FINALE

I n den nächsten drei Tagen arbeiteten sie alle auf Hochtouren. Marie entwarf das Plakat, das Annabel mehrmals drucken und auch für Handzettel verkleinern ließ. Sie spendierte die Druckkosten – als Dankeschön dafür, dass ihr Sohn so oft bei den Dahlmanns sein durfte, wie sie betonte. Helga kümmerte sich um die Verteilung. Bei ihren Spaziergängen mit David klapperte sie alle Litfaßsäulen ab und hängte in der ganzen Stadt die Ankündigung auf, die Zettel verteilte sie aus dem Kinderwagen heraus. Luise bereitete ein großes Büfett vor und stockte den Warenbestand auf. Auch hier half Annabel, nicht nur beim Aufdecken und Dekorieren. Zur Freude von Fritz, dem es gefiel, dass Tante Dalli und seine Mutter sich endlich verstanden. Für den Fall, dass es an diesem vierten Juli regnen sollte, hatten sie vorgesorgt. Hans errichtete mit Harri und Elmar eine Pergola aus Leitern und Planen, um die Stühle und Bänke, die sie vor dem Laden bis auf den Gehsteig hinaus aufgestellt hatten, zu schützen. Noch war der Himmel nur bewölkt, vielleicht hielt das Wetter auch. Und wenn nicht, würde das der Freude, dass Deutschland als kleine, unbedeutende Mannschaft gegen den Favoriten Ungarn spielte, garantiert keinen Abbruch tun.

»Wir sind im Finale, Luiserl. Wir! Was für ein Zeichen der Hoffnung nach all den schlimmen Jahren. Egal wie das Spiel ausgeht, endlich stehen wir nicht mehr im Abseits.« Fußball war also mehr als nur ein Sport, dachte Luise. Die elf deutschen Spieler hatten ein ganzes Volk aufzurichten. In ihrer Haut oder besser gesagt in ihren Waden wollte sie jetzt nicht stecken. Vor lauter Remmidemmi hatte sie immer noch keine Gelegenheit gefunden, Hans von ihrer Schwangerschaft zu erzählen.

Kaum war Marie zusammen mit Martin und Manni am Tag des Finales bei den Dahlmanns eingetroffen, hielt sie Ausschau nach Theo. Vermutlich war er längst abgereist, nachdem sie ihn so beschimpft hatte. Zu sehen war er jedenfalls nicht, wie sie erleichtert feststellte. Gleich morgen würde sie ihm schreiben und ihm ihre Entscheidung mitteilen. Nun stand fest, dass sie in Leutstetten bleiben würde. Sie wollte Bäuerin werden und vielleicht auch eines Tages Martins Frau. Auch er fieberte dem Spiel entgegen und hatte sie mit seiner Begeisterung angesteckt. Sie hatten den Einspänner mit Fido neben zwei anderen Zugpferden und Kutschen am Kirchplatz abgestellt, da die ganze Straße bis vor zur Kreuzung schon belagert war. Aus allen Richtungen strömten die Leute herbei, was Marie für Luise sehr freute. Die meisten fanden keinen Sitzplatz mehr und stellten sich mit Schirmen, in Regenmantel und Hut einfach dazu. Der Fernseher thronte wieder auf der Ladentheke und war durch den Eingang zu sehen, was einen Hauch von Kinoatmosphäre erzeugte. Nur starrten die Leute nicht auf eine große Leinwand, sondern auf einen kleinen Bildschirm. Als die Übertragung begann, hatte Marie von der zweiten Reihe aus Mühe, die schwarz-weißen Männchen in dem Grieselbild zu erfassen. Und welcher Punkt zwischen den vielen war der Ball? Dafür schilderte der Kommentator mit großer Dramatik den Spielverlauf, seine Stimme schallte bestimmt bis in die hinterste Reihe.

Luise stand am geöffneten Stubenfenster im ersten Stock und betrachtete den Trubel vor dem Haus, den sie angezettelt hatte wie Helga damals mit ihrem Turnkurs. Die meisten Leute kannte sie, sogar die Mosers hatten sich dazugestellt. Aber es waren auch einige Fremde darunter. Vielleicht durfte sie die schon am nächsten Tag als Kunden begrüßen? Was war das für ein Abenteuer gewesen, ihren Laden zu dem zu machen, was er jetzt war, doch wie es schien, hatte sich der Aufwand gelohnt.

