LUISE

A m Morgen nach der Beerdigung hätten sie fast verschlafen. Hans schlug den Wecker aus und fing an, sie noch mal zu streicheln. Luise genoss den innigen Moment mit ihrem Mann, als wäre es Sonntag, dann fiel ihr Blick auf die Uhr. »Du musst aufstehen, sonst verpasst du den Zug.« Sie setzte sich auf.

»Ich könnte mich krankmelden.« Hans hielt sie zurück.

»Das sind ja ganz neue Töne, du hast doch noch nie gefehlt.« Ihr Mann arbeitete bei der Bundespost in München, verlegte Telefonleitungen, hauptsächlich in Behörden, zunehmend aber auch in Privathäusern. Zumindest in München, so weit war man in Starnberg noch nicht. Nur ein paar betuchte Familien besaßen einen eigenen Apparat. Darunter die Dahlmanns natürlich. Der Rest der Bevölkerung pilgerte zu den wenigen Telefonzellen, in denen das Schild »Fasse dich kurz« an die Wartenden draußen erinnerte. Oder man ging zur Starnberger Post und telefonierte von einer der Nischen aus, die dort eingerichtet waren.

»Ich glaube, ich habe wirklich Fieber, spürst du es nicht?« Er konnte gar nicht von ihr lassen.

»Heiß bist du schon.« Sie schmiegte sich wieder an ihn.

»Du aber auch.« Ihre Brüste berührten seine Brust.

»Wenn das so weitergeht, kleben wir aneinander fest. Warte kurz, ich muss aufs Klo.«

»Beeil dich, ich muss auch.«

Sie sah an ihm hinunter. »Geht das, zwei Sachen gleichzeitig?«

»Nur im Kopfstand.« Er grinste.

Luise stieg aus dem Bett, wollte kurz lüften und suchte vergeblich nach ihrem Nachthemd. Also stellte sich halb hinter den Vorhang, öffnete das Schlafzimmerfenster und sog die kühle Morgenluft ein. Es roch noch immer nach Regen, obwohl der Himmel aufklarte und sich die Morgensonne zeigte. Vom ersten Stock sah man fast über die ganze Straße, auf der schon einiges los war. Am Tutzinger-Hof-Platz weiter vorne kurvten Autos und Lastwagen über die Olympiastraße, die Hitler 1936 von München bis nach Garmisch-Partenkirchen ausbauen ließ. Dafür mussten sogar einige Häuser weichen. Nur einer der Anwohner weigerte sich, prozessierte und gewann. Widerstand wirkt, dachte Luise jedes Mal, wenn sie an dem Haus vorbeikam. Gabi Lerchentaler zog die Jalousien von ihrem Friseursalon hoch, und das Dienstmädchen der von Thalers schräg gegenüber schüttelte bereits die Federbetten ihrer Herrschaft aus. Knipser, der Stadtstreuner, lief zwischen den Leuten auf dem Gehsteig, die zum Bahnhof eilten, schnüffelte jeden Laternenmast ab und bellte den Zeitungsboten an.

Nur unter ihnen im Haus war es still, und erst da wurde ihr bewusst, dass sie morgens und abends nie mehr ins Erdgeschoss musste, um sich um ihre Schwiegermutter zu kümmern. Über Nacht schien auch Henriettes Stimme in ihrem Kopf leiser geworden zu sein. Normalerweise war Luise um diese Zeit längst fertig angezogen und hatte alles im Laufschritt erledigt. Heute durfte sie sich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten gehenlassen, ein herrlich freier Tag lag vor ihr. »Jetzt können wir endlich, wann immer wir wollen, du weißt schon, was, tun und brauchen keine Rücksicht mehr zu nehmen, deine Mutter kann sich nicht mehr beschweren.«

»Stimmt.« Hans streckte sich, drehte sich zu ihr, stützte den Arm auf und betrachtete sie, wie sie nackt am Fenster stand. »Welch herrliche Aussicht, kannst du bitte den ganzen Tag so bleiben?«

»Mit Schmuck oder ohne?« Sie hatte vergessen, über Nacht die Ohrringe ihrer Mutter abzulegen, die sie nur bei besonderen Anlässen trug.

»Den darfst du anbehalten, aber nur den.«

Sie lachte. »Du Spinner. Was, wenn jemand klingelt, zum Beispiel der Biwi?« Oft, wenn Luise aus Feldafing heimgekehrt war, setzte sich der Briefträger Biwi Ebner auf ein Stück Kuchen oder zwei zu ihr, um nach seiner anstrengenden Tour mit dem vollgepackten Fahrrad – durch Starnberg, den Hanfelder Berg hinauf und wieder hinunter – ein Weilchen auszuruhen.

»Mit dem wollte ich sowieso mal ein Hühnchen rupfen, wenn´s nach mir geht, braucht der dich gar nicht mehr zu besuchen, jetzt, wo du tagsüber ganz allein bist und ich nicht zu Hause.«

»Oho, du bist ja eifersüchtig. Keine Sorge, der Biwi ist mit Sigrid, einer Berufsschulkollegin von mir, verlobt.«

»Das heißt gar nichts. Aber sag mal, wolltest du nicht vor mir aufs Klo?«

Sie holte sich frische Unterwäsche aus der Kommode und legte auch Hans welche heraus. Dabei entdeckte sie ihr Nachthemd, es lag zerknüllt unterm Bett. Schnell streifte sie es über und verschwand im Bad.

Zwanzig Minuten später dampfte in der Küche der Wasserkessel. Luise bügelte auf einer Decke auf dem Tisch das tägliche Hemd für Hans. Anschließend schmierte sie einen Berg Brote, schichtete sie in die Blechdose und scheuchte an diesem Tag die erste Wespe hinaus, die durchs offene Küchenfenster hereingeflogen war. Als der Tee lange genug gezogen hatte, füllte sie die Thermoskanne und packte alles in die Aktentasche, die sein musste, auch wenn Hans außer Proviant, einem Stofftaschentuch und seinem Geldbeutel kein Stückchen Papier, geschweige denn eine Akte, darin herumtrug.

»Beeil dich, du musst in drei Minuten los«, rief sie nach oben. Endlich kam Hans im Unterhemd und Socken hereingetappt und fädelte den Gürtel in die Anzughose. Er gähnte. »Dein Tee ist fertig.« Als er sich angezogen hatte, biss er im Stehen einmal vom Honigbrot ab, nippte an der Tasse und grinste Luise unentwegt an, als hätten sie in der Nacht etwas ausgebrütet. Doch ihre Menstruation lag erst zwei Tage zurück, schwanger konnte sie in der vergangenen Nacht nicht geworden sein.

Er drückte einen Kamm in die Pomade und strich sich die Haare vor dem Spiegel nach hinten. »Ich geh nur, wenn du mir versprichst, dass wir heute Abend genau da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben.«

Luise half ihm ins Hemd, dabei strich er ihr über den Rücken, fuhr ihr unters Nachthemd und zupfte an ihrem Unterhosengummi, ließ ihn schnalzen. »Sag mal, hast du über den Laden nachgedacht?« Luise nutzte die Gelegenheit, sie wusste, wenn Hans in dieser Stimmung war, konnte sie so gut wie alles von ihm verlangen.

»Zum Nachdenken hatte ich noch keine Gelegenheit, wie du weißt.«

»Also, ich habe es mir noch mal ganz genau überlegt und finde, dass wir es versuchen sollten.«

»Versuchen, das klingt, wie … wie … So ein Laden ist doch kein Kochrezept, das keinen großen Schaden anrichtet, wenn es misslingt. Das Geld ist dann weg, Luise, das habe ich dir doch schon erklärt.« Sie hasste es, wenn er ihr mit solchen Vergleichen kam, als ob sich alles ums Kochen drehen müsste, damit sie es begriff. »Wir müssen erst mal abwarten, was die Beerdigung kostet. Und überhaupt, ein Laden, was reizt dich eigentlich daran?«

Gute Frage, aber wie sollte sie auf die Schnelle einen Traum in Worte fassen. »Ich finde, dass ich …«

Doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Willst du dir ernsthaft gleich wieder so viel Arbeit aufbürden?«

Sie überlegte. Eigenes Geld verdienen, unabhängig sein, wenigstens im Kleinen, war Luise wichtig. Damit sie ihren Mann nicht ständig um Taschengeld anzubetteln bräuchte, würde sie sich eine neue Arbeit suchen müssen. Sie könnte im Mooshäusl, einem Ausschank in Leutstetten, anfangen oder als Köchin in einem Offizierscasino der Amerikaner, sofern die nicht auch bald schlossen. Hans musste ihr in jedem Fall die Erlaubnis geben. Vermutlich war ihm das Mooshäusl lieber, dass sie für die Besatzer gearbeitet hatte, war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen. Aber als sie sich kennenlernten, war sie bereits im Camp angestellt, und er konnte nichts einwenden.

»Sobald wir Kinder haben, wirst du sowieso rund um die Uhr beschäftigt sein«, ergänzte er.

