HELGA

»I ch bin’s, mach auf.« Es war Luise, hoffentlich allein. Sie öffnete die Tür.

»Herr von Thaler hat sich bereit erklärt, dir zu helfen.«

»Mein alter Chef, was hat der damit zu tun?« Sofort überfiel Helga die Angst – wollte er ihr eine Beruhigungsspritze verpassen, wie ihre Eltern es von Dr. Schneid verlangt hatten? Damit man ihr ohne Widerstand das Kind wegnehmen konnte?

»Er will als Vormund für David einspringen.« Luise führte sie ins Wohnzimmer. Der Doktor saß mit Frau Russel bereits dort und ging die Unterlagen durch. Das amtliche Schlachtschiff war zu einer Jolle geschrumpft. Sofort erklärte sie Helga, welch Glück sie habe, dass sich der weit über den Landkreis hinaus bekannte Arzt und Leiter der Frauenklinik zu solch einer zusätzlichen Verpflichtung bereit erklärte. Helga hatte keine Wahl, ihr blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. So richtig gefragt wurde sie bei der ganzen Sache sowieso nicht. Luise warf ihr mahnende Blicke zu und drückte ihre Hand. Nicht dass Frau Russel einen Rückzieher machte und den Wachtmeister hereinrief, der anscheinend vor dem Laden Schmiere stand.

Endlich erhob Frau Russel sich und wandte sich zum Gehen. »Es sind noch ein paar Formalitäten zu besprechen, Herr Doktor, aber das hat Zeit.« Auch von Thaler erhob sich und gab ihr die Hand. »Die Sache mit dem Wohnsitz ist vorerst geklärt, da Sie nebenan wohnen, können Sie bestimmt jederzeit Ihr Mündel besuchen. Also nicht nur zu den Ladenöffnungszeiten, haben wir uns verstanden, Frau Dahlmann?« Sie blickte zu Luise, die wie alle anderen im Raum nicht gleich begriff, dass das ein Scherz sein sollte. Niemand lachte. »Spaß beiseite.« Die Russel schnipste die Mine in den Kugelschreiber, griff nach ihrer Handtasche und verstaute ihre Unterlagen.

Als sie fort war, verabschiedete sich auch Dr. von Thaler. »Frau Dahlmann, Fräulein Knaup, ich hoffe, dass nun wieder Ruhe einkehrt. Ihrem Jungen scheint es ja prächtig zu gehen.« Er betrachtete David in Helgas Armen, streckte einen Finger aus, als wollte er ihm übers Gesicht streicheln, ließ es bleiben und nahm stattdessen seinen Hut von der Kommode im Flur. »Und der Vater Ihres Kindes, weiß er, was er verpasst? Es geht mich ja nichts an, aber …«

»Ich kann nur danke sagen, Herr Doktor«, unterbrach ihn Helga, sie hatte genug für heute. »Sie haben mich und mein Kind gerettet.«

»Bedanken Sie sich nicht bei mir, es war meine Frau, die das vorgeschlagen hat.«

»Ihre Frau?« Das überraschte sie.

Er nickte. »Aber es freut mich, wenn ich helfen konnte und hoffentlich weiterhin kann.«

Die Vormundschaft blieb nichts weiter als eine Formalität. Abgesehen davon vielleicht, dass Frau von Thaler plötzlich im Laden einkaufte. Es war gerade so, als wollte sie im Auftrag ihres Mannes nach dem Rechten sehen. Meist kam sie unter einem Vorwand, dass sie ihren Sohn abholte oder ihn neuerdings sogar brachte oder ihr Hausmädchen irgendeine wichtige Zutat vergessen habe. Nach einer Weile merkten Helga und auch Luise, dass Annabel einfach nur ihre Nähe suchte. Im Gegensatz zu früher blieb sie oft noch für ein Schwätzchen stehen, unterhielt sich mit ihnen und mit den anderen Kunden. Manchmal holte sie ihr Gebetbuch aus der Tasche, als würde sie gleich eine Predigt halten wollen. »Die kommt fast schon öfter als Fritzchen«, stellte Helga fest, als sie an einem Mittwoch im Juni um kurz nach zwölf den Laden zusperrte. Endlich Mittag, ihr knurrte schon der Magen.