Diesmal hatte Hans keine Sekunde des Spiels verpassen wollen und die Antenne außen an das große Feinkost- und Gemischtwarenschild geschraubt, wo sie sicher verankert war. Zuvor hatte es noch geklappt, das Testbild war einwandfrei, kaum sollte es jedoch mit der Übertragung losgehen, flimmerte es. Also war Luise hinaufgegangen, um an der Antenne zu drehen. Alle Männer waren unabkömmlich.

»Jetzt, Luiserl. Nur einen Millimeter bitte oder höchstens zwei.« Hans kniete unten vor den Stufen zum Laden und rief zu ihr herauf, die Arme ausgestreckt, die Hände gefaltet.

Ein herrliches Bild, mein Mann betet mich an, dachte sie. Schade, dass niemand es fotografierte. Sie streckte sich nach draußen und berührte die Antenne, mal nach rechts, mal nach links, auf seine Kommandos hin. »Besser jetzt?«, rief sie ab und zu nach unten.

»Nein, es grieselt immer noch. Oder warte. Stopp. Bleib so.« Zumindest war jetzt Ton da, er schallte durchs ganze Viertel. »… Riesensensation, ein echtes Fußballwunder ist es, dass Deutschland im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft steht.« Die Stimme von Herbert Zimmermann, dem Rundfunkreporter.

»Geht’s schon los?«, rief ein Gast.

»Psst. Seid’s doch staad«, ein anderer.

»Nicht, ah, jetzt war gerade ein klares Bild, jetzt ist es wieder unscharf«, hörte sie Hans.

Luise hatte nur kurz losgelassen, schnell berührte sie wieder die Antenne. »Besser?«

»Ja, es läuft. Ach so, anscheinend schüttet es bei denen in Bern, das ist kein Gries, das ist Regen.« Ein Raunen ging durch die Menge. Luise wagte es nicht, noch mal loszulassen. Sollte sie die nächsten neunzig Minuten hier oben ausharren? Mit einem Arm aus dem Fenster? Auf einmal spürte sie sanfte Tritte in sich und legte die Hand auf den Bauch. Ihr Kind, es rührte sich und begrüßte sie. Nun war ihr Glück vollkommen. Sie musste es ihrem Mann sagen, einen besseren Zeitpunkt gab es nicht. »Hans?« Sie beugte sich hinunter, vorsichtig, um die Antenne nicht loszulassen.

Er reagierte nicht, hockte vor der Rampe und starrte in den Fernseher, auch sonst schien sie keiner wahrzunehmen. Alle Augen blickten in eine Richtung. Bald stand es 2 :0 , allerdings für Ungarn, wie Luise den enttäuschten Ausrufen entnahm. Langsam wurde ihr der Arm schwer. Was, wenn sie doch losließ und die Deutschen in dem Moment ein Tor schossen? Das würde ihr Hans nie verzeihen. Sie biss die Zähne zusammen und hielt weiter durch. Was war das? Ein Gast, der Uhrmacher Herr Bellarabi, glaubte sie von oben, mit Blick auf seine zeigerlose Halbglatze, zu erkennen, wandte sich ab und ging. »Diesen Leidensweg schau ich mir nicht länger an.« Er setzte seinen Hut auf, den er wie bei einer Beerdigung abgenommen hatte. Murrend pflichteten ihm andere bei, die Menge geriet in Bewegung.

»Bleibt’s hier«, rief Martin und winkte sie zurück. »Die Deutschen holen auf.« Und wirklich, erst ein Tor, und dann glichen sie sogar aus. Schon in der achtzehnten Minute stand es 2 :2 . Das wollten sich die Ungarn nicht gefallen lassen und attackierten die deutsche Seite, aber der Torwart wehrte die Angriffe ab. Dafür ernannte ihn Zimmermann zum Teufelskerl und Fußballgott in einer Person.

Auch wenn Luise das Gefühl hatte, dass sie persönlich die Leitung zwischen Bern und Starnberg hielt und dafür sorgte, dass die Weltmeisterschaft überhaupt bis hier nach Bayern übertragen wurde, glaubte sie sich wieder in die gute alte Radiozeit versetzt. Sie hörte das Bild nur, musste es sich durch die Beschreibung des Kommentators vorstellen. Sie nutzte den Jubel und wechselte vorsichtig zur anderen Hand, bevor ihr Arm gänzlich erlahmte und sie das Weltgeschehen unterbrach. In dieser Position harrte bis zur Halbzeit aus. Erst dann wagte sie loszulassen. Kaum war sie unten, verlangten die ersten frische Getränke, und auch das Büfett leerte sich rasch.

»Du, ich löse Luise mit der Antenne ab«, sagte Marie gegen Ende der Pause zu Martin.