»Was hat das damit zu tun? Kinder und ein Laden schließen sich doch nicht aus.« Wenn es nach ihm ginge, sollte sie zuhause bleiben und schnell schwanger werden. Ständig betonte er, dass sein Verdienst für sie beide reichte, und wenn er sich verbeamten ließe, sogar für Familienzuwachs. Augenblicklich verflog Luises gute Laune. Sie fühlte sich unter Druck gesetzt. Natürlich wollte sie Kinder, hoffte jeden Monat, schwanger zu sein, aber nach der Fehlgeburt vor drei Jahren hatte sie auch Angst davor.

»Willst du etwa hochschwanger hinter der Theke stehen und die Leute bedienen?«

»Noch bin ich es nicht, und wer weiß, ob ich es jemals wieder werde.« Sie war den Tränen nahe.

»Tut mir leid, Luiserl, das wollte ich nicht. Wir haben noch genug Zeit für meine eigene Fußballmannschaft.« Er nahm sie in den Arm. »Du kannst auf jeden Fall wieder schwanger werden, das hat von Thaler uns versichert. Trotzdem lass ich dich nicht mehr zu ihm, das schwöre ich dir, und wenn ich höchstpersönlich eine Hebamme herschleppen muss. Also entspann dich, und genieße deinen ersten freien Tag.« Er drückte ihr ein Bussi auf den Mund, das nach Honig schmeckte, und hatte es auf einmal sehr eilig. »Mensch, ich brauche doch noch Zigaretten, hoffentlich hat der Tabakladen am Bahnhof eine Lieferung Gaulouises gekriegt.«

Als er fort war, setzte sie sich im Nachthemd in die Küche, kochte sich einen Kaffee und überlegte. Hans meinte es bloß gut mit ihr, doch sie wollte mehr als nur Ehefrau, Hausfrau und, so Gott will, auch bald Mutter sein. Hauptsächlich brauchte sie etwas für sich, eine Aufgabe, die sie forderte. Obwohl sie sich bestens versorgt fühlte und mehr besaß, als sie sich als Bauerntochter je erträumt hatte. Ihr fiel das erste Gespräch mit Captain Smith ein, dem Leiter des Feldafinger DP -Camps, der dank seiner Nürnberger Vorfahren ein ausgezeichnetes Deutsch sprach. Nach der Zusage hatte er sie über das riesige Gelände geführt. Neben den Baracken und Zelten, in denen es ein Kino und sogar Forschungslabore gab, standen mehrstöckige Villen, die von parkähnlichen Anlagen umgeben waren. Dazwischen reihten sich die einstigen Sturmblockhäuser der Nationalsozialisten, in denen sich nun die Büros, die Krankenstation und auch die Küche befanden. Vor dem Krieg hatten KZ -Häftlinge diese Siedlung für die Reichsschule der NSDAP errichtet, erklärte er ihr, in der die Söhne der obersten Elite unterrichtet wurden. Nach der Kapitulation beschlagnahmten die Amerikaner das weitläufige Areal für die vom Hitler-Regime Verfolgten und die Überlebenden. Welche Ironie der Geschichte, dachte Luise, und Captain Smith bestätigte es in seinen Worten.

»Was, glauben Sie, ist das Wichtigste für diese Menschen, nachdem sie überlebt haben?«, hatte er sie damals gefragt.

»Gutes Essen und ein weiches Bett«, antwortete sie. Ihr lag auch das Wiedersehen mit der Familie auf den Lippen, aber sie wusste inzwischen, dass die meisten nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Verwandten verloren hatten. Sie würde sie mit Diätkost aufpäppeln, geeignete Rezepte für sie austüfteln. Auf diese Weise hoffte sie, ihren Beitrag zur Rettung der Verfolgten zu leisten. Als Deutsche fühlte sich an dem Unrecht mitschuldig.

»Ja, für den besonderen Speiseplan haben wir Sie engagiert. Doch die Überlebenden brauchen mehr, vor allem brauchen sie ihre Identität zurück. Jahrelang waren sie nur noch Nummern, die man ihnen sogar auf den Arm tätowiert hat. Also versprechen Sie mir, dass Sie die Leute immer mit Namen anreden, das ist wichtig, und wenn Sie den Namen nicht wissen oder vergessen haben, fragen Sie danach.«

Gewissenhaft hielt sie sich daran. In den ersten Wochen schwirrte ihr der Kopf von all den fremden Namen, die schwer zu merken und manchmal noch schwerer auszusprechen waren. Bei der Stallarbeit, dem Bettenbeziehen oder Fensterputzen zu Hause übte sie und sagte sie sich diese immer wieder vor. »Herr Arosemena, Frau Miranda, Fräulein Dormuz, nein, Darmuz und dann das Ehepaar Izaba oder Azobi?« Dann Herr Kuadra, der erst die Woche zuvor eingetroffen war, und der blinde Herr Liebermann. Bald kam sie mit den Heimatlosen ins Gespräch, hörte ihre Geschichten, erfuhr von jüdischen Bräuchen, lernte sogar koscher kochen. Viele der Schicksale machten sie tief betroffen. Wie das von Elina, auf deren Unterarm ein besonders großgeschriebenes A und dann die Nummer eintätowiert war. Hellblau, in krummen Ziffern, die vom Ellbogen bis zum Handgelenk reichten. Es dauerte eine Weile bis Luise begriff, dass Elina als Kind nach Ausschwitz gekommen und die Tätowierung mit ihr gewachsen war. Bei ihrer Aufnahme im Camp hatte die junge Frau nur noch achtundzwanzig Kilo gewogen. Kaum war sie wieder bei Kräften, half sie in der Küche. Sie brauche etwas zu tun, sagte sie, sonst werde sie verrückt.

Während des Krieges hatte Luise und ihren Brüdern auch oft der Magen geknurrt, so dass sie schwer einschlafen konnten. Besonders als man ihnen erst die Schweine und dann auch noch die letzte Kuh aus dem Stall geholt hatte. Immerhin bauten sie Kartoffeln an und lagerten sie über den Winter ein. Sie tranken Kaffee aus Bucheckern und machten Salat aus Wiesenblumen, Löwenzahn und Brennnesseln, wie man es als Kind macht, wenn man Kochen spielt. Nur dass man die Sachen jetzt wirklich essen musste und nicht nur so tat. Manchmal stellte sich Luise dabei die Speisen vor, die sie zubereiten würde, wenn wieder Frieden herrschte und es alles zu kaufen gäbe. In jenen Jahren hatte sie beschlossen, Köchin zu werden, damit sie immer gerüstet wäre, aus wenigem etwas Köstliches zu zaubern.

Aber erst von Elina erfuhr sie, was es hieß, nicht nur wenig, sondern überhaupt nichts mehr zu essen zu haben. »Dann hast nicht du den Hunger, sondern der Hunger ergreift von dir Besitz und fängt an, dich aufzufressen.« Nachdem sie im Vorjahr ein Visum für New York erhalten hatte, reiste Elina ab. Sie wollte Schauspielerin werden. »Die Kunst, mich zu verstellen und in andere Rollen zu schlüpfen, beherrsche ich«, sagte sie beim Abschied, als Luise ihr noch einmal ihre Lieblingsnachspeise, Flódni, gebacken hatte, einen Apfel-Mohn-Walnuss-Kuchen, nach einem ungarisch-jüdischen Rezept. Wie Elina verließen fast alle Heimatlosen Deutschland, sobald sie ein fremdes Land gefunden hatten, das sie aufnahm. Die meisten »Feldafinger« stammten aus Osteuropa, doch an der Grenze zwischen West und Ost hatte sich der Eiserne Vorhang gesenkt. So war ihnen nur das quälend lange Warten auf eine Reisegenehmigung nach Israel oder Amerika geblieben, und als sie diese schließlich erhielten, fing die Auflösung des Camps an. Anfangs hatte Luise zusammen mit anderen für Tausende gekocht und mit den Ärzten einen genauen Plan erstellt, um die Überlebenden vor dem Hungertod zu retten. Dann, als die meisten halbwegs wiederhergestellt waren, half sie bei der Essensausgabe und schöpfte in Hunderte Blechschüsseln Suppe. Allerdings verkleinerte sich nach und nach die Belegschaft. Schließlich war von allen Köchinnen nur noch sie übrig geblieben, und montagfrüh, als sie eigentlich um Trauerurlaub bitten wollte, kündigte man auch ihr. Die Amerikaner zogen ab und lösten das Lager endgültig auf. Wo vorher ein tägliches Abarbeiten war, ob zuhause oder im Camp, gab es für Luise auf einmal nichts mehr zu tun.

Was, wenn Hans bei der Ladensache nicht mitzog und sie auch keine neue Arbeit fand? Oder wenn er ihr gar sein Einverständnis verweigerte? Sie dachte an ihren Vater und wie er sie immer zum Widerstand ermutigt hatte. Als Kind wäre Luise zu gerne zum Jungmädelbund und später zum Bund deutscher Mädel gegangen und Martin zu den Pimpfen und danach zur Hitlerjugend. Doch sosehr sie auch bettelten, ihr Vater erlaubte es nicht. Wenn einer ihrer Freunde sie zu einer Versammlung abholen wollte, lud er ihnen besonders viel Arbeit im Stall oder auf dem Feld auf. Dabei hätten sie so gerne dazugehört, wären in der für ihre Augen feschen Einheitskleidung mitgewandert und beim Musizieren dabei gewesen. Luise spielte Akkordeon und Martin Trompete. Sie hatten es satt, nur Kirchenlieder zu begleiten oder an Weihnachten zuhause ein wenig Stubenmusik zu machen. Sie wollten mit dem Jungvolk zum Reichsparteitag nach Nürnberg marschieren. Doch der sonst eher großzügige Vater blieb in dieser Angelegenheit unnachgiebig.

