LUISE

U m nicht dauernd erklären zu müssen, wann es endlich etwas zu kaufen gebe, und auch, um ein konkretes Ziel vor Augen zu haben, legte Luise die Eröffnung ihres Ladens auf den vierten September fest. Ein Donnerstag. Diesen Tag hatte sie sorgfältig ausgewählt. Am Mittwochnachmittag hatten die meisten Läden geschlossen, und vor dem Wochenende würden die Leute noch einmal einkaufen wollen. Auf diese Weise erhoffte sie sich genügend neugierige Kunden, die ihren ersten Eindruck weitersagten und andere anlockten. Jetzt, wo das Datum feststand, drängte plötzlich die Zeit. Wie sollte sie die neue Theke streichen? Auch in Pastelltönen wie die Regale oder lieber doch im Holzton belassen? Aber dann hob sie sich zu sehr von der Wurst- und Käsetheke ab, die sie daneben aufstellen wollte. Die war vor ein paar Tagen eingetroffen und begeisterte Hans. Einstweilen kühlte er sein Bier darin. Andererseits gefielen ihr die Maserung des Holzes und die kunstvollen Füllungen, die sich Herr Notnagel überlegt hatte. Darum entschied sie, die Ladentheke vorerst farblos zu belassen, streichen konnte sie sie immer noch. Das war einfacher, als abzubeizen. Außerdem war noch mit Lieferanten zu verhandeln. Viele verlangten Vorauskasse, und der Geldvorrat aus Henriettes Hinterlassenschaft schrumpfte. Fast jeden Tag stand irgendein Vertreter auf der nagelneuen Fußmatte und wollte ihr seine »exklusiven« Kofferraumartikel zum vermeintlichen Sonderrabatt andrehen. So manch einer ließ sich nur schwer abwimmeln, und wieder war eine halbe Stunde in den Sand gesetzt. Elektrische Staubsauger oder nicht? Nein, die nahmen zu viel Platz weg, auch wenn sie immer gefragter wurden. Sie selbst war noch mit ihrem mechanischen Staubroller zufrieden. Bei einem Sortiment von den Stiften, die nicht mehr mit Tinte aufgefüllt werden mussten, willigte sie ein. Diese Kugelschreiber passten zum Schulbedarf, den sie neben ein paar ausgewählten Zeitschriften anbieten wollte, und auch Hans packte sie einen in seine Aktentasche.

Mitten in diesem Trubel erhielt sie Post von Captain Smith, sie könne in Feldafing ihr Zeugnis abholen. Das wollte sie gleich am nächsten Tag tun, obwohl die Arbeit im Camp ewig zurückzuliegen schien. Bei der Gelegenheit würde sie nach dem Garten sehen, den sie am Waldrand angelegt hatte: Gemüse, mehrere Mistbeetkästen mit Salat und zahlreiche Johannisbeersträucher, dazu ein Kräuterbeet. Das war ihr das Liebste gewesen. Muskatellersalbei hatte sie gezogen, Huflattich, Lavendel, Thymian, Kamille und einiges mehr, was bestimmte Leiden der oft schwerkranken Heimatlosen gelindert hatte. Sogar ein eigener Brunnen war ihr von der Leitung extra dafür genehmigt worden. Auch ein Kartoffelfeld gab es, mit Saatkartoffeln vom Hof ihrer Brüder. Wie sie so daran dachte, fiel ihr etwas ein, das sie für den Laden brauchen könnte. Vorausgesetzt, das Angebot des Captain galt noch.