»Hallo, du schönes Bauernflittchen.« Plötzlich tauchte Theo neben ihr auf. Reichlich angetrunken, betatschte er sie. Als sie sich ihm entwinden wollte, zerrte er sie zu sich her.

»Hör auf und lass mich los.«

Martin ging dazwischen. »He, was soll das. Mach mal halblang, Kumpel.«

»Ich bin nicht dein Kumpel, zisch ab. Komm Marie, mehr als Schafköttel im Kaffee kriegst du nicht von dem.«

»Lass sie sofort los, sonst …« Martin, der friedliche Martin, drohte ihm mit der Faust.

»Du traust dich doch gar nicht, du Hosenscheißer.« Theo schubste Marie weg und warf sich auf Martin. Sie rangen miteinander. Es klatschte und krachte. Sie verdrehten einander die Arme, verkeilten sich mit den Beinen. Leute sprangen auf, Stühle flogen zur Seite. Geschirr ging zu Bruch.

Hans stand auf, schwankte leicht von reichlich Bier und versuchte, Theo von Martin zu trennen. Marie dachte schon, er würde ihn ebenfalls schlagen, stattdessen redete er auf ihn ein: »Freundchen, mach besser halblang und lass doch die Weiber. Siehst du die da?« Er zeigte auf Helga, die ein Tablett zwischen den Stuhlreihen balancierte. »Für die waren wir Deutschen auch erst nicht gut genug, darum hat sie sich einen Ami ins Bett geholt. Aber der habe ich es gezeigt. Die macht bestimmt auch für dich die Beine breit.«

»Hans, nicht. Hör auf«, rief Helga, als sie das gehört hatte. Sie blickte erst zu Marie, dann zu Luise, die gerade den Fernseher anschaltete.

Doktor von Thaler mischte sich ein. »Herr Dahlmann, bitte, mäßigen Sie sich. Was soll das?«

»Du, du hast mir gar nichts zu sagen, du Scheißdoktor, du. Du hast meinen Sohn umgebracht.« Hans ließ Theo los, warf ihn zu Martin zurück und verpasste von Thaler einen Kinnhaken. Auch dessen Frau kriegte einen Rempler ab, als sie nicht schnell genug beiseitetrat. Martin, der unter Theos Tritten zu Boden gegangen war, rappelte sich wieder auf. Blut lief ihm aus der Nase. Da ging Theo erneut auf ihn los. Andere griffen ein, wollten sie trennen. Jemand trat Hans die Beine weg, er fiel auf den Doktor. Es hatte zu regnen angefangen, bald schüttete es wie aus Kübeln. Jeder raufte mit jedem. Die Männer wälzten sich auf dem Boden. Niemand dachte mehr daran, die Pergola aufzuziehen.

Luise stockte der Atem. Noch nie hatte sie ihren Mann so reden gehört. Es war abstoßend, sie erkannte ihn kaum wieder. Noch dazu blamierte er sie vor ihren Freunden und der ganzen Kundschaft. Dann traf sie Helgas Blick und verstand, wollte aber nicht begreifen. Hatte Hans etwa mit Helga – ihre beste Freundin und ihr Ehemann – hatten sie miteinander …? Ihr wurde schlecht, alles drehte sich plötzlich. Sie hastete in den Laden, stützte sich auf dem Fernseher ab, drückte sich an der Theke vorbei.

»Verzeihung, können Sie mir weiterhelfen?« Ein junger Mann sprach sie an, mit dichtem schwarzen Haar und feinen Gesichtszügen, die ihr irgendwie bekannt vorkamen, aber sie wusste nicht, woher. Er drehte seinen Hut in der Hand.

»Hinten links, die zweite Tür.« Er sollte sich beeilen, gleich musste sie sich übergeben. Sie beugte sich vor, senkte den Kopf bis zu den Knien, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Das hatte ihr Helga gezeigt, ein Krankenschwesterntrick. So gelangte das Blut schneller ins Hirn. Helga und Hans, nein. Das durfte nicht sein.

»Nein, ich wollte zu Ihnen. Sind Sie die Ladenbesitzerin, die Nachbarin der von Thalers?« Er war immer noch da, als sie sich aufrichtete. Sie atmete durch, nickte. Was wollte er? Von hier aus konnte sie nicht in den Fernseher schauen, der nun ohne ihr Zutun lief, hörte nur den Kommentar. Einer flankte, ein anderer wehrte ab, ein Dritter schlug Haken und verfehlte. Luise war sich nicht sicher, ob wirklich das Spiel in Bern kommentiert wurde oder die Rauferei vor der Tür.