Selbst war er bei der Musterung wegen seiner Herzschwäche zurückgestellt worden, die hatte ihm der Leibarzt des Kronprinzen attestiert. Kurz vor Kriegsende erhielt Kaspar Brandstetter dann doch noch einen Stellungsbefehl, und Martin musste als Zwanzigjähriger zum Volkssturm. Den Kronprinzen konnten sie nicht mehr um Hilfe bitten, er lebte bereits im Exil. Wenige Wochen danach erhielt Luise, die mit Manni inzwischen allein auf dem Hof lebte, eine Todesnachricht per Post. Kaspar Brandstetter war in Lappland gefallen und bereits auf einem Soldatenfriedhof in Rovaniemi beerdigt worden, teilten die nüchternen Zeilen mit. Luise hatte erst in ihrem Schulatlas nachsehen müssen, wo dieser Ort lag. Mit einem Lineal und mit Hilfe des Maßstabs errechnete sie, dass die Hauptstadt von Lappland dreitausend Kilometer von Leutstetten entfernt war. Bis dahin hatte ihr Vater das Dorf selten verlassen und nach dem Tod ihrer Mutter so gut wie gar nicht mehr. Falls jemand etwas von ihm wollte, sollte er herkommen oder eine Postkarte schreiben, sagte er. Seine einzige Reise ins Ausland war eine Tagesfahrt nach Salzburg gewesen. Als Firmling hatte er unbedingt die berühmten Salzburger Nockerln probieren wollen. »Einmal und nie wieder, die schmecken scheußlich«, lautete sein Resümee. Seither konnte ihn keiner mehr zu einem Ausflug überreden. »Wozu soll ich wegfahren, hier im Landkreis gefällt es mir am besten. Brauch ich meine Ruh, geh ich in den Stall. Ist es mir bei den Kühen zu laut, hock ich mich in die Würm und lass mich bis zum Wehr treiben. Und will ich ganz allein sein, leg ich mich in den See, bis meine Ohren rauschen. Bei uns gibt’s doch von der ganzen Welt ein Stück, das reicht mir.« Aber Hitler zwang ihn fortzugehen, um kurz vorm Nordpol auf Leute zu schießen, die ihm nichts getan hatten.

Selbst heute, acht Jahre später, konnte Luise seinen Tod noch nicht begreifen. Und dann begegnete sie den ersten KZ -Häftlingen, auf deren Todesmarsch durchs Würmtal. 1945 , als die SS alle Lager aufgelöst hatte. Es war an ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen, für den sie etwas Besonderes zubereitet hatte. Sie stellte gerade den Wackelpeter zum Kaltwerden aufs Fensterbrett und hoffte, dass auch Martin im Laufe des Tages käme. Da sah sie, wie knochige Hände nach der Kaltschale griffen. Schüsse knallten, hastig duckte sie sich, harrte, an die Wand gekauert, aus, weil sie dachte, die Russen kämen. Bis sie sich wieder aufzustehen traute, war der Tross weitergezogen, das Glas samt grünem Inhalt zerschellt. Das hieß es also, ein Kazetnik zu sein, wie sich die ehemaligen jüdischen Häftlinge im Camp selbst nannten. Monate später las sie über die Befreiung des Dachauer Konzentrationslagers in der Zeitung. Kurz darauf bewarb sie sich um die Stelle in Feldafing und war froh, kein BDM -Mitglied gewesen zu sein. Dem Vater sei Dank! Ihm zum Gedenken hatte sie ihr erstes Kind Kaspar genannt. Kaum größer als eine Hand war er gewesen, lag in einer Nierenschale neben ihrem Klinikbett, als hätte er keine bessere Wiege verdient. Nie hielt sie ihn, nie drückte sie ihn an sich und wärmte ihn. Sie war zu schwach gewesen, um die Arme auszustrecken und ihn zu sich zu nehmen, betrachtete ihn nur, und zugleich ertrug sie es kaum. Stundenlang, bis eine Schwester ihn ihr fortnahm. Nicht einmal beerdigen durften sie ihn, ungetauft wie er war. Angeblich hatte man ihn mit in den Sarg eines anderen gelegt.

Als Luise wieder einigermaßen auf den Beinen war, suchte sie den Leutstettener Friedhof nach frischen Gräbern ab. Sie umrundete die kleine Kirche St. Alto, aber hier war seit Wochen niemand mehr beigesetzt worden, und auch der Pfarrer wusste von nichts. So blieb sie mit ihrer Trauer allein. Manchmal stellte sie sich vor, dass Kaspar mit den Samen eines Löwenzahns mitgeflogen war. Vielleicht hatte es ihn wie seinen Großvater mit dem Wind in die Welt hinausgetrieben, weiter als ein Lineal es in einem Atlas messen konnte.

Seither fragte sie sich, wie sie jemals ganze neun Monate überstehen sollte, ohne Tag für Tag zu bangen, wo sie doch kaum sieben geschafft hatte. Nein, sie konnte und durfte nicht mehr schwanger werden, und dennoch sehnte sie sich nach einem Leben mit Kindern, einem Haus voller Lachen und Spielen. Rasch versuchte sie, die schreckliche Erinnerung fortzuwischen, nahm einen Schluck Kaffee und aß das angebissene Honigbrot zu Ende, strich sich ein neues und schüttelte die Krümel vom Nachthemd. Sie und im Nachtgewand frühstücken. Das hatte sie zuletzt als kleines Mädchen getan und auch nur, wenn sie krank war. Dann machte ihr die Mutter Schifferl , mit Leberwurst bestrichene Brezenscheiben. Gewöhnlich half Luise wie der Rest der Familie noch vor der Schule beim Melken, so dass dann keiner neben ihr sitzen wollte. Bloß der Rattelmeier Christa, die von einem Schweinemasthof stammte, machte ihr Kuhstallgeruch nichts aus.

Erst in der Berufsschule legte sich das, sie schrubbte sich jeden Morgen nach der Stallarbeit über einer Waschschüssel, bevor sie das Haus verließ. Dann baute Martin endlich eine Dusche unter der Treppe ein. Seit ihrer Heirat roch Luise nur noch alle zwei Wochen nach Bauernhof, nämlich wenn sie Martin mit Manni half, ihn badete und sich um die Wäsche kümmerte. Sie war froh, dass Martin keine Kühe mehr hatte, der warme Wollgeruch der Schafe war sogar angenehm, und auch die Ziegen stanken nicht. Nur wenn sie Barti, den Ziegenbock kraulte – und er drängte sich oft genug auf –, hing sein scharfer Geruch an ihr fest und klebte in allen Poren, dagegen half selbst viel Parfüm nichts.

Sollte sie sich noch mal hinlegen? So wie sie beide heute Nacht geschwitzt hatten, müsste sie eigentlich das Bett neu beziehen. Luise berührte einen ihrer Ohrringe. Sie könnte nach Leutstetten fahren, auf dem Hof gab es immer etwas zu tun. Nein, entschied sie, ihre Brüder kamen gut alleine zurecht. Blieb noch das schmutzige Geschirr, das sich in der Küche stapelte. Aber auch das konnte warten. Sie blätterte in der Zeitung, die Hans heute nicht einmal aufgeschlagen hatte, und überflog die Schlagzeilen im Land- und Seeboten .