Zum Abschied machte sie ihm eine Bayerisch Creme, die er so gerne gegessen hatte, und schnallte die Schüssel auf den Gepäckträger der Triumph, wo sie während der Fahrt über die mit Schlaglöchern übersäte Seeuferstraße ordentlich durchgeschüttelt wurde. Hinter der Schranke des immer noch streng bewachten Camps musste sie absteigen und das Moped den Berg hinaufschieben, da die Räder im Matsch blockierten. Die Abrissarbeiten mit schwerem Gerät und die Sommergewitter hatten die Wege in Schlammpfade verwandelt. Bis Luise die Administration erreichte, waren ihre Schuhe durchgeweicht und die kostbaren Seidenstrümpfe, die sie als Luxusartikel ins Sortiment aufgenommen hatte, ruiniert. Sie versuchte, den Schaden mit ihrem Taschentuch zu beheben, verrieb den Dreck bloß mehr, außerdem bemerkte sie eine Laufmasche auf einer Wade. Dabei hatte sie sich extra elegant angezogen, eine neue selbstgenähte Bluse zum weitschwingenden Glockenrock, darunter einen Petticoat. Sie klopfte an der Bürotür. Hoffentlich würde Captain Smith nicht auf ihre schmutzigen Beine achten. Ein junger Gefreiter bat sie herein und überreichte ihr ganz förmlich in einem Briefumschlag das Certificate , wie er es nannte. Dann verlangte er von ihr den Schlüssel für das Nachbarhaus, in dem sich die Küche befand. »Und der Captain?«, fragte Luise. Der sei bereits abgereist. Das enttäuschte sie, trotzdem überreichte sie ihre Bayerisch Creme. »For you and your …«, sie überlegte einen Moment, wie sie Kameraden ins Englische übersetzen sollte, fellows, comrades? »… and your friends«, sagte sie dann der Einfachheit halber. Er runzelte die Stirn, nahm ihr die Schüssel ab und stellte sie auf einen hohen Aktenschrank, wo er sie bestimmt vergessen würde. Dabei hatte sie sich so viel Mühe damit gegeben und auf die gelbe Haube der Creme mit Sahne goodbye and thanks geschrieben. Was bis auf das H in thanks auch noch halbwegs lesbar war. Sie öffnete den Umschlag und überflog das Zeugnis, das zwar knapp, aber überaus wohlwollend und zweisprachig gehalten war. In der letzten Zeile forderte Captain Smith alle alliierten Dienststellen auf, der obengenannten Mrs. Luise Dahlmann Schutz und Entgegenkommen zu gewährleisten. Nun war sie also eine zertifizierte bayerische Köchin mit der Berechtigung, alle Besatzungszonen zu passieren. Ob sie dieses Dokument jemals brauchen würde? In diesen Zeiten wusste man nie. »Den Schlüssel zur Küche bringe ich Ihnen gleich, ich will nur meine restlichen Sachen holen.«

»Dann begleite ich Ihnen«, sagte der Gefreite mit Akzent, strich seine Uniform glatt und rieb sich über das pickelige Kinn. Befürchtete er, dass sie etwas einsteckte, was ihr nicht gehörte? Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie der Captain sogar aufgefordert, sich noch zu nehmen, was sie wollte. Und das würde sie auch tun, bevor es verdarb oder weggeworfen wurde. »Nicht nötig«, wehrte sie ab.

»Tut mir leid, ich habe order, zu lassen no person alone in die Kuche.«

»Okay, und ich besitze diese Bescheinigung.« Sie zeigte ihm das Zeugnis. Daraufhin wusste er nichts zu erwidern. »Sie können ja so lange von meiner Nachspeise probieren, die ist wirklich fein.« Vor der Durchreiche in der Küche blieb sie stehen und gab ihm einen Löffel. Er nahm ihn und ließ sie allein. Die vielfach benutzten Blechteller mit den schwarzen Griffen an beiden Seiten stapelten sich im Regal. Die Kellen über dem Herd glänzten noch genauso, wie sie sie nach dem Polieren hinterlassen hatte. Bloß der Speisesaal wirkte durch die fehlenden Tische und Stühle wie ein Tanzsaal, der vergeblich auf eine neue Hochzeitsgesellschaft wartete. Unterwegs hatte sie gesehen, dass die Behelfs-Synagoge bereits abgerissen war. Als hier noch Hochbetrieb herrschte, war dort fast jede Woche eine Ehe geschlossen worden. Die Überlebenden, die die meisten ihrer Angehörigen in den Gaskammern verloren hatten, sehnten sich nach einer neuen Familie. Luise holte ihre Kochschürze aus einer Schublade. »Frau Dahlmann« war in geschwungenen roten Buchstaben auf die Brusttasche gestickt. Zu Beginn ihrer Arbeit im Camp hatte dort »Frl. Brandstetter« gestanden, und wenn man genau hinsah, erkannte man, dass das F und das R aus etwas hellerem Garn bestanden. Sie strich darüber. Bei der Namensänderung hatte sich die Stickerin gespart, alle Buchstaben aufzutrennen. Ein letztes Mal sah sich Luise um, ging dann in die Speisekammer, bediente sich aus den Vorräten und schleppte ihre Beute in einer Kiste nach draußen. Der Wachhabende tauchte wieder auf und half ihr zu ihrem Erstaunen beim Aufladen. Mit sahneverschmiertem Mund verschnürte er den Sack Kakaobohnen und die Dosen mit Kokosfett auf dem Gepäckträger der Triumph. Anscheinend hatte ihm die Bayerisch Creme geschmeckt.

