Kräfte beraubt, sie fiel auf die Knie und brüllte, so laut sie konnte, in den grauen Himmel. Der Pfau antwortete ihr mit seinem durchdringenden Schrei.

Warum hatte sie diese Fahrt auf sich genommen? Sie und auf einem Gestüt arbeiten, welch Hirngespinst. Die Zeit konnte sie nicht zurückdrehen, nichts würde jemals so sein wie früher. Der Schmerz würde bleiben, ihr ganzes Leben lang. Egal was sie anstellte, wie sehr sie sich ablenkte und hoffte, dass doch noch ein Wunder geschah. Immerhin hatte sie überlebt. Zumindest dafür sollte sie dankbar sein. Sie musste ihr Glück finden, und wenn das zu viel verlangt war, dann wenigstens einen friedlichen Ort, wo sie zur Ruhe kam. Nach Waldsassen konnte und wollte sie nicht mehr zurück, obwohl die Zisterzienserinnen sie gerettet und gesund gepflegt hatten. Oder sollte sie doch noch ins Kloster eintreten, wie es Schwester Iphigenie ihr ans Herz gelegt hatte? Was, wenn diese unsäglichen Kopfschmerzen wiederkehrten, die mit nichts zu bekämpfen waren, außer mit Abwarten und Aushalten? Auch die Nonnen hatten nichts anderes gewusst, als sich dicht um ihr Bett zu drängen und ein Kreuz über ihr zu schwingen, als wäre der Teufel in sie gefahren. Nein. Nie wieder wollte sie das ertragen. Marie war in Freiheit aufgewachsen. Im Nachthemd ohne Sattel über die Felder galoppiert, bis nach Glatz, wo Theo wohnte. An ihn wollte sie jetzt am allerwenigsten denken und tat es doch. Dachte daran, wie sie im Mondschein nackt und engumschlungen im Weiher gebadet hatten, ohne zu ahnen, dass es ihr letztes Treffen war. Kurz darauf wurde Theo verhaftet, zusammen mit den anderen arbeitsfähigen Männern – ihrem und seinem Vater, dem Bürgermeister. Keiner von ihnen kehrte lebend zurück. Die übrigen Anwohner mussten innerhalb von achtundvierzig Stunden die Häuser verlassen. Zuletzt hatte ihre Mutter noch das ganze Vieh von der Kette befreit und die Ställe geöffnet. Das Schreien der Kühe, die dringend gemolken werden mussten, verfolgte sie kilometerweit, während sie mit dem vollbepackten Handwagen zum Bahnhof marschierten.

Einzig eine Arbeit in der Klosterbibliothek hätte ihr gefallen. In Waldsassen war das ein hoher Raum voller Regale, in dem große geschnitzte Figuren die Empore mit Hunderten uralter Bücher trugen. Doch die Stelle als Bibliothekarin hatte eine ehrgeizige Novizin ergattert. Blieb nur Maries Wissen über Pferde, das Wissen einer Frau, das nutzlos war, wie sich eben gezeigt hatte. Dabei musste man weder brüllen noch schlagen, um ein Pferd zu zähmen. Man kam sogar ganz ohne Worte aus.

»Pferde lernen, die Körpersprache der Menschen zu deuten. Eigentlich sind wir Raubtiere für sie, denen sie trotz allem ihr Vertrauen schenken«, hatte ihr Vater, der ein Pferdenarr wie sie war, erklärt. »Nimm dir ein Beispiel an ihnen.« Von Vertrauen und Geduld hatte er oft gesprochen, besonders wenn Marie über ihre eigenen Füße stolperte oder vom Pferd fiel oder ihr eine andere Sache misslang, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte und auf der Stelle beherrschen wollte.

Was hatten ihrem Vater am Ende sein Vertrauen und seine verdammte Geduld genutzt, als die Sowjets ihn ermordeten? Marie kauerte sich am Straßenrand zusammen. Ihre Geduld war restlos aufgebraucht. Sie hatte auch keine Tränen mehr, das Weinen erledigte der Regen für sie, und dann ließ er nach. Die Wolken gaben ein Stück blauen Himmel frei. Es rauschte in den Bäumen, tropfte von den Ästen. Auf einmal war sie so entsetzlich müde und hätte sich am liebsten auf der Stelle, hier mitten auf der Straße, wie eine Katze zusammengerollt und wäre eingeschlafen.