Deutschland – Schlüssel zum Frieden . Es ging um die Viermächtebesprechung mit der Sowjetunion, in der das geteilte Deutschland eine wichtige Rolle spielte. Außerdem war eine Meldung zur Hinrichtung von zweiundzwanzig sowjetischen Soldaten eingefügt, die sich beim Aufstand in Berlin am 17 . Juni 1953 geweigert hatten, auf Deutsche zu schießen. Wie furchtbar. Für ihren Mut hatten sie mit dem Leben bezahlt. Was, wenn sich die, die die zweiundzwanzig Soldaten hinrichten mussten, ebenfalls geweigert hätten, auf ihre Landsleute zu schießen, fragte sich Luise, dann wären auch sie verurteilt worden und immer so weiter. Ganz unten auf der Seite stand, dass im westfälischen Münster eine Horde Kapuzineräffchen aus dem Zoo ausgebrochen war und den Berufsverkehr lahmgelegt hatte. Völlig ungeniert tobten sie herum, jagten sich gegenseitig, sprangen über die Fahrzeuge und lockten eine große Zuschauermenge an, bis das Überfallkommando sie mit Hilfe der Passanten einfing. Der Leitaffe, der als Einziger im Zoo geblieben war, zeigte kein Verständnis für das Ausbüchsen seiner Artgenossen und ohrfeigte jeden bei seiner Rückkehr. Luise stellte sich diesen verbitterten Kerl vor, der es vermutlich nicht über die Mauer des Freigeheges geschafft hatte und jetzt den anderen ihren Spaß missgönnte. Stammte nicht ihre Nachbarin, Frau von Thaler, aus Münster? Zur Beerdigung war sie gar nicht gekommen, fiel Luise nun auf, obwohl sie nur schräg gegenüber wohnte und eine fleißige Kirchgängerin war. Luise mochte Frau von Thalers Sohn Friedrich, der sie oft besuchte. Manchmal buk sie ihm kleine Schmalznudeln, wie für einen Kinderkaufladen gemacht, und schenkte sie ihm in einer Papiertüte. Eine Kinderecke, die müsste sie unbedingt auch in ihrem Laden einrichten. Und überhaupt, sie könnte auch Kuchen backen und verkaufen. Allein die Vorstellung, tatsächlich eines Tages in ihrem eigenen Laden zu stehen, erfüllte sie mit Freude und richtete sie wieder auf. Am besten sie notierte sich ihre Ideen, das schuf Platz für weitere Einfälle. Irgendwo musste doch noch ein leeres Schulheft sein. In einer Schublade entdeckte sie ein paar Hefte, aber in jedem hatte sie bereits ein paar Einträge gemacht. Das erste stammte noch aus der Hauswirtschaftsschule. In Schönschrift hatte sie darin die ersten Paragraphen des Lebensmittelgesetzes festgehalten, die erklärten, was Lebensmittel überhaupt waren und dass auch Tabak dazugehörte. Hans ernährte sich also sehr gesund. Darunter stand der Unterschied zwischen Tunke und Mayonnaise, die ihr Kochlehrer, Herr Dasch, aus unerfindlichen Gründen, als »Mayonnäs« bezeichnete, was er auch so auf die Tafel geschrieben hatte. Auch das Rezept für eine Einbrenne fand sich hier, die tatsächlich die Basis für viele Gerichte war. Sie war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen, so dass Luise gar nicht mehr darüber nachdachte, wenn sie zu kochen anfing. Sie blätterte um und schrieb auf einer neuen Seite alles auf, was ihr durch den Kopf ging. Danach umkringelte sie die wichtigsten Punkte. Ja, das sah schon nach einem Plan aus. Einem konkreten Plan für ihren Traumladen, jetzt musste sie nur noch Hans überzeugen, damit er auch Wirklichkeit wurde. Sie könnte schon einmal anfangen, Henriettes Sachen auszusortieren, die Puppen gehörten auf jeden Fall raus. Doch wohin damit? Plötzlich fiel ihr etwas Besseres ein. Seit Ewigkeiten hatte sie sich mal in den Garten legen wollen und sich sonnen, und genau das würde sie jetzt tun. Vorausgesetzt, sie fand den Liegestuhl, der irgendwo in der ehemaligen Werkstatt stehen musste. Als sie sich kurz darauf im Schlafzimmerspiegel betrachtete, kam sie sich, bis auf die Arme, die schon etwas Farbe hatten, sehr bleich vor, aber das würde sich ändern. Sie schlüpfte in den teuren Badeanzug, den sie sich bereits im Frühjahr geleistet hatte. Rot gepunktet, im Nacken zu binden und vorne gerafft, so dass Bauch und Taille schlanker wirkten. Sie drehte sich die Haare zu einer Schnecke und steckte sie hoch, damit auch Nacken und Rücken braun werden konnten. Solange sie in der Garage wühlte, zog sie einen Rock über. Jetzt wirkte der Badeanzug wie ein elegantes Oberteil. Draußen schob sie zuerst die Triumph ins Freie, danach die Sägeböcke und ein paar Autoreifen, die Hans aus unerfindlichen Gründen hier lagerte. Die Reifen waren ölig und ihr Rock bald verschmiert. Dieser verflixte Liegestuhl konnte doch nicht weg sein. Sie holte eine Taschenlampe und arbeitete sich langsam nach hinten vor. Wie viel Zeug hier herumstand! Werkzeugkisten und eine eingestaubte riesige Maschine, die zu wer weiß was gut war. Überall Kisten, die sie zur Seite räumte. Auf manchen stand »Johann«, auf anderen »Hansi«, in denen war das Kinderspielzeug ihres Mannes – die Holzeisenbahn und seine Modellflugzeuge. Auf drei besonders großen stand in Henriettes Sütterlin-Handschrift: »PK -geschäftlich«. PK für Puppenklinik, das waren die Bastelsachen. Bald klebten Luise Spinnweben in den Haaren, sie schob alles zur Seite, stapelte neu, kesselte sich selbst dabei ein und musste hinausklettern. An einer Wand lehnten hauptsächlich Bretter, auf denen mit Bleistift gezeichnete Aufrisse für Möbel zu erkennen waren. Ein Schreiner verwendet kein Papier für seine Pläne, hatte ihr Hans erklärt. Er zeichnet maßstabsgetreu auf Holz. Luise kippte auch diese Aufrissbretter nach vorne und leuchtete mit der Taschenlampe dahinter.

Zuletzt verrückte sie sogar einen schweren Schrank, eher eine Anrichte, der obere Teil war zurückgesetzt. Bogenförmige Glastüren verbargen Fächer. Das untere Pult enthielt Schubladen. Achtzehn, zählte Luise. Der Schrank war schön verziert, mit gedrechselten Bändern und geschnitzten Blättern, in denen sich Tierköpfe verbargen. Einer mit einer langen Schnauze, ein anderer mit hängenden Ohren. War dies das Meisterstück ihres Schwiegervaters? Aber warum verstaubte er in der Werkstatt, warum hatte Henriette ihn nicht in der Stube aufgestellt, wie die Säulenvitrine, die ebenfalls von Johann Dahlmann stammte? Möglicherweise war der Schrank auch der letzte Auftrag gewesen, an dem er bis zu seinem Tod gearbeitet hatte, und der betreffende Kunde hatte ihn nicht abgeholt. Oder war das der ominöse Schrank, in dem Henriette das Rummykub-Spiel gefunden hatte, wenn man Gretel Breisamers wirren Reden Glauben schenkte? Eine Kiste, die mit einer 24 beschriftet war, kippte um, als Luise eine der Schubladen aufziehen wollte, und verfehlte um Haaresbreite ihren Fuß. Aus der eingedellten Seite quoll Lametta. Henriettes Weihnachtsdekoration. Luise stopfte die Silberfäden zurück und schob die Pappdeckel wieder zusammen. Sie schwenkte ihre Taschenlampe. Wo war bloß der verflixte Liegestuhl? Gerade wollte sie aufgeben und den Schrank zurück an die Wand schieben, da sah sie es. Auf dem Boden lag etwas. Mit Hilfe eines zerschrammten Eishockeyschlägers angelte sie nach dem Bündel. Es handelte sich um ein kleines Fotoalbum, verstaubt und ein wenig zerbeult kam es zum Vorschein. Sie wischte es mit ihrem Rock sauber, den sie ohnehin wechseln musste, und setzte sich damit draußen auf die Bank an der Hausmauer. Hoffentlich wurde das mit dem Sonnenbad heute noch etwas. Gerade zog sich der Himmel zu. Luise blätterte in dem Album. Die Innenseiten waren eingerissen, der dunkelgrüne Lederdeckel zerschrammt, und zu ihrer Enttäuschung stellte sie fest, dass es leer war. Jemand hatte alle Fotos herausgenommen, nur noch Fotoecken klebten auf dem Papier. Vermutlich sollte es ohnehin weggeworfen werden und war stattdessen hinter den Schrank geraten. Die Seiten waren mit einer brüchigen Kordel zusammengehalten. Im Falz klemmte etwas. Vorsichtig zog sie ein kleines schwarz-weißes Foto mit gezacktem Rand aus der Bindung. Luise erkannte ihre Schwiegereltern darauf, sie saßen mit anderen um einen Gartentisch und hoben die Gläser. Im Hintergrund war der Brunnen mit der Faunfigur. Das Foto musste also nebenan, bei den von Thalers, aufgenommen worden sein. Sie drehte es um. Noahs Par Nitzwa, 1937 oder eher Bon Mivma stand dort in verschmierten Bleistiftbuchstaben. Was sollte das bedeuten?

»Mei, Frau Dahlmann, fesch sehen Sie aus. Wie eine Italienerin. Gut, dass wir Sie antreffen, machens uns auf, bittschön?« Herta Knödler stand mit Gretel Breisamer und Irmi Hinterstoißer vor der Gartentür. Die drei hielten sich am Zaun fest, als umklammerten sie Bojen auf dem See. Die kleine Irmi mit ihrem starken Damenbart, der sogar ihr Kinn zierte, konnte kaum drüberschauen und reckte den Kopf mit dem eng geknoteten Tuch. Sie erinnerte Luise an Gloria, Martins beste Milchziege, die sich auch nichts entgehen ließ und sich notfalls den Weg mit den Hörnern freistieß, wenn ihr etwas die Sicht versperrte.

