MARIE

B ereits die erste Nacht auf dem Hof war eine Herausforderung. Kaum war sie in dem herrlich weichen Bett eingeschlafen, klingelte der Wecker. Zwei Uhr morgens. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie sich befand, aber dann fiel ihr ein, dass sie Martin versprochen hatte, sich um die Lämmer zu kümmern. Rasch zog sie sich an, erwärmte die Milch, rührte das Öl-Ei-Gemisch hinein und drehte das Licht im Stall an. Als sie den Pferch betrat, lag der schwarz-weiße Stanis still auf der Seite im Heu. Sie erschrak, strich über seine Wolle, er atmete schwach, konnte aber nicht einmal mehr den Kopf heben. Auch das Maul öffnete er kaum, und es fehlte ihm die Kraft, um an dem Gumminuckel zu saugen. Seine Zwillingsschwester war etwas besser beieinander, sie trank, doch auch sie atmete stoßweise, als ginge es gleich zu Ende. Im Medizinschrank neben der Stalltoilette hatte Marie eine Glasspritze gesehen. Damit gelang es ihr besser, Stanis Milch ins Maul zu träufeln. Nach ein paar Tropfen wartete sie, bis er schluckte, und massierte ihm den Bauch, wie Martin es mit Tulpe gemacht hatte. Hoffend und bangend legte sie sich neben die zwei ins Heu.

Als eine Ziege an ihren Zopf knabberte, erwachte sie wieder und schaute sofort nach den Lämmern. Ein Wunder, sie lebten, versuchten sogar aufzustehen und sahen sie in der Morgendämmerung aus glänzenden schwarzen Augen an. Martin kam in den Stall, um die Ziegen zu melken, und teilte ihre Freude. Danach begleitete sie ihn und Manni, als sie die Herde auf eine der eingezäunten Weiden am Dorfrand führten. Erst um halb neun gab es Frühstück. Mittlerweile knurrte Marie der Magen so laut, dass sogar Martin es hörte, der neben ihr das Fahrrad mit dem Wasserkanister schob.

»Erst das Vieh, dann der Bauer«, sagte er, »aber das können wir auch ändern, falls du länger bleibst.«

Aus der einen Nacht wurden zwei, dann drei. Martin band sie wie selbstverständlich in die Arbeit ein, und sie strengte sich an, lernte Tag für Tag dazu. Mit dem Melken tat sie sich anfangs schwer, schon nach einer Ziege schmerzten ihr die Finger, und sie brauchte ewig für einen halben Liter. Unterdessen molk Martin die restlichen elf. Doch auch das gelang ihr mit der Zeit besser, und bald konnten sie sogar von Arbeitsteilung sprechen. Olivia und Stanis gediehen, die Lämmer sprangen ihr laut blökend entgegen, wenn sie sie bei ihren Namen rief. Nach ein paar Tagen durften sie mit hinaus, liefen mit den anderen, deutlich größeren über die Weide und kletterten auf den ruhenden Schafen herum, als wären sie eine Hindernisstrecke. Nur vor den Ziegen mit ihren Hörnern nahmen sie sich in Acht. Martin hatte auch das Mutterschaf nicht aufgegeben und übte so lange mit ihm, bis es wieder stehen konnte. Mit ihren Lämmern reihte sich Tulpe wie selbstverständlich wieder in die Herde ein.

Langsam fasste Marie Vertrauen und dachte kaum noch daran, dass sie eigentlich nur für eine Stunde, einen Tag oder eine Woche hatte hierbleiben wollen. Und Martin erinnerte sie nicht daran. Eher im Gegenteil, er weihte sie sogar in die Kunst der Käserei ein. Aus der Ziegenmilch stellte er nicht nur Frischkäse, sondern auch Schnitt- und Hartkäse mit Zugabe von Kräutern her. Die Arbeit verlangte Konzentration, man durfte den Moment nicht verpassen, wenn die Milch beim Erwärmen zu Dickmilch gerann. Sonntags begleitete Marie die Brüder zum Gottesdienst, setzte sich links in die Bank zu den Frauen, während Manni und Martin in der kleinen St. Alto-Kirche auf die rechte Seite gingen. Der Pfarrer hieß Marie von der Kanzel als Neuankömmling aus dem Osten willkommen, und sie spürte die vielen unangenehmen Blicke auf sich. Wieso überhaupt neu, dachte sie, sie war eine Deutsche wie die anderen auch. Aber allein durch ihre schlichte, geflickte Kleidung fiel sie auf. Sie hatte eben kein feines Sonntagsdirndl, wie es in Bayern an Festtagen üblich war. Mitunter hörte sie wenig schmeichelhafte Worte. Der bayerische Dialekt war ihr zwar noch ein Rätsel, doch sie glaubte so etwas wie »Blutsauger und Zigeuner« zu verstehen.