»Der Herr Doktor, doch, ja, der ist auch hier.« Sie zeigte nach draußen und rieb sich den Nacken.

»Sie haben den Schrank gestrichen«, sagte er und zeigte hinter die Theke. Luise wandte sich um. »Der große Schrank da, mit den vielen Schubladen, den kenne ich, der gehörte meinen Eltern. In Natur hat er mir besser gefallen. Das Muster oben, das waren in meiner Erinnerung immer zwei dunkle Hundeköpfe. Plisch und Plum.«

»Plisch und was?« Luise hörte den Lärm draußen, das Fußballgeschrei im Fernseher, auch in ihr rauschte es noch immer. Der Mann ließ sich nicht beirren, redete weiter.

»Ja, so habe ich sie genannt, wie die zwei Hunde aus der Geschichte von Wilhelm Busch. Kennen Sie die?« Luise verneinte. »Also Plisch und Plum, ihr beiden, lebet wohl, wir müssen scheiden . Ach, an dieser Stelle hier, wo vor einem Jahr wir vier in so schmerzlich süßer Stunde uns vereint zum schönen Bunde …« Anscheinend sagte er Verse auf.

»Verzeihung, wer sind Sie eigentlich?«, unterbrach sie ihn.

»Noah Kleefeld. Ich dachte, Sie kennen mich.«

»Nein, woher?«

»Wir haben in der Villa gegenüber gelebt, in der jetzt die von Thalers wohnen.«

»Noah?« Langsam dämmerte es ihr. Den Namen hatte sie tatsächlich schon einmal gehört, beziehungsweise gelesen. Und Kleefeld? Hieß so nicht der Mitbegründer der Seeklinik? Aber was hatte das mit dem Schrank ihres Schwiegervaters zu tun. »Warten Sie, einen Moment.« Sie holte ihr Warenkunde-Album, hinten im Deckel hatte sie das Foto mit der merkwürdigen Beschriftung aufbewahrt. Sie reichte es ihm.

»Wo haben Sie das denn her, lag das noch in einer der Schubladen?« Er blinzelte plötzlich, fuhr sich über die Augen. »Das habe ich selbst aufgenommen, mit meiner neuen Kamera, die ich zur Bar Mitzwa bekommen habe.«

»Bar Mitzwa?« Den Begriff kannte Luise aus dem Camp. Ein jüdischer Brauch, der den Eintritt ins Erwachsenenalter besiegelte, vergleichbar mit der katholischen Firmung. Auf einmal ergaben auch die verschmierten Wörter auf der Rückseite des Fotos einen Sinn. Noahs Bar Mitzwa, 1937 . »Dann sind Sie Jude?«

Er nickte, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Hier, das sind meine Eltern, Samuel und Barbara Kleefeld.« Er zeigte auf die unscharfen Gesichter. »Und das da sind meine Tante und mein Onkel. Und wer diese beiden Leute sind, weiß ich nicht mehr.«

»Meine Schwiegereltern«, erklärte Luise.

»Ach so, stimmt, die Dahlmanns. Dann waren sie auch bei unserer letzten Feier, bevor wir enteignet und deportiert wurden.« Enteignet und deportiert? Davon hörte Luise zum ersten Mal, es hatte geheißen, die Kleefelds hätten noch rechtzeitig in die Schweiz fliehen können. Auch dass ihnen ursprünglich die Thaler’sche Villa gehört hatte, war ihr neu.

Auf einmal brach Jubel aus. War die Schlägerei beendet? »Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus und Deutschland Weltmeister!« Die Stimme des Fernsehsprechers überschlug sich fast, er schrie und schrie, als wollte er Luise aus einer anderen Zeit zurückholen.