»Guten Morgen, die Damen.« Rasch legte sie das Album weg und öffnete ihnen. Was wollten sie? Gretel hatte immer noch ihren breitkrempigen Trauerhut auf, an dem inzwischen verdorrte Ringelblumen pendelten. Alle drei trugen wieder ihre bunten, ärmellosen Kittelschürzen, aus denen die gebräunten Oberarme winkten. Wenigstens sie hatten schon Sonne abgekriegt, dachte Luise.

Herta drängte sich mit ihrem Stock an Luise vorbei und ließ sich stöhnend auf die Bank fallen. »Puh, das tut gut.«

Irmi spähte in die offene Werkstatt. »So schöne Kacheln, ganz bayerisch und mit der Borte. Mensch, da hat sich der Henni ihr Mann aber seinerzeit nicht lumpen lassen.« Es stimmte, die Bodenfliesen waren wirklich besonders. Große weiße und in den Ecken kleine blaue und drum herum ein Band aus gelben und dunkelbraunen. Etwas Ähnliches würde ihr auch im Laden gefallen, das musste sie sich nachher gleich notieren.

»Sind Sie schon am Umräumen?«, fragte Irmi. »Sakrament, Ihnen geht aber auch die Arbeit nicht aus.«

»Ich habe eigentlich nur nach einem Liegestuhl gesucht.« Auf einmal dämmerte es ihr, was die drei einen Tag nach der Beerdigung schon wieder hertrieb. Diese Hausfrauenpralinen. Selbst wenn sie welche gefunden hätte, wären die nach all den Jahren bestimmt ungenießbar. Und warum sollten sie in der Schreinerwerkstatt aufbewahrt worden sein?

Gretel dackelte ebenfalls zur Bank und stellte ihre schwere Tasche ab, genau auf das Album. Luise wollte es noch wegnehmen, aber zu spät. »A schöne Leich war es, Frau Dahlmann, die Aufbahrung und auch die Feier. Und was für eine Mühe Sie sich gegeben haben, Ihr Kuchen und der gute Kaffee. Köstlich. Alle haben das gesagt, restlos alle.« Sie wartete, bis die beiden anderen zustimmten. Dabei stützte sie sich auf die Rückenlehne der Bank, weil die Tasche und die breite Herta, die auch noch ihre Beine in dem engen Kittel spreizte, keinen Platz zum Hinsetzen übrigließen. »Die Henni wird Ihnen vom Jenseits aus ewig dankbar sein.«

»Das freut mich. Kann ich Ihnen etwas anbieten?« Eigentlich hatte Luise keine Lust, schon wieder Gastgeberin zu spielen, doch sie wollte nicht unhöflich sein.

»Danke, wir gehen gleich wieder.« Irmi winkte ab und schlurfte zu ihnen. »Jetzt gib es ihr schon, Gretel, du siehst doch, dass die Frau Dahlmann zu tun hat. Und ich hab den Bazi gestern lange genug allein gelassen.« Bazi war ihr Wellensittich.

»Meinst du etwa, nur dir pressiert’s? Ich muss noch zum Metzger, damit der Helmut vor zwölf seine Weißwürscht kriegt, sonst grantelt er wieder den ganzen Tag.« Im Gegensatz zu Herta, die Kriegswitwe war, hatte Gretel ihren Mann noch. Irmi war ledig und schlief allein in ihrem französischen Bett, das sie sich, laut Luises Schwiegermutter, extra angeschafft hatte, um einen Dschamsterer anzulocken.

Frau Breisamer bückte sich und hob mit Hertas Unterstützung einen länglichen Karton aus der Stofftasche, der sich zwischen den Holzgriffen verkeilt hatte. »Schauens her, Frau Dahlmann, das sollen wir Ihnen von der Henni geben.«

»Ein Geschenk für mich?« Luise ahnte Schlimmes, zwang sich dennoch zu einem Lächeln, nahm die Schachtel und schüttelte sie ein wenig. Ein leises Rascheln. Nein, nicht noch eine Gruselpuppe! Die drei Damen strahlten sie an.

»Eher eine Erbschaft als ein Geschenk, aber nennen Sie es, wie Sie wollen.« Herta erhob sich, schwerfällig auf ihren Stock gestützt, und tätschelte Luise den Arm. »Machen Sie die Schachtel am besten drinnen auf, damit es niemand sieht. Neidhammel gibt es überall. Es soll ganz allein Ihnen gehören, tun Sie damit, was Sie wollen, so hat’s die Henni verfügt und uns dreien aufgetragen. Sollte eine von uns unterdessen senil werden, hat sie gesagt, so wären noch zwei andere da, die ihren Auftrag ausführen könnten. So, und jetzt belästigen wir Sie nicht länger.« Als das Fotoalbum auf der Bank wieder zum Vorschein kam, war Luise einen Moment versucht, die Damen zu fragen, ob sie die fremden Leute neben Henni und Johann auf dem Bild vielleicht kannten, aber dann ließ sie sie gehen. Auf einmal hatte sie genug von allem. Besonders angesichts der Erbschaft, die in ihren Armen lastete wie ein Fels. Sie sah Hennis Freundinnen hinterher. Vermutlich waren sie froh, diese Bürde los zu sein. Seufzend ging sie ins Haus, legte das Album samt Foto in eine Schublade und stellte Henriettes Geschenk hinter die schmutzigen Teller auf der Anrichte. So war es vorerst außer Sicht. Vielleicht sollte sie es besser gleich wegwerfen? Sie sah auf die Uhr, schon zwanzig nach elf. Kaum zu glauben, dass sie so lange im Schuppen gewühlt hatte.

Wenigstens eine halbe Stunde wollte sie sich noch sonnen, dann eben ohne den verdammten Liegestuhl. Rasch trank sie ein Glas Wasser aus der Leitung, wusch sich den Staub ab und zog den Rock aus. Dann schnappte sie sich ein Handtuch und die neue Brigitte , die sie sich für fünfundsechzig Pfennig am Bahnhofskiosk geleistet hatte, und legte sich auf das kleine Wiesenstück zwischen Haus und Blumenbeet. Dort würde man sie vom Gehsteig aus nicht gleich auf den ersten Blick sehen. Einmal verrückte sie das Handtuch, um nicht im Schatten des Zwetschgenbaumes zu liegen, und dann noch mal, bis unter ihr nichts mehr pikste. Dann widmete sie sich der Zeitschrift, auch wenn es anstrengend war, sie gegen die Sonne zu halten. Ein Artikel informierte über das gefährliche Alter der Frau, unterteilt in drei Abschnitte. Zwischen achtzehn und einundzwanzig galt die Frau mehr als gefährdet denn als gefährlich, die letzte Phase, die Wechseljahre, milderten exzentrische Neigungen und Herrschsucht. Am gefährlichsten waren die Jahre um die dreißig. In vier Jahren war es auch bei ihr so weit. Luise las aufmerksam weiter. Frauen in diesem Alter seien für die Umwelt und damit besonders für den Mann die größte Bedrohung. Äußerlich wirkte die Endzwanzigerin noch jung, besaß aber den geistigen Horizont einer wesentlich älteren Frau. Also Obacht! Was für ein Blödsinn. Sie blätterte weiter. Man warnte vor Heiratsschwindlern, denen viele Damen in der Zeit des Frauenüberschusses zum Opfer fielen. Auf derselben Seite wurde eine Neuheit beworben. In München war eine sogenannte Schönheitstonne aufgestellt worden. Nach zwanzig Behandlungen sei man acht Kilo leichter oder umgerechnet sechzehn Zentimeter dünner. Roll dich schlank! Allein von dem Anblick, wie eine Assistentin einer Dickmadam in die riesige Waschtrommel half, wurde Luise übel. Sie schloss die Augen. Grotesk, kaum waren die Hungerjahre vorbei, setzte man Fett an. Doch anstatt sich darüber zu freuen, wollte man es wieder loswerden.

Hans störte es nicht, dass Luise ein bisschen mehr auf den Rippen hatte, ihm gefielen ihre weichen Rundungen, wie er ihr gestern Nacht versichert hatte. Und als Köchin musste sie nun mal probieren. Eigentlich war sie wieder hungrig. Doch sie beschloss, sich mit einem weiteren Brot zu begnügen und erst abends mit Hans warm essen. Was sollte sie überhaupt kochen? Sie rekelte sich in der Sonne und ging in Gedanken Rezepte durch, die wie auf Zeitschriftenseiten gedruckt waren. Auf einmal bekamen sie einen gezackten Rand und wehten aus einem schwarzen Album. Sie streckte die Arme aus und wollte sie festhalten, aber sie lag in einer Tonne, die sich immer schneller drehte, plötzlich wurde sie ausgespuckt und stand vor den großen Kochtöpfen im Camp, mit der Haube auf dem Kopf. Doch als sie an sich heruntersah, trug sie noch Holzpantinen wie als Kind, stand damit auf einem Schemel und rührte im großen Waschkessel.

»Welch herrlicher Anblick, Frau Dahlmann, weiter so!« Der Briefträger weckte sie.