»Hams des scho ghört?«, zischte eine Frau, die ein winziges grünes Trachtenhütchen auf dem festgezurrten Haarbusch trug. »Das Flüchtlingsmensch lebt mit de Brandstetterbriada in am liaderlichm Verhältnis.«

»Woos, glei mit olle zwoa?« Ihre Sitznachbarin hatte die Zöpfe zu großen grauen Schnecken auf den Ohren eingedreht.

»Ja, a Hex is des, über den Gspinnerten hod sie sich auf den Hof gschlicha, und jetzt is da Martl dro, er schaugt scho dauernd zu ihr rüber. Sengses?« Ungeachtet dessen, dass Marie neben ihr saß, wenn sie auch nicht viel verstand, deutete die Frau mit dem Hütchen zu Martin. »Koa anders Weiberleit kummt no an earm dro. Dabei hod sich mei Gretel wega earm extrig Ohrringerl stecha lassn.«

»Autsch«, sagte die Schneckendame. Es musste um etwas Schmerzhaftes gehen.

Später winkte Martin ab, als Marie ihm auf dem Heimweg davon zu erzählen versuchte. »Ach, sei froh, dass du den Schmarrn nicht verstehst. Hör besser erst gar nicht hin. Diese Ratschweiber finden immer etwas, wenn sie sich nicht über Manni aufregen können, dann halt über jemand anderen. Ist ja sonst nichts los bei uns im Dorf.« Genau das, diese Ruhe in der Natur, gefiel Marie. Die Tiere nahmen sie so, wie sie war, ihnen war ihre Herkunft oder Vergangenheit gleichgültig. Im Leutstettener Moos und auf den Hügeln fühlte sie sich gänzlich unbeobachtet und frei. Gelegentlich, wenn das meiste getan war, setzte sie sich draußen ins Gras und malte. Dabei gefiel es ihr, die Farben so zu verwenden, wie sie sie in dem Moment empfand. Der Himmel rot und die Schafe grün oder umgekehrt. Allerdings waren die Näpfe in ihrem Malkasten schon fast leer. Darum skizzierte sie viel, oft nur Umrisse, und schrieb sich die Farben an den Rand, um die Zeichnung später, irgendwann, wenn der Traum, Künstlerin zu werden, greifbarer sein würde, auf ein größeres Format zu übertragen. Vielleicht sogar auf eine Leinwand. Manni begleitete sie oft. Er stocherte neben ihr im Moos herum und förderte das eine oder andere zutage. Glasscherben, Kupferpfennige, einen Groschen und einmal sogar einen Silberling, der sich allerdings als Knopf entpuppte. Manni zeigte ihr seine Fundstücke, und sie inspizierte sie ausführlich und lobte ihn dafür. »Wenn das so weitergeht, können wir von dem Geld bald ins Kino gehen. Warst du schon mal im Kino?«

»Naa.« Er schüttelte heftig den Kopf. Hatte er sie verstanden? Sie war sich nicht sicher, da lief er auch schon wieder los. Über Flaschen freute er sich am meisten, er setzte ihnen einen Trichter auf, den er immer am Hosenträger mit sich trug, und streckte sie der Sonne entgegen, hielt sie lange so und stülpte dann schnell den Verschluss darüber, falls der noch vorhanden war und funktionierte, und wenn nicht, rupfte er ein Grasbüschel aus, drehte es als Abdichtung in den Flaschenhals. Einmal fand er ein Metallstück, das mit Erde verkrustet war. Er spuckte darauf, rieb es an seiner Lederhose sauber, bis es glänzte, und gab es ihr.

»Für mich?« Es war ein Anhänger in Form eines Fisches.

»Jo.« Manni strahlte sie an.

Als sie an einem Abend in die Küche kam, schlief Martin zurückgelehnt am Tisch, die Arme verschränkt, der Mund leicht geöffnet. Schnell holte sie den Notizblock und porträtierte ihn. Ganz vertieft in ihre Zeichnung, merkte sie nicht, dass er wach war und nur noch zum Schein ruhig sitzen blieb. Sie kam sich ertappt vor, wie sie ihn so eindringlich betrachtete, dabei seine Konturen mit dem Bleistift festhielt, als ob sie ihn berührte. Hastig klappte sie den Block zu und verstaute ihn wieder in der Küchenschublade.