Luise nickte und schmunzelte. »Zweihundertzehn, zweihundertelf …« Sie zählte das Geld aus der Kasse und trug den Betrag ins Geschäftsbuch ein. Nicht schlecht, die Einnahmen, für einen gewöhnlichen Mittwoch. Der sieben Wochen alte Davidl, wie ihre Freundin ihren Sohn liebevoll nannte, lag auf dem Kissen im Wäschekorb und streckte die molligen Arme und Beine in die Luft. Dabei kaute er auf dem Knoten eines Tuchs herum und gab knurrende Geräusche von sich. Wie eine Katze, die eine Maus erlegte. Vielleicht bekam ihr Liebling schon den ersten Zahn, dachte Helga, auch wenn viele Kundinnen und besonders Annabel von Thaler, die als Expertin in Kindererziehung tausend Tipps parat hatte, meinten, das sei noch viel zu früh.

»Wenn man vom Teufel spricht …« Helga sah aus der Ladentür und entdeckte Annabel, die die Straße überquerte. »Hat die Frau Doktor ihr Knödelbrot liegenlassen?«

»Nicht dass ich wüsste.« Luise sah sich um. »Du, ich fang schon mal an, die Theke zur Seite zu rollen. Dann müssen wir das nachher nicht machen.«

»Warte, ich helfe dir.« Helga packte mit an.

»Du sollst doch noch nicht.«

»Ach, hör auf, mir geht’s gut, alles wieder im Lot.« Der Wochenfluss war schon seit zwei Wochen versiegt. Sie fühlte sich immer noch etwas müde, aber das war halt so, wenn man keine Nacht durchschlief, da konnten auch Luises eisenhaltige Speisen aus Roten Rüben und Spinat wenig bewirken. Es klopfte. Tatsächlich, Frau von Thaler. Helga öffnete ihr.

»Entschuldigen Sie, dass ich noch mal störe. Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass Sie ab sofort wieder im Pfarrsaal trainieren können, wenn Sie mögen. Ich habe mit Zuckermüller gesprochen und konnte ihn dazu bewegen, seine Meinung zu ändern.«

»Ach, wirklich, hat sich Hochwürden unter seiner Würde auf einmal erbarmt.« Helga äffte ihren gestelzten Tonfall nach.

»Ja, phantastisch, oder nicht?« Die von Thaler strahlte sie an. »Einmal in der Woche turnen täte ihm auch gut, hat er gesagt, aber ich habe ihm erklärt, dass nur Frauen in Ihrem Kurs willkommen sind. Das stimmt doch?« Helga nickte. Zuckermüller hatte vermutlich nie etwas gegen die Turngruppe gehabt, doch sie verkniff sich eine Bemerkung.

»Apropos Bewegung.« Bei der Frau Doktor hatte sich offenbar einiges angestaut, dabei war sie zuletzt vor einer Stunde im Laden gewesen, hatte sich ausführlich über die korrekte Zubereitung von Semmelknödel beraten lassen und gefragt, ob das auf Bayerisch korrekt »Semmelknödeln« oder »Semmelnknödeln« heiße, wenn man mehrere machen wollte. »Seit ich die ganzen leckeren Rezepte von Frau Dahlmann ausprobiere, habe ich zugenommen.« Sie rieb sich über ihre gertenschlanke Taille. »Jedenfalls täte mir so ein wenig Trimmen auch gut, Fräulein Knaup, darf ich mich anmelden?«

»Unter einer Bedingung«, sagte Helga streng. Auch Luise, die gerade das Geschäftsbuch und den Beutel mit dem Geld in die Thekenschublade sperrte, horchte auf. »Sportler duzen sich, einverstanden?« Sie streckte die Hand aus.

»Gern, ich bin die Bella, jedenfalls nennt mich mein Mann so.«