»Grüß Gott, Herr Ebner.« Rasch setzte sie sich auf, zerrte ihr Handtuch unter sich hervor und bedeckte sich. Sie nahm ihm die Beileidskarten ab. Nach einem kurzen Wortwechsel radelte er weiter, seine Verlobte wartete mit dem Mittagessen auf ihn. Noch halb im Traum gefangen, bat sie ihn, Sigrid Grüße auszurichten. Luise wischte sich übers Gesicht, wie ein Stein hatte sie in der prallen Mittagssonne geschlafen. Ihr war schwindelig, als hätte sich der Traum in ihrem Kopf eingraviert. Sie merkte, dass ihre Arme und Beine brannten, und wo das Handtuch zu Ende gewesen war, hatte sie Grasabdrücke auf den Waden. Vor dem Garderobenspiegel im Haus stellte sie fest, dass sich ihre Haut der Farbe des Badeanzugs angepasst hatte. Sie leuchtete genauso rot. Vorsichtig betupfte sie sich mit verdünntem Essig, das linderte. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch einkaufen musste, damit sie heute Abend überhaupt etwas auftischen konnte. Vielleicht etwas mit Eiern und Zwiebeln? Das mochte Hans besonders gern. Doch so verbrannt konnte sie nicht aus dem Haus. Da half nur ein langärmeliges Kleid, obwohl das zu warm war. Sie stellte ein paar leere Marmeladengläser für die unverpackten Waren in den Korb und vergewisserte sich, dass sie noch genug im Geldbeutel hatte. Acht Mark und ein paar Zerquetschte, das dürfte reichen.

Drei Straßen weiter stellte sie ihr Moped vor Spezereien Moser ab und ging hinein. Obwohl nur zwei Frauen vor ihr dran waren, dauerte es. Frau Moser unterzog jede Kundin einem strengen Verhör, als müsste man erst gestehen, bevor man etwas kaufen durfte.

»Zwei Pfund Gravensteiner, Frau Stumpf, selbstverständlich, sofort.« Von sofort konnte keine Rede sein. Ata Moser, die unter Ischias litt, schlurfte langsam vom Regal, an dem dreieckige Tüten in mehreren Größen hingen, darunter die breite Papierrolle, bis zur Obstauslage. Luise nutzte die Wartezeit und prägte sich das ganze Sortiment und die Anordnung ein und ergänzte die Liste für ihr eigenes Geschäft, das sich in ihrer Vorstellung mehr und mehr formte.

»Wie geht’s denn Ihrem Sohn?«, fragte Frau Moser die Kundin, als sie endlich eine Tüte mit Äpfeln füllte. Die Antwort verstand Luise nicht, da Frau Stumpf flüsterte. »Waaas? Hat er sich wirklich eine aus der Stadt angelacht?«, rief Frau Moser laut, damit alle es hörten. Sie hatte herabhängende Mundwinkel und weit auseinanderstehende Glupschaugen, mit denen sie jeden Bereich um sich herum auszuleuchten schien. »Diese jungen Dinger heutzutage können doch nicht mal mehr Socken stricken. Wie auch, mit solch langen Fingernägeln und Schaumwein schlürfen dazu. Und deshalb kriegen die Männer kalte Füße und hauen ab, bevor die Hochzeitsglocken läuten.« Verlegen lächelnd drehte sich Frau Stumpf zu den anderen Kundinnen um, als könnte sie mit einem freundlichen Gesicht die Peinlichkeit auslöschen. Den Augenblick nutzte die Ladenbesitzerin, um ihr rasch einen Apfel mit braunen Flecken in die Tüte zu mogeln, Luise hatte es genau bemerkt. Auch die minderwertige Ware musste verkauft werden, hatte die Moserin ihr einmal erklärt, als sie sich über matschige Birnen beschwerte, die sie zuhause beim Auspacken vorgefunden hatte. Seither kaufte sie ihr Obst nur noch auf dem Wochenmarkt oder, wenn es für ein bestimmtes Rezept unbedingt notwendig war, in kleinster Menge hier. Geiz sei ein reicher Bettler, warf ihr Frau Moser seitdem vor, und tat, als hätte sie Probleme mit der Waage. Wenn Luise einen Laden hätte, würde sie ihren Kunden derlei Sprüche ersparen. Sie würde überhaupt alles anders machen. Bei ihr sollten die Kunden das Gefühl haben, sie hätte nur auf sie gewartet, und nicht umgekehrt.

»Zweihundert Gramm Grieß, bitte«, verlangte sie, als sie endlich an die Reihe kam. Vielleicht würde Hans ein Pudding als Nachspeise weichklopfen.

»Erst mal grüß Gott, Frau Dahlmann. So viel Zeit muss sein. Ja, mein Gott, was ist Ihnen denn passiert? Habens Ihrem Herrn Bruder auf dem Feld geholfen?« Das war wohl eine Anspielung auf ihren Sonnenbrand. »Immer fleißig, die Frau Dahlmann, ja, ja, wo Sie doch selber so viel um die Ohren haben. Mein Beileid noch mal.« Luise bedankte sich für die Trauerkarte, die sie von Mosers erhalten hatten. »Was machens denn mit der leerstehenden Wohnung, wenn ich fragen darf?« Vermutlich brannte ihr diese Frage schon länger unter den Nägeln.

»Das steht noch nicht fest, doch sobald wir es wissen, werden Sie es als Erste erfahren.«

»Stets ein wenig schnippisch sind Sie, fast wie Ihre Schwiegermutter selig, als sie noch bei mir eingekauft hat.« Luise wusste, dass sich die beiden nicht hatten ausstehen können, aber über eine Tote wollte selbst Frau Moser nichts Schlechtes sagen. »Na ja, manchmal wird man mehrfach entlastet.«

»Wie meinen Sie das?« Normalerweise gab sie nichts auf das Geschwafel, aber jetzt wurde sie hellhörig.

Frau Moser begutachtete die länger werdende Schlange hinter Luise und wartete sogar, bis eine neue Kundin den Laden betrat, dann erst sagte sie, so laut es ging: »Um Ihre BRÜDER werden Sie sich bald nicht mehr KÜMMERN müssen, so viel ich gehört habe, hat sich bei denen in Leutstetten ein FLÜCHTLINGSFRÄULEIN einquartiert.«

Luise staunte. »Da wissen Sie mehr als ich.«

Frau Moser grinste wie ein Karpfen, der im Schlick eine Muschel gefunden hatte. »Aufpassen tät ich an Ihrer Stelle schon ein wenig, auch auf den Manni. Man weiß ja nie, was sich da für ein Gesindel einschleicht.«

»Das mach ich, Frau Moser.« So ein Schmarrn, dachte Luise. Martin hätte es gestern bestimmt erwähnt, wenn das stimmte. »Kann ich jetzt bitte den Grieß haben?«

Das Karpfengesicht verengte sich wieder. »Hart oder weich?«

»Weichweizen.«

»Der ist aus. Ich müsste extra nach hinten gehen, um einen neuen Sack zu holen, und das in meinem Zustand.«

Luise ließ sich nicht beirren. »Soll ich für Sie hintergehen?«, fragte sie, wie immer hilfsbereit.

»Das fehlt mir noch, hinter der Theke kann ich keine Kundschaft gebrauchen. Wen-deee-liinn?« Sie rief nach ihrem Mann. Nach einer Weile hörte man die Wasserspülung durchs ganze Haus rauschen, Herr Moser trat hinter einer Regalwand hervor und zog sich die Hosenträger hoch. »Was gibt’s?«

»Der Weichweizengrieß ist aus.« Sie scheuchte ihn mit einem Schlenker aus dem Handgelenk hinaus, und wandte sich wieder an Luise. »Sonst noch was?«

»Einen Viertelliter Schlagrahm.«

»So, so.« Sie musterte Luise von oben bis unten und füllte dann die gewünschte Menge Sahne in das mitgebrachte Glasgefäß.

»Und haben Sie auch Schwammerl?« Die hätte sie fast vergessen.

Als Antwort erhielt sie ein Knurren, dann rief Frau Moser durch die Seitentür. »Und bring die Schwammerllieferung mit.« Nach einigem Rumpeln und Stöhnen rollte Wendelin Moser auf dem Karren einen Sack herein, obenauf eine Spankiste mit Steinpilzen und anderen Sorten. Die Pilze waren erste Qualität und dufteten wie frisch aus dem Wald. Luise sah ihr genau auf die Finger, als sie sie herausholte und abwog, damit kein Bitterröhrling darunter geriet. Aber als sie den Grieß aus dem Sack in eine Papiertüte schöpfte, flog ein Schwarm Motten auf.

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Luise. »Was kosten die Schwammerl und der Schlagrahm? Auf den Grieß verzichte ich besser.«

»Ach, stellen Sie sich nicht so an.« Mit der Kelle wedelte Ata Moser die Insekten fort. »Wenn Sie den heute noch verarbeiten, geht er schon, ich gebe ihn zum halben Preis her. Der Fastenfreitag ist doch erst morgen.«

»Womit habe ich mir dieses Festessen verdient?« Hans nahm sich einen weiteren Semmelknödel. Luise hatte den Tisch feierlich gedeckt, Sonntagsgeschirr, Silberbesteck und Serviettenringe. Dazu lief leise Radiomusik. »Köstlich.« Ihr Mann fühlte sich sichtlich wohl. »Ein Glück, dass ich so eine wunderbare Köchin geheiratet habe, und jetzt gehörst du mir auch noch ganz allein.«

»Du meinst, dass ich in Zukunft nur dich bekochen werde?« Ihre Haut glühte, obwohl sie sich Gesicht, Hals und Arme und Oberschenkel zum Kühlen mit Quark bestrichen hatte. Jede Bewegung spannte, und in ein paar Tagen würde ihre Haut sich schälen.