Am folgenden Wochenende lernte sie Luise kennen, über die sie von Martin schon viel gehört hatte. Sie verstand sich auf Anhieb mit ihr, vertraute sich ihr an und erzählte sogar von der Vertreibung und ihrer Jugendliebe Theo. Luise weihte sie ihrerseits in ihre Pläne ein und erteilte ihr den Auftrag, Schilder für den Laden zu entwerfen. Marie war begeistert. Ihr erster künstlerischer Auftrag! Meistens fiel sie jedoch vor lauter Arbeit todmüde ins Bett, ohne noch etwas zu zeichnen.

Die Heuernte begann. Mit der Sense mähte Martin die Hänge, die halbwegs geraden Wiesen mit einem Mähwerk, das von Fido gezogen wurde. Anschließend mussten die Reihen aufgeschüttelt werden. Marie half, aber auch Manni packte kräftig mit an. Er zeigte ihr, wie sie die Heugabel halten musste, damit sie nicht ständig im Boden hängen blieb. An ihren Händen bildeten sich Blasen, die höllisch brannten und über Nacht kaum verheilten. Dabei hatte sie gedacht, vom Unkrautjäten im Kloster abgehärtet zu sein. Richtige Feldarbeit kannte sie nur vom Sehen. Als Tochter eines schlesischen Gutsbesitzers hatte sie nirgends mithelfen müssen, tat es manchmal freiwillig, nur zum Spaß. Wenn sie die Lust verlor, saß sie lieber mit Theo auf einem Baum und schaute den Angestellten zu, die sich in der prallen Sonne abmühten. Dabei las er ihr manchmal Gerichtsakten vor, die er heimlich aus der Amtsstube entwendet hatte. Als Bürgermeister schlichtete sein Vater auch Streitsachen zwischen den Gemeindemitgliedern. Da gab es die absurdesten Verfahren, die Theo sehr faszinierten. Marie hörte ihm zu und zeichnete viel. Jetzt, nach dem ersten Tag der Heuarbeit, konnte sie sich kaum vorstellen, jemals wieder etwas Zartes wie einen Bleistift in den Fingern zu halten.

»Zeig mal deine Hände«, sagte Martin beim Frühstück. Ihm blieb nichts verborgen. Sie gab nach und hielt ihm die Handflächen hin. Er nickte. »Wasch die Blasen am besten in Seifenlauge, ich hol was, bin gleich zurück.« Marie hatte es vermieden, die wunden Stellen zu reinigen, aber nun tat sie es mit zusammengebissenen Zähnen. Danach tupfte er ihr die Haut vorsichtig trocken. Sie ließ es zu, was sie selbst verwunderte. Es war das erste Mal, nach dem unüberwindbaren Ereignis vor sechs Jahren, dass sie sich berühren ließ. Martin drapierte etwas Schafwolle auf ihre Handflächen und klebte ein Pflaster darüber. »Das lindert hoffentlich und polstert zugleich gegen neues Aufscheuern.«

Das tat es tatsächlich, schon am Vormittag, beim Wenden. Sie schüttelten das Gras auf, warfen es hoch in die Luft und verteilten es locker auf der Fläche, damit die Sonne es gleichmäßig trocknen konnte. Abends rechten sie es wieder zu Reihen zusammen, um es vor dem Tau zu schützen. Beim Ausziehen fiel Marie noch etwas von den duftenden Wiesenblumen und Kräutern aus den Kleidern. Am Morgen begann alles von vorne, die Reihen auflösen, das Gras, das sich langsam in Heu verwandelte, gleichmäßig über die Fläche verteilen, kurz vor der Dämmerung erneut zusammenrechen. Am Tag der Einfuhr verdunkelte sich gegen Mittag der Himmel, Gewitterwolken zogen heran. Martin ermahnte sie zur Eile, wenn das Heu nass würde, hätten sie im Winter nicht genügend Futter für die Tiere. Marie kletterte auf den Wagen, Martin und Manni warfen ihr Heu zu, das sie immer höher auf den Anhänger schichtete. Als die Fuhre aufgeladen war, setzte sich Manni auf Fido und trieb ihn an. Der Rappe zog kurz, blieb stehen und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Wind frischte auf, schwarze Wolken schoben sich näher. Sie probierten es wieder und wieder, suchten den Boden unter Fidos Hufen ab, halfen ihm ziehen. Es war nichts zu machen. Er schnaubte, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Was ist nur auf einmal mit ihm los?« Martin war verzweifelt. »Er kennt doch die Arbeit, zieht sogar den großen Kartoffelroder, den wir uns jedes Jahr von den Wittelsbachern ausleihen. Kannst du nicht irgendwas tun, Marie?«