»Ich möchte noch kurz zum Garten hinauf«, erklärte Luise, als er sie schon verabschieden wollte. »Bin gleich zurück.« Oben angelangt, erkannte sie die Beete kaum wieder. Alles war zugewuchert. Aus alter Gewohnheit klaubte sie ein paar Schnecken ab, die sich an einem Riesenkürbis gütlich taten, und schleuderte sie über den Zaun. Dann pflückte sie Tomaten, von denen die meisten bereits aufgeplatzt waren, und legte sie in ihren Korb. Ihr Blick schweifte über das halbaufgelöste Camp, das immer noch wie ein eigenständiges Dorf aus lauter verschiedenen Gebäuden, verschlungenen Wegen und Straßen bestand. Zeitweise hatte es hier auch kleine Geschäfte gegeben. Schneider, Schuster, Friseure und einen Lagerfotografen, sogar ein Gemischtwarenladen. Es existierten eigene jüdische Zeitungen, in deutschem Bleisatz gedruckt, weil damals keine hebräischen Lettern aufzutreiben waren. Die Nachrichtenblätter konnte man mit dem Feldafinger Dollar erwerben, der Währung, die hier kursierte. Weiter hinten, halb versteckt hinter Bäumen, entdeckte sie auch das kleinste und älteste Haus auf dem Gelände, das Villino, in dem der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann seinen Zauberberg geschrieben hatte. Luise las schon seit drei Monaten in dem dicken Roman, schaffte abends meist nur ein bis zwei Seiten, bevor ihr die Augen zufielen.

»Dieser Mann bricht dir noch das Nasenbein«, zog Hans sie auf, wenn sie wieder mit dem Buch auf dem Gesicht eingeschlafen war. Dabei war der Roman keinesfalls langweilig oder schwierig zu lesen, die paar Seiten, die sie jeweils vorwärtskam, bereicherten sie. Ihr gefiel die Geschichte, die in ihrer Heimat entstanden war und deren Hauptfigur, Hans Castorp, den gleichen Vornamen wie ihr Liebster trug. Sie wandte sich ab, riss den Drahtzaun aus der Verankerung und öffnete den Garten für das Wild. Wenigstens sollten die Rehe noch etwas davon haben, bevor hier alles endgültig dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Zurück in Starnberg, probierte sie, wie sich, zusammen mit etwas Mehl und gehackten Nüssen, aus dem Kokosfett und den Kakaobohnen Schokolade herstellen ließ. Sie experimentierte ein wenig herum. Zuerst gelang es ihr nicht, das Kokosfett wie Butter oder Margarine, die sie sonst verwendete, mit Zucker schaumig zu rühren. Sie musste es erst erwärmen und mit Honig vermischen, was ihm einen ganz eigenen Geschmack verlieh. Nachdem sie die Kakaobohnen in ihrem Fleischwolf zermahlen hatte, löste sie das Pulver in Wasser auf und erhitzte es, kippte es, mit den anderen Zutaten vermischt, auf das Blech, das sie mit Butterbrotpapier ausgelegt hatte. Sie bedeckte die Masse mit einem zweiten Papier und presste sie zu einer hauchdünnen Schicht. Bevor die Schokolade erstarrte, schnitt sie sie in kleine Würfel, verzierte sie mit Blütenblättern und feinen Gewürzen und ließ sie in der Kühlung aushärten.