Er nickte. »Dich hat’s aber arg erwischt. Wie ist das denn passiert?«

»Ich bin in der Sonne eingeschlafen, eigentlich habe ich den Liegestuhl gesucht, weißt du, wo der ist?«

»Ach, den habe ich schon letzten Herbst zu Kleinholz zerhackt, da war der Wurm drin, und auch der Bezug war voller Stockflecken. Kein Wunder, ich kann mich nicht erinnern, wann du dich das letzte Mal rausgesetzt hast. Das wird jetzt alles anders, gleich morgen bring ich dir einen neuen aus München mit. Welche Farbe soll’s sein?«

»Das pressiert nicht, vorerst habe ich genug von der Sonne.« Sie winkte ab, wollte das Gespräch so schnell wie möglich auf den Laden bringen, wusste aber noch nicht, wie. »Wie war dein Tag?«

»Es gab viel zu tun, ein ganzes Mietshaus in Schwabing hat Telefone gekriegt. Ein Haufen Parteien sind das, ich muss morgen noch mal hin. Aber warte, das wird dich interessieren.« Hans kratzte den Suppentopf mit den letzten Schwammerln aus, »weil du doch auch von so etwas träumst.« Jetzt war Luise gespannt. »Ich habe mich heute mit einer älteren Dame unterhalten, die vor kurzem ihren Milchladen zugemacht hat, und sie dir zuliebe ein wenig ausgefragt.«

»Und?« Luises Herz schlug schneller.

»Was sie mir erzählt hat, bestätigt leider meine Befürchtungen. Jahrzehntelang hatte sie keinen freien Tag in der Woche, Schufterei rund um die Uhr und kaum einen Verdienst. Sie ist froh, dass es endlich vorbei ist. Oft schreckt sie noch aus dem Schlaf hoch, weil sie glaubt, eine wichtige Bestellung für eine Kundin vergessen zu haben. Von dem Gemeckere der Leute gar nicht zu reden. Fix und fertig war sie, dazu kaputte Knie und ein krummer Rücken. Ihr Arzt hat gesagt, entweder sie macht den Laden dicht, oder sie wird keine sechzig.«

»Wirklich?« Mehr wusste Luise darauf nicht zu erwidern, ihre Hoffnung verflog, Hans jemals umzustimmen. Sie stand auf und stellte die Teller zusammen.

»Das alles willst du dir doch nicht auch antun, oder?«

Sie schwieg, holte die Dessertschüsseln aus dem Schrank. Als der Radiosprecher eine Stunde heißen Rhythm ’n’ Blues ankündigte, drehte sie lauter und servierte Topfennudeln mit Apfelmus, die sie anstelle des Grießpuddings gemacht hatte. Dabei wippte sie im Takt mit dem Sixty Minute Man , fünfzehn Minuten küssen, fünfzehn Minuten necken, fünfzehn Minuten drücken, den Rest verstand sie nicht mehr. Die Topfennudeln dampften noch leicht, und die ganze Küche war erfüllt von ihrem Duft.

»Ich bin froh, dass du das einsiehst.« Er atmete auf. »Eine Nachspeise gibt’s auch noch? Willst du mich mästen?« Bestens gelaunt lehnte er sich nach hinten und lockerte den Gürtel, als Luise ihm ein Schüsselchen befüllte, es mit ein paar Brombeeren aus dem Garten garnierte und reichlich Puderzucker darüber stäubte.

»Magst du ein Gläschen Likör dazu oder lieber einen Dujardin?« Sie imitierte die Radioreklame und sagte »Düschardääh«, so gedehnt französisch wie möglich.

Hans grinste. »Natürlich den Düdings, den nur du so toll aussprechen kannst.«

Mit einem selbstgemachten Eierlikör für sie und dem Weinbrand für ihn stießen sie an, und Luise dachte, jetzt oder nie. »Deine Bedenken und Einwände in allen Ehren, aber was, wenn ich das mit dem Laden trotzdem ausprobieren möchte?«

Er seufzte. »Dann hätte ich mir meinen Vortrag sparen können.«

»Nicht ganz.« Was er erzählt hatte, hatte sie auf eine weitere Idee gebracht, aber die behielt sie als Trumpfkarte in der Hinterhand, wenn alle Stricke rissen. Diesmal würde sie Hans festnageln, bis er nicht anders konnte und ihr seine Zustimmung gab. »Es gibt doch so viel, was dafür spricht.«

»Und was?« Hans schöpfte sich einen Nachschlag aus der Pfanne.

»Zum Beispiel, dass ich immer zu Hause wäre und mir die Arbeitszeit selbst einteilen könnte. Dann das Warenangebot. Wir bräuchten nie mehr einkaufen gehen und bekämen die Sachen obendrein günstiger.«

»Fang aber nicht wieder mit meinen Zigaretten an«, unterbrach er sie. »Sag mal, was ist das denn für eine Schachtel?« Er deutete mit dem Glas auf die Anrichte. Vorhin beim Abspülen war die sogenannte Erbschaft wieder zum Vorschein gekommen. Warum hatte sie sie nicht sofort zu Henriettes Sammelsurium in die Werkstatt geräumt?

»Keine Zigarettenstange, falls du das meinst, jetzt genieß erst mal die Nachspeise, bevor du rauchst, und lenk nicht ab, lass mich ausreden.« Fieberhaft ging Luise ihre innere Liste durch, Arbeitszeiten, Warenangebot, Kochkurse, aber das hatte sie alles schon vorgebracht. Was hatte sie noch? Es stand doch in dem Heft, sie holte es.

»Was ist dann drin? Schokolade?« Die Puppenschachtel ließ Hans offenbar keine Ruhe.

Also spielte sie ihren Trumpf vorzeitig aus. »Wie wäre es, wenn wir ein Telefon im Laden hätten, das würde bestimmt Kunden anlocken, was meinst du? Nachbarn, die sonst zu uns gekommen sind, könnten das dann mit einem Einkauf verbinden. Ich könnte ein Schild am Schaufenster anbringen und zusätzlich darauf aufmerksam machen, damit es sich weiter herumspricht. Nicht jeder will zum Bahnhof oder zur Post, und zur nächsten Telefonzelle muss man bis zum Rathaus vor.« An seinem Blick spürte sie, dass sie den richtigen Nerv getroffen hatte.

Er behielt den Löffel eine Weile im Mund, überlegte und zog ihn heraus. »Nicht schlecht, Luiserl. Bis alle Haushalte in Starnberg angeschlossen sind, dauert es tatsächlich noch. Die Postzentrale arbeitet sich von München aus vor. Erst kommen die Vorstädte, dann die umliegenden Landkreise.« Er klapperte mit dem Löffel auf seinen Zähnen herum. »Jetzt sag schon, für wen ist das Geschenk?« An dieser Stelle hatte sie eigentlich mit einem Vortrag über die Faszination der Telekommunikation gerechnet, aber er schielte immer wieder auf die Anrichte.

»Das ist was für mich, nur für mich, haben die Freundinnen deiner Mutter betont. Gretl, Herta und Irmi haben es heute vorbeigebracht und recht geheimnisvoll getan, angeblich sollten sie es mir auf Henriettes ausdrücklichen Wunsch persönlich überreichen.« Luise ließ eine Brombeere im Mund zergehen und genoss den herrlichen Geschmack. »Bestimmt ist bloß eine weitere Gruselpuppe drin. Ich will den Deckel gar nicht abheben, wir wissen sowieso schon nicht, wohin mit der schauerlichen Sammlung.«

»Stimmt.« Hans lachte und schenkte sich nach. »Als Spende für ein Kinderheim taugen Mamas Zöglinge nicht, damit erschrecken wir die Kleinen zu Tode.«

»Wir könnten sie heimlich im Leutstettener Moos vergraben, wo sie hoffentlich ganz tief einsinken und auch in tausend Jahren nicht auftauchen.«

»Gute Idee.« Hans prostete ihr noch mal zu. »Ein bisschen wundert’s mich schon, warum sie dir noch mal extra eine Puppe vermacht. Das muss schon eine ganz besonders scheußliche sein.« Er stand auf und holte die Schachtel. »Darf ich nachsehen?«

»Von mir aus, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Mit dem, was zum Vorschein kam, als Hans den Deckel lupfte, hatten sie beide nicht gerechnet. In Stopfwatte gebettet, die ihre Schwiegermutter für ihre Puppen- und Teddybärreparaturen verwendet hatte, lag ein dicker Umschlag voller Geldscheine. Lauter deutsche Mark.