Sie trat an Fido heran, strich ihm über die Halswirbelsäule, prüfte, ob er sich etwas ausgerenkt hatte. Eine Verletzung konnte sie nicht ertasten, auch sein Gebiss war in Ordnung. Kein Abszess oder fauler Zahn. Fido ließ sich sogar ganz willig ins Maul sehen. »Ich müsste ihn ausschirren, um genauer zu schauen, aber die Zeit haben wir nicht, oder?«

Es blitzte bereits. Wieder zerrte Martin am Halfter, und Manni trat Fido mit den Fersen in die Flanken. Da scheute der Gaul und stieg auf. Sofort ließ Martin los, um sich vor den Hufen in Sicherheit zu bringen, auch Marie wich zurück. Um ein Haar hätte er Manni abgeworfen, aber der klammerte sich mit gebeugtem Oberkörper in die Mähne. Ein echter Mongole eben, wie Luise gesagt hatte. Doch als Fido sich aufbäumte, merkte Marie, was ihm fehlte, auch Martin wusste es nun. Am linken Vorderbein hatte sich das Hufeisen gelockert, und die herausragenden Nagelnieten drückten dem Pferd bei jedem Schritt ins Fleisch. Das war leicht zu beheben. Für den Fall einer Wagenpanne hatte Martin immer Werkzeug dabei. Er klemmte sich Fidos Huf zwischen die Beine, setzte einen Schraubenzieher unter den noch verankerten Nieten an und schlug mit dem Hammer dagegen, um sie aufzubiegen. Dann löste er mit einer Kneifzange Stück für Stück durch Anklopfen und Ziehen das Hufeisen. Die ersten Regentropfen fielen.

»Jetzt aber schnell.« Martin schnalzte mit der Zunge, und Fido trabte sichtlich gelöst los. Knapp erreichten sie den Hof, bevor es zu schütten begann, und lenkten den Wagen unter das Scheunendach. Geschafft.

Am nächsten Morgen rief Marie wie gewohnt die Lammzwillinge zu sich, um sie zu füttern. Olivia schlängelte sich durch die gesamte Schafherde hindurch, blökte schon von weitem im Stall und trank gierig die Flasche leer. Aber wo blieb Stanis? Marie rief noch mal nach ihm, normalerweise antwortete er mit einem kläglichen Mäh, wenn er nicht gleich den Weg zu ihr fand. Doch diesmal nicht. Sie brachte Olivia zu Tulpe zurück und fand Stanis nach einigem Suchen leblos unter der Raufe. Das kleine schwarz-weiß getupfte Lamm war tot. Marie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nein, das durfte nicht sein, nicht auch noch er. Rasch holte sie Martin, er musste etwas tun. Er untersuchte ihn, konnte aber nicht feststellen, woran Stanis gestorben war. »Das passiert manchmal, leider.«

»Aber gestern war er doch noch gesund und munter und ist gewachsen wie Olivia.« Sie schluckte, Tränen verschleierten ihren Blick. »So etwas Kleines darf einfach nicht sterben.« Sie hob ihn an, streichelte über seine großen Ohren, die sich schon kalt anfühlten.

»Leben ist ein Wunder.« Martin strich ihr sanft über die Wange. »Man hat es nicht in der Hand.«

Sie zuckte zurück, sah ihn an. »Ich will es aber in der Hand haben.«

»Sei froh, dass es nicht so ist.«

»Gibst du immer so schnell auf?« Sie legte Stanis ab und rannte ins Haus. Es fing wieder an, alles in ihr rebellierte. In Luises Zimmer stellte sie sich vor den ovalen, goldgerahmten Spiegel und versuchte, ihr Bild zu fixieren, das immer unschärfer wurde. Sie schaute durch sich hindurch, ihr Körper ging ihr verloren, und sie konnte nichts dagegen tun.

»Marie? Was ist mit dir?« Martin war ihr gefolgt. »Ich hab geklopft, dachte, du bist ohnmächtig geworden, ist dir schlecht?« Sie hörte ihn wie aus weiter Ferne und rieb sich über die Stelle im Gesicht, an der er sie vorher angefasst hatte. Dann zuckte sie zusammen, als er sie am Arm berührte. Augenblicklich war sie wieder im Hier und Jetzt, ihre Nerven flatterten. Sie keuchte. »Es geht nicht.«

»Was geht nicht?«

»Das mit uns. Ich kann nicht, tut mir leid.«