Und endlich war es so weit. Am vierten September um sieben Uhr siebenundfünfzig warf sie einen letzten prüfenden Blick durch den Laden. Noch drei Minuten, dann würde ihr Traum in Erfüllung gehen. Alles war blitzblank gewischt, die hell gestrichenen Regale und Schränke bis zum Rand gefüllt. Luise schüttelte noch mal das Kissen in Henriettes Ohrensessel auf und rückte den Telefonapparat auf dem Tischchen daneben so, dass er gleich ins Auge stach. Dann schob sie den einen oder anderen Artikel bündiger an die Regalkante und vergewisserte sich aufs Neue, dass das frische Obst makellos war. Sie freute sich über die schön geschwungenen Buchstaben von Maries Beschriftung an den Schubläden und auf den Angebotstafeln, die dem Laden den letzten Schliff verliehen. Obwohl genügend Licht durch die Schaufenster fiel, schaltete sie zur Feier des Tages die futuristische Leuchte mit den seltsamen Insektenfühlern an, die ihr Hans unter der Decke montiert hatte. Zuletzt überprüfte sie, ob die Registrierkasse auch wirklich aufsprang. Das tat sie mit einem fröhlichen Kling , und ja, es war auch genügend Wechselgeld drin. Luise holte tief Luft, strich ihren Kittel glatt, zupfte an ihrem Blusenkragen und ging zur Tür. Dann drehte sie das Schild von »Geschlossen« auf »Geöffnet«.

Eine ältere Frau bewegte sich auf den Laden zu. Luise zwang sich, ruhig zu bleiben, dann lief sie doch zur Tür und öffnete sie weit. Die Ziegenglocke, die Martin ihr zur Eröffnung geschenkt hatte, bimmelte. Gleich würde die allererste Kundin ihren Laden betreten. Ihr Herz klopfte stark. »Grüß Gott, schön, dass Sie hergefunden haben, wie geht es Ihnen, was darf’s denn sein? Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?« So viele Male hatte sie geübt, was sie als Begrüßung sagen wollte und was nicht, dass sie jetzt einfach alles herausposaunte.

Die Frau lockerte den Knoten ihres Kopftuchs. »Hätten Sie etwas Wasser für meinen Schorschi, bitte?« Sie hielt einen ergrauten Rauhaardackel an der Leine.

»Selbstverständlich. Einen Augenblick.« Eigentlich wollte sie keine Hunde im Laden. Marie hatte eigens ein Verbotsschild gemalt. Aber dieser Schorschi sah dem durchgestrichenen Schäferhund überhaupt nicht ähnlich, und Luise wollte die allererste Kundin nicht sofort vergraulen. »Kommen Sie ruhig so lange herein.«

»Nein, ich warte hier.« Der Hund hechelte verdächtig. Hastig lief Luise in die Küche und brachte eine Emailschüssel mit Wasser. Kaum hatte Schorschi getrunken, wandte sich die Frau zum Gehen.

»Mein Laden ist neu eröffnet, so treten Sie doch näher. Ich habe ein großes Warenangebot, es lohnt sich hereinzuschauen.«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Wie wäre es mit einem Stück Ziegenkäse für Sie und einer Scheibe Wurst für Ihren Hund?«

»Ich mag keinen Käse, und der Schorschi verträgt nur Kalbsleberwurst, die hol ich seit Jahren beim Spindler, der macht die beste.« Da musste Luise ihr recht geben, die Metzgerei am Tutzinger Hofplatz war erstklassig. »Vielleicht ein anderes Mal, ich hab’s eilig.«

»Moment, ich habe noch etwas für Sie.« Luise lief zur Theke und kam mit dem Tablett zurück.

»Oh, danke.« Schon verschwand eine Praline im Mund der Frau, und dann trippelten sie davon. Dame und Hund. Zurück blieb die Wasserschüssel. Luise wollte den Rest ausleeren, dann besann sie sich und schob sie neben die Rampe. Sie würde Marie um ein weiteres Schild bitten, und Hans sollte ihr einen Haken für Hundeleinen an der Hauswand anbringen. Vielleicht würde ein Tränkplatz für Schorschis in allen Größen deren Frauchen oder Herrchen in den Laden locken. Als sie diese Idee in ihr inzwischen fast volles Heft schreiben wollte, fand sie es nicht. Sie suchte überall, wohin hatte sie es vor lauter Räumen und Putzen nur verlegt? Gestern Abend war sogar der Fotograf vom Land- und Seeboten erschienen und hatte ein paar Aufnahmen von ihr gemacht.