Hans pfiff durch die Zähne. »Mensch, das sind ja mindestens tausend, nein, zweitausend oder, Moment.« Er schob die Schüsseln zur Seite, breitete die Scheine aus, sortierte und zählte sie. Bald lagen ein grüner, ein blauer und ein brauner Geldscheinstapel auf dem Tisch. »Exakt viertausenddreihundertachtzig Mark. Woher hatte Mama so viel Geld? Damit könnten wir auf der Stelle einen Volkswagen kaufen, auf der Bahnstrecke sehe ich jeden Tag die Preise, gebraucht gibt es die schon ab viertausend.«

Luise erwiderte erst mal nichts, sie nahm sich noch mal den Umschlag vor und fand einen Brief, der zu ihrem Erstaunen in zittriger Sütterlin-Handschrift an sie allein gerichtet war. »Soll ich ihn dir vorlesen?«

Hans nickte. »Mamas Schrift habe ich nie so richtig entziffern können.«

Liebe Luise,

wenn Du dieses Geldpaket erhältst, bin ich von allem Irdischen befreit und endlich wieder mit meinem Johann vereint. Du, und vor allem mein lieber Hansi, Ihr fragt Euch bestimmt, wie ich so eine Menge ansparen konnte. Schon in meiner Lehrzeit habe ich mir angewöhnt, von jedem Lohn ein bisschen was auf die Seite zu legen, und später, als ich verheiratet war, hielt ich es genauso – und fiel es mir auch noch so schwer. Auf diese Weise ist über die Jahre einiges zusammengekommen, was ich sofort nach der Währungsreform umgetauscht habe. Dennoch versichere ich Dir, dass mein lieber Hansi-Bubi nie zu kurz gekommen ist, darauf habe ich immer geschaut. Zu gern hätte ich damit meinen Enkelkindern eine Freude gemacht. Wie Du weißt, war mir das Glitzern von Kinderaugen, wenn ich den Kleinen den liebsten Spielkameraden verarztet hatte, immer die größte Freude. Aber da ich das anscheinend in der eigenen Familie nicht mehr erleben werde, habe ich es mir anders überlegt.

Trotz unserer Differenzen hast Du mich stets gut behandelt, Luise, mich umsorgt, bekocht und gepflegt, obwohl ich manchmal ungenießbar war, das gebe ich zu. Wenn Du eines Tages in meinem Alter bist, wirst Du mich besser verstehen. Es ist schwer, in einem gebrechlichen Körper zu hausen, in dem der Geist noch wach ist und was zu tun braucht. Vor allem dass ich meine Hände nicht mehr recht benutzen kann, macht mir sehr zu schaffen. Ich muss nach jeder Zeile absetzen, weil mir die Finger einschlafen. Du weißt, wie gern ich gehandarbeitet habe. So stolz war ich, dass wir in den ersten Jahren für den Hansi nichts zu kaufen brauchten. In der Schule war er stets wie ein kleiner Prinz gekleidet, so dass sich viele fragten, aus welchem Adelshaus er käme. Und das selbst in einer Zeit, als Stoff kaum noch zu kriegen war. Bis zum Tod vom Johann habe ich mich um alles Geschäftliche gekümmert und die Buchführung der Schreinerei gemacht, sonst hätten wir niemals bauen können. Auch wenn Du und ich, Luise, sonst wenig gemeinsam hatten, so habe ich bei Dir gesehen, dass Du haushalten kannst. Hansi geht nach seinem Vater, der war genauso technikbegeistert, und wie ich den Buben kenne, würde er das Geld bestimmt für einen Kraftwagen oder ähnlichen Größenwahn ausgeben, darum vermache ich es lieber Dir. Denk dran, der Mann ist der König im Haus, aber die Frau ist seine Krone. Darum soll mein Vermögen allein Dir gehören. Tu damit, was Du für richtig hältst, und denke dabei gelegentlich an mich. Ich hoffe, dass Ihr immer glücklich sein werdet!

Vergelt’s Gott.

Henriette

Sprachlos saßen sie noch eine ganze Weile am Tisch, Luise bemerkte, dass Hans weinte. Da kamen auch ihr die Tränen, sie umarmten sich und schluchzten beide. Es war, als wäre während der Aufbahrung und der Beerdigung keine Zeit für Trauer gewesen, und als käme sie jetzt zum Vorschein. »Vergelt’s Gott«, sagte Luise, »waren ihre letzten Worte. Sie wollte mir vielleicht schon vom dem Geld erzählen.«

»Du meinst, weil in Geld vergelten drinsteckt?«

Luise zuckte mit den Schultern.

»Von wegen Prinz.« Hans schniefte. »Wie habe ich diese karierten Anzüge und Knickerbockerhosen gehasst! Abgesehen davon, dass sie nie richtig gepasst haben, entweder zu eng oder zu weit waren, haben mich meine Schulkameraden ausgelacht. Besonders im Pausenhof, beim Fußballspielen. Ich dachte, wenn ich mich ordentlich einsaue und Risse reinbringe, bin ich die vornehme Kleidung los. Die dämliche Kappe habe ich als Erstes weggeschmissen. Aber dann bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil Mama bis spät in der Nacht daran genäht hat und es jetzt auch noch flicken musste. Was war ich froh, dass ich, kaum war ich zu Hause, eine Lederhose anziehen durfte. Erst in der Lehrzeit bei der Post habe ich ihr weismachen können, dass wir gekaufte Sachen tragen müssten. Stell dir vor, wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, würde ich heute noch als schottischer Graf verkleidet bei den Leuten klingeln und sagen: »Good Morning, I am from se German Post and I build your Telephone on.«

Sein holpriges Englisch brachte sie zum Lachen. »Ich würde mich um dich reißen.« Sie küsste ihn.

Sanft tupfte Hans Luise eine Träne von der verbrannten Nase. »Also gut.«

»Was meinen, Eure Lordschaft?« Luise atmete ebenfalls auf. Wie nah Lachen und Weinen doch beieinander lagen, dachte sie.

»Das mit deinem Laden, Gemischtwaren, von mir aus, versuch es. Das Geld für erste Anschaffungen besitzt du ja nun, ich werde dich unterstützen, wo ich kann.«

»Wirklich?« Sie strahlte ihn an.

»Falls es danebengeht, können wir immer noch vermieten. Sagen wir, bis in einem Jahr.«

Zwölf Monate, in denen sie ihr Bestes geben konnte, das klang wie eine Ewigkeit und sollte zu schaffen sein. Sie sprang auf und klatschte in die Hände. »Dann los.«

»Was jetzt?« Hans kratzte sich am Kopf.

»Ein oder zwei Schränke könnten wir von Henriettes Sachen noch hinaustragen, zur Verdauung, dann schlafen wir besser. Du unterstützt mich, hast du gesagt.«

Widerwillig erhob er sich. »Na gut, aber ich will die Kühlung aussuchen.«

»Ich dachte, wir lagern Eis aus dem See ein, wie es die Mosers machen.«

»Du willst doch moderner sein und bestimmt vieles anders anfangen als die Moserin. Also brauchst du eine Kühltheke für Wurst und Käse. Und auch für die Torten, wenn du welche anbieten möchtest.«

Luise küsste ihn noch mal. Als sie die ersten Teile aus der Stube geräumt hatten, schien Hans ebenfalls Gefallen an der Aktion zu finden. Trotz der Plackerei fing er zu pfeifen an. Das tat ihr zwar in den Ohren weh, aber den Teufel würde sie tun, ihm das zu sagen. In den Schränken und Regalen seiner Mutter fand Hans längst Vergessenes oder Verlorengeglaubtes und erzählte Luise davon. Seine Steinschleuder, die sie ihm abgenommen hatte, als er beim Üben aus Versehen das Badfenster traf. »Sie hat gesagt, dass sie die Schleuder ins Feuer wirft. Dabei hatte ich die gerade erst in der Schule gegen drei meiner heißgeliebten Sechzger-Kartn getauscht. Doppelt bitter war das damals für mich. Ach, schau her«, er zeigte Luise ein paar löchrige Fingerhüte, die in einer Tasse ohne Henkel von dem guten Porzellan lagen. »Die hab ich ihr ständig angebohrt, mei, was hat sie geschimpft, wenn wieder ein Fingerhut unbrauchbar war und sie sich beim Nähen gestochen hat.« Er entrollte ein großes Papier, das mit einer Schleife zugebunden war. »Stimmt. Das Bild von der Riesenbaustelle mit den vielen Kränen hab ich in der ersten Klasse gemalt, nicht schlecht für mein Alter, würde ich sagen. Da wollte ich noch Kranführer werden. Mama hat mitgemalt, siehst du, hier unten. Die Schaulustigen mit den Glupschaugen – das ist eindeutig ihr Markenzeichen.«

Luise lauschte seinen Geschichten, hielt immer wieder in der Arbeit inne, um sich einen Kuss bei ihm zu holen. Es fühlte sich fast an wie damals, als sie sich kennenlernten.

Todmüde fielen sie beide kurz nach Mitternacht ins Bett. Trotzdem konnte Luise nicht einschlafen, ihr schwirrte der Kopf, und die Haut pulsierte vom Sonnenbrand. In Gedanken malte sie sich die Einrichtung aus, verrückte Möbel und sortierte sogar schon Ware in die Regale. Kaum zu glauben, dass ihr Traum wahr werden sollte.