Später, als alle sichtbaren Wunden verarztet waren und die unsichtbaren verdrängt, kehrte Luise das zerbrochene Geschirr zusammen. Es regnete nicht mehr, der Himmel klarte auf, und die Sonne schien. Marie betupfte Martins Gesicht, das sich bereits blau verfärbte. Dieser Theo, wer auch immer das gewesen war, war fort, genauso wie die anderen Gäste. Auch Noah Kleefeld. Luise hatte nicht mehr mitbekommen, ob er mit den von Thalers sprechen konnte. Was hatten sie mit der Deportation dieser Familie zu tun? Und warum hatte Kleefelds Schrank bei ihnen in der Werkstatt gestanden? Die Frau Doktor stützte ihren Mann, der sich humpelnd über die Straße schleppte. Dass sie Manni das Leben gerettet hatte, kam einem Wunder gleich. Bisher hatte Luise noch keine Gelegenheit gefunden, sich bei Bella zu bedanken. Auch dafür, dass sie sich für David eingesetzt hatte. Sonst hätte das Jugendamt Helga das Kind weggenommen. Schon wieder Helga, Luise war plötzlich alles zu viel. Mit einem Schlag hatte man ihr alle Kraft geraubt. Wie lange lief das schon zwischen ihr und Hans? Hatten sie es nur einmal oder öfter getan? Noch hatte sie mit Helga kein Wort gesprochen, auch Hans nicht beachtet, der trotz seiner Blessuren mit seinen Spezln weitertrank, als wäre nichts geschehen.

»Weltmeister wird man nur einmal, komm, Luiserl, tanz mit mir.« Sie stieß ihn weg, er taumelte, fing sich am Fernseher ab, der wieder die Dauerschneesendung abspielte. »Hoppala, nicht so stürmisch.« Sie entwand sich ihm, schaltete das Gerät ab. Der Einzige, der in diesem ganzen Desaster in sich ruhte, war Manni. Er freute sich über die vielen Flaschen, fischte sie aus den Pfützen oder unter den Stühlen heraus, schüttelte sie, bis sie leer waren, und stellte sie in einen Korb. Zu gern wäre Luise jetzt auch in seiner Welt gewesen, wenigstens für einen Moment. Sie setzte sich auf die Bank hinterm Haus. Wie sollte es weitergehen? Blind und verbohrt war sie gewesen, hatte ihrem Mann und ihrer Freundin vertraut und nichts anderes als den Laden im Sinn gehabt. Plötzlich stand nicht nur ihre Ehe, sondern auch die Freundschaft mit Helga vor dem Aus. Helga konnte sich doch die Kerle aussuchen, warum musste es ausgerechnet ihr Mann sein? Weil es praktisch und im wahrsten Sinn naheliegend war? Schließlich wohnten sie seit Monaten unter einem Dach. Die dumme Luise würde schon nichts mitkriegen. Wieso tat ihr Hans das an? Sie hatte gedacht, er liebte sie und scherte sich nicht um andere Frauen. Was würde er für ein Vater sein, und überhaupt, was würden sie beide für Eltern sein, was für Vorbilder für ihr Kind, das hoffentlich gesund zur Welt kam? Wieder überfiel sie die Angst vor der Schwangerschaft. Sie seufzte, strich sich über den Bauch und spürte erneut einen Tritt gegen ihre Hand. »Hey, da bist du ja«, rief sie verblüfft. Sie bebte, weinte und lachte zugleich. Ein Wunder, ihr Wunderkind spielte Fußball mit ihr. Es war da, es lebte und wollte wahrgenommen werden. Sie würde dieses Kind beschützen, egal was weiterhin geschah. »Du und ich, wir werden uns nicht unterkriegen lassen«, sagte sie. Da hörte sie Bremsen quietschen und lautes Hupen. Anscheinend signalisierten die Deutschen auch mit ihren Autos, wer Weltmeister geworden war. Luise schrak hoch. Manni! Womöglich war er auf die Straße gestolpert und von einem Fahrzeug übersehen worden? Sie rannte ums Haus, bis zum Tor. Aus beiden Richtungen staute sich der Verkehr. Die Fahrer hatten die Scheiben heruntergekurbelt und hupten. Luise hielt Ausschau nach ihrem kleinen Bruder, lief die Straße entlang und entdeckte ihn endlich. Manni stand mitten auf der Kreuzung wie ein Polizist. Er streckte die Arme aus und drehte sich im Kreis. Dabei hielt er in jeder Hand eine Flasche. »Manni, hör auf, komm da weg. MANNI !«, rief sie über die Autodächer und das Hupkonzert hinweg, doch er hörte sie nicht, drehte sich immer schneller um sich selbst, reckte die Arme hoch in die Luft, als wollte er abheben. Marie und Martin näherten sich von der anderen Seite und zogen ihn von der Fahrbahn. Luise atmete auf. Das war noch mal gut gegangen. Sie winkte ihnen kurz zu und ging durchs Tor zurück zur Bank. Kaum hatte sie die Beine ausgestreckt, trat Manni zu ihr. Er hatte den Korb voller Flaschen dabei und ließ die Schnappverschlüsse nacheinander aufploppen. Dann übergoss er Luise mit all den eingefangenen Sonnenstrahlen. Pures Licht überflutete sie.