»Nicht so statisch, Frau Dahlmann«, sagte er, als sie sich in ihrem neuen weißen Kittel und der frischgebügelten bunten Bluse hinter der Theke aufstellte und in die Kamera schaute. »Tun Sie etwas, bewegen Sie sich, zeigen Sie, was Sie vorhaben.« Luise deutete auf die Waage und die Registrierkasse, doch er wirkte weiterhin unzufrieden. »Nein, so geht das nicht. Ihr Laden ist doch modern, das sollten wir auch im Bild zeigen. Wie wäre es mit einer Außenaufnahme vorm Schaufenster?« Trotz der Lederpantoletten mit Absatz, in denen ihre Waden gut zur Geltung kamen, stieg sie draußen auf die Trittleiter. Eine wackelige Angelegenheit. »Und jetzt bitte leicht zu mir drehen«, forderte der Fotograf sie auf. Sie tat wie geheißen, balancierte mit Pinsel und Farbdose, als würde sie gerade Schweinsöhrchen, 1 St. 30 Pf. auf die Scheibe schreiben. Dabei hatte Marie das bereits gestern erledigt. »Und jetzt lächeln, Frau Dahlmann. Na endlich.«

Sie suchte weiter nach ihrem Notizheft, schaute in allen Schubfächern und unter der Theke nach. Als sie sich wieder erhob, nahm sie vor dem Fenster eine Bewegung wahr. Wieder ging sie hinaus, entdeckte aber niemanden. Dabei war das Wetter perfekt. Nicht zu warm und nicht zu kalt für einen Einkauf, und es regnete auch nicht. Als sie kehrtmachte, hörte sie Geschnatter. Ein Entenpaar tummelte sich um den Wassernapf. Der Erpel mit den schillernd grünen Federn schöpfte mit dem Schnabel Wasser, und dann hüpfte die Entendame in die Blechschüssel und badete darin. Wenigstens die Tränke war ein Erfolg. Luise sah auf die Uhr. Bald war die erste Stunde vorbei und immer noch kein Kunde in Sicht. Vielleicht sollte sie Kaffee aufsetzen und die Tür auflassen, damit der Duft jemanden hereinlockte? Kaum war sie in der Küche, ging alles sehr schnell. Es schellte, sie lief nach vorne. Ein baumlanger Kerl hatte die Tür mit dem Rücken aufgedrückt. Als er sich umdrehte, stieß er noch mal an die Glocke.

»Haben Sie blutstillende Watte?« Er keuchte, hielt eine Hand an die Brust gepresst und stützte sie mit dem anderen Arm.

»Sind Sie verletzt?«

Er nickte. Sie lief um die Theke. »Watte habe ich keine, aber einen Druckverband könnte ich Ihnen machen, zeigen Sie mal her.« Hoffentlich tropfte er nicht auf die Ware, in Gedanken notierte sie »Watte« unter »Hundetränke«. Langsam streckte der Mann die Hand vor und verzog das Gesicht.

»Wo genau haben Sie sich denn verletzt?« Luise drehte das Licht an und nahm die Hand in Augenschein, konnte aber nichts erkennen.

»Da!« Vorsichtig bewegte er den kleinen Finger und zischte durch die zusammengebissenen Zähne.

»Ich sehe immer noch nichts.«

»Na, hier.« Er zeigte auf einen Einstich in Stecknadelgröße auf der Fingerkuppe, aus dem auf seinen Druck hin ein Blutstropfen quoll. »Ich habe mich an einer Heckenrose gestochen, als ich an Ihrem Zaun entlanggestreift bin.«

»Ein Pflaster und etwas Schwedenbitter wird helfen.«

Er nickte. Doch dann fiel ihr ein, dass Martin ihr das Gebräu, das er nach dem aufwendigen Rezept ihres Vaters ansetzte und das alle möglichen Beschwerden linderte, erst noch liefern wollte. »Hundetränke – Watte – Schwedenbitter«, die Liste wurde länger und länger, jetzt musste nur noch das vermaledeite Notizbuch wieder auftauchen. »Schwedenbitter habe ich leider doch noch keinen, dafür etwas Jod?«

»Ach so, ich dachte, das ist ein Schnaps zum Trinken, davon hätt ich nämlich gerne einen.« Er stützte sich auf die Theke, während sie ihn verarztete und ihm einen Obstler eingoss. »Was macht das?«

»Nichts, das war gratis.«

»Oh, danke sehr. Und die Pralinen, wie viel kosten die?« Er leckte sich die Lippen.

»Da dürfen Sie sich auch eine umsonst nehmen …«, angesichts seiner Größe und seiner Tapferkeit ergänzte sie: »Oder von mir aus auch